Ich habe leistungsfördernde Substanzen verschrieben

Ich bin Lance Armstrong dankbar. Ich wollte in jenen Jahren Parforceritte sehen, schnelle Antritte am Berg, spektakuläre Aufholjagden, ein deklassiertes, in Sprengsel zerfahrenes Feld, das rackert und kämpft und zu den Dominatoren des Fahrerfeldes trotzdem nicht aufschließen konnte. Ich wollte sehen, wie jeder Attacke eine Riposte folgt und wie das Übermenschliche auf den Landstraßen in immer mächtigerer Übermenschlichkeit pedalierte. Und Armstrong hat mir und all den anderen Radsportbegeisterten genau das gegeben. Ich war die Nachfrage - er das Angebot.

Wir wollten Show und wir bekamen Show. Diese Show musste immer abenteuerlicher, immer epochaler sein. Die Giganten der Landstraße musste mit jeder Etappe und mit jedem Jahr gigantischer werden. Höher, schneller, weiter! Der Wettbewerb findet ja nicht nur zwischen den Sportlern statt, sondern auch im Buhlen um die Gunst von Zuschauern und Sponsoren. Gewinnt man zwei Bergankünfte und verliert bei der dritten Ankunft plötzlich drei Minuten auf den Konkurrenten, wirkt dabei nicht mehr besonders frisch, dafür abgekämpft und bleich, dann ist die Krise schon publizistisch vorbereitet, dann wird die Qualität hinterfragt und verkündigt, man sei doch kein so großer Champion wie angenommen. Und die Zuschauer sind natürlich ebenfalls enttäuscht, kraxelten sie doch extra Alpe d'Huez hoch oder verbrachten den ganzen Nachmittag bei Eurosport und dann tritt der Typ einfach nicht an, keine Attacke, stattdessen Langeweile und Leistungsvakuum. Wie oft kam der Angriff Ullrichs auf Armstrong nicht und man nannte ihn deshalb ein schlafmütziges und schlampiges Talent! Aus Jan wurde sodann ganz schnell wieder der Herr Ullrich. Wer nicht spurt, wer die Nachfrage nicht befriedigt, den straft man mit Liebesentzug. Der Wettbewerb innerhalb der strampelnden Konkurrenz ist fast schon ein Klacks - der Wettbewerb um die Gunst der Nachfrager, der Konsumenten und Showbegeisterten ist die wirkliche Tortur.
EPO sei dank bekamen wir unsere Show. Muskelpräparate und Eigenblut sicherten uns Entertainment. There's no business like show business. Um Schnelligkeit ging es gar nicht so sehr. Nicht um die messbare Schnelligkeit. Bei der Zielankunft interessiert alles, nur die gestochene Zeit so gut wie nicht. Der Anschein von Schnelligkeit war es, der uns beflügelte. Armstrongs Takt am Berg manipulierte uns, weckte den Eindruck bei uns, er tritt in die Pedale wie niemals zuvor und vielleicht niemals danach jemand. Man dachte, er fliege hinauf. Um Zahlen ging es nicht, nur um den Eindruck, um die vermittelte Sicht, um die Suggestion von Höher, schneller, schneller und noch schneller - und weiter. Die Gier nach augenscheinlicher Geschwindigkeit, nach nie zuvor gesehenem Spektakel, nach mindestens sensationeller Leistung - das war keine realistischer Anspruch der Öffentlichkeit, das war die Geilheit auf Show, auf Menschen, Räder, Sensationen!
Wenn wir Tickets für irgendeinen Komiker oder Kabarettisten erstanden haben, und dem stirbt einige Stunden oder auch Tage vor seinem Auftritt die Mutter oder seine ist Partnerschaft in fremde Betten entfleucht, verlangen wir dann nicht dennoch, dass wir auf unsere Kosten kommen? Der lachende Clown, dem zeitgleich die Träne seines privaten Unglücks über die Wange rinnt, ist ein dramaturgisches Leitmotiv, das diese Diskrepanz trefflich zeichnet. The show must go on - und nicht nur das: Die Show ist alles, ist das Leben, ist das was wir wollten seinerzeit. Man hat in dieser Gesellschaft einen marktwirtschaftlichen Anspruch auf Show. Show ist die Konstante. Wenn man nur Show vor Fakten legen kann, vor Lappalien, dann wirkt es gleich viel seriöser. Was war Armstrong anderes als ein Showmensch? Er und alle seine Strampelgenossen. Er und alle Sportler. Er und alle Radler, Läufer, Kicker, die am Montag lesen müssen, wie schlecht, wie beschissen und wie enttäuschend sie am Wochenende gesportelt haben. Sie bekommen entweder die volle Häme und Abneigung zu spüren oder die Liebe zu Füßen gelegt. Und manchmal geschieht beides binnen weniger Tage.
Ich mache mir nichts vor. Ich partizipiere an Armstrongs und Ullrichs und Contadors Gedope. Wie ich saßen Millionen vor dem Flimmerkasten, standen Hunderttausende an den Straßenrändern und warteten auf eine Show der Extraklasse, auf einen magischen Moment der Radsportgeschichte - wie an jenem Nachmittag, als Armstrong an einem Beutel eines Zuschauers hängen blieb, stürzte, aufholte und den Etappensieg mit zäher Leistung einfuhr; seither wartete ich jeden Tag auf ein Spektakel von mindestens dieser Güte und seither war eigentlich immer unbefriedigt zurückgeblieben. Nie mehr kam so ein Augenblick. Enttäuschung konnte ich mir da nicht verbeißen. Die Stimmen mehrten sich, dass das Pulk gelangweilt und satt und zu behäbig sei. Und wurde Ullrich Zweiter, so nannte auch ich ihn einen tragischen Verlierer, weil er in eine Epoche mit dem Texaner fiel. Ein tragischer Verlierer! Weil er Zweiter wurde! Nur Zweiter! Dabei war ich noch freundlich, andere hießen ihn zu dick, zu bequem und sportlich überbewertet. Ich und mit mir diese ganze selbstgerechte Fangemeinde, nicht der harte Kern passionierter Radsportler, die will ich aussparen, die lieben den Sport wirklich - wir, die wir uns mit dem Hype des Radsports plötzlich formierten, wenig Ahnung hatten, die Helden der Landstraße bewundern wollten und immer mehr und mehr erwarteten, haben verbotene Substanzen vorgeschrieben. In gewissem Sinne sogar durch erpresserische Erwartungshaltung verschrieben. Wir waren das Rezept dazu, eine seltsame Arznei- und Heilmittelverordnung. Wir zwangen niemanden, wir erteilten nur denjenigen Liebesentzug, die nicht mitspielten, die deshalb nur im Gruppetto zum Tourmalet keuchten. Nur! Schon wieder dieses Wort!
Mit Armstrong zusammen sitzt eine Journaille und eine Zuschauergemeinde Oprahs sich in Seriosität übenden Boulevardantlitz gegenüber.  
Haben wir je verbotene Substanzen genommen?, fragt sie uns. Antwort: Nein! Wir haben sie vorausgesetzt, weil wir absolute Leistung und absolute Leistungssteigerung erwarteten.
Bei allen sieben Tour-Siegen?, fragt sie weiter. Antwort: Nein! Schon vorher und auch danach und womöglich wieder, wenn es mal wieder ein Jahrhunderttalent wie Jan Ullrich gibt.
Hat das UCI davon gewusst?, fragt sie uns misstrauisch. Antwort: Sicher! Und den Medienhype, der in Maßlosigkeit und mit ahnungsloser Überheblichkeit losgetreten wurde, sogar noch entflammt. Es war doch schön, plötzlich als Sport im großen Stil wahrgenommen zu werden.
Machen wir es uns als Sportgesellschaften des Westens vielleicht einfach! Erst feiern wir diese Gladiatoren - dann lassen wir sie nicht nur fallen, sondern treten sie und überstellen sie dem Spott, der sich manchmal Journalismus nennt. Später schieben wir alle Schuld für Verfehlungen auf die Athleten. Als wäre Doping nichts, was nicht auch sozio-ökonomischen Mustern folgte; als wäre der Dopingsünder nicht auch immer ein Produkt eines ganz besonderen gesellschaftlichen Klimas der Überbewertung seines Sports. Es wäre zu viel, die Armstrongs als gesellschaftliche Abtretmatten zu bezeichnen, denn dazu haben sie meist zu gut verdient. Aber es ist auch zu wenig, uns als Teil des Spektakels für unschuldig zu erklären.

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