Skitouren-Klassiker im Tennengebirge.
Seit 25 Jahren liebe ich diesen Berg. Er ist das erste das ich sehe, wenn ich nach dem Aufstehen aus meinem Zimmerfenster blicke. Beim Frühstück kann ich seine markante Gipfelpyramide studieren. Während ich meinen Kaffee schlürfe, färbt die Morgensonne die Hänge unterhalb des Hochkarfelderkopfes (2.218 m) orange. Im Winterkleid ist er besonders schön. Erst dann ist das Relief des Berges klar erkennbar. Zwischen sanften Hügeln und steilen Hängen blitzt kaltes, graues Gestein hervor.
Ich hole unser Fernglas aus der Schublade und taste das Gelände vom Wald aufwärts bis zum Gipfel mit meinen Augen ab. Vor zwei Tagen ist Neuschnee gefallen. Gestern war das Wetter noch nicht wirklich gut und der Berg deshalb wenig frequentiert. Immerhin kann ich eine Aufstiegsspur ausmachen. Die Abfahrtsvarianten sind fast alle jungfräulich.
Mir ist klar, dass heute einer jener Tage ist, an denen das Hehkoa (unsere kurze und viel knackigere Bezeichnung des Hochkarfelderkopfes) richtig gut gehen wird. Weil ich Lust auf Gesellschaft habe, rufe ich noch schnell beim Nachbarn an, ob er dabei ist. Treffpunkt in 10 Minuten am Feld vorm Haus? Perfekt!
Zügig werfe mich in den Rennanzug (heute soll es warm werden), klebe die Felle auf die Tourenski und wenig später streifen wir zu zweit auf den Feldern vor unseren Häusern dem Gipfel entgegen.
Hochkarfelderkopf: Auf den Lieblingsberg im Tennengebirge
Wir erreichen bald einen dichten Mischwald. Zwischen Fichten und Buchen queren wir auf einem Forstweg, bis wir auf die originale Aufstiegsspur treffen. Für dich beginnt die Tour nämlich nicht vor meiner Haustür, sondern am Liftparkplatz beim Lammertalerhof. Dorthin gelangst du, wenn du von Lungötz der Straße Richtung Aualm folgst. Vom Parkplatz steigst du rechts vom Skilift über freie Wiesen und später durch den Wald auf.
Wir schleichen mittlerweile die Aufstiegsspur hoch. Obwohl der Wald Schatten spendet, tropft mir der Schweiß im Sekundenrhythmus von der Stirn. Strahlend blauer Himmel blitzt zwischen den Kronen der Bäume hindurch. Meine geblendeten Augen erkennen keine einzige Wolke.
Etwa eine Stunde schlängeln wir uns zwischen Baumstämmen hindurch. Wir überwinden größere und kleinere Kuppen und hin und wieder tut sich ein Blick auf den Gosaukamm auf. Jetzt lichtet sich der Wald und wir gelangen an eine Jägerhütte. Etwa die Hälfte der Tour ist geschafft. Hinter dem Hüttchen, die Gipfelpyramide des Hochkarfelderkopfes.
Das erste Mal seit unserem Aufbruch liegt der Berg frei einsehbar vor uns. Der Gipfelaufbau gleicht einem gleichschenkeligen Dreieck aus Fels und Schnee. Finde ich den Hochkarfelderkopf aufgrund dieser Symmetrie so anziehend? Möglicherweise. Wahrscheinlich aber ist der wahre Grund etwas tiefer zu suchen. Wenige Höhenmeter unterhalb des Gipfelkreuzes nämlich. Dort befinden sich einige der schönsten Abfahrtsvarianten im Tennengebirge. Perfektes Skigelände – nie zu steil, nie zu flach. Der einzige Makel: ein kurzer Gegenanstieg.
Perfekte Welt
Wir halten uns nach der Jägerhütte leicht rechts. Die Spur zieht über sanftes, welliges Gelände. Mal steigen wir leicht an, mal rutschen wir auf den Fellen in Mulden ab. Koordinativ bin ich nach zwei Flaschen Wein, die ich mir gestern mit meiner Schwester geteilt habe, noch nicht auf der Höhe. Die Ski sind schneller als mein träger Körper. Mein Schwerpunkt verschiebt sich nach hinten, ein kurzes Gefühl der Schwerelosigkeit und ich liege auf dem Rücken. Ich fühle mich wie Gregor Samsa in Kafkas „Die Verwandlung“. Käfer Susi versucht, Skier und Stöcke zu entwirren und vergewissert sich, dass auch niemand den peinlichen Vorfall beobachtet hat. Glücklicherweise existiert trotzdem ein Foto davon.
Nach einer kurzen Lachpause setzten wir den Aufstieg fort. Der Wind hat in den letzten Nächten die Schneedecke geformt. Hat Neuschnee über Kuppen getragen und in Senken abgelegt. Die Geländeübergänge gleichen Messerklingen. Ich kann mich nicht entscheiden, ob mich die Landschaft an die Dünen einer Wüste oder die Mondoberfläche erinnert.
Erst das Zusammenspiel von Licht und Schatten gibt der Umgebung den Kontrast, den unsere Augen brauchen, um ihre wirkliche Schönheit zu erkennen. Im Sonnenschein glitzert der frische Pulverschnee und die der Sonne abgewandte Seite der Dünen hebt die scharfen Übergänge erst wirklich hervor.
Die Spur führt uns jetzt hinauf zu einem markanten Hügel. Bei sicheren Verhältnissen kann man den Buckel auch links umgehen und oberhalb der Labachrinne in die Senke unterhalb des Gipfels queren. Nach dem starken Schneefall in den letzten Tagen hat sich aber niemand für diese Variante entschieden. Wer hier ein Schneebrett auslöst nimmt die Abkürzung durch die Rinne zurück ins Tal. Auch wir halten uns rechts und steigen auf die Erhöhung an. Dort rutschen wir auf Fellen in den Kessel ab – der letzte Zwischenstopp vor dem Gipfelanstieg.
Im Krater eines Vulkans
Steile Felswände umringen uns. Zu allen Seiten schwingen schneebedeckte Flanken auf. Irgendwie fühle ich mich, als wäre ich im Krater eines Vulkans gefangen. Auf die wunderschönste und beste Weise. Hinauf zum Gipfel gibt es nur eine logische Linie: Der Anstieg erfolgt über eine Scharte an der Westseite des Berges und von dort aus weiter auf den höchsten Punkt des Hochkarfelderkopfes.
Das Finale der Tour ist gleichzeitig ihr steilstes Stück. Wenige Spitzkehren führen uns auf die Scharte. Im Schatten ist der Schnee schön pulvrig geblieben. Genau darum ist dieser Teil meist das Feinste der Abfahrt. Mit einem großen Spreizschritt setzte ich meinen Ski auf die Scharte. Sie ist hier nur wenige Meter breit. Ein schmales Podest aus hartgepresstem Schnee.
Ein genialer Blick auf den Fritzerkogel und das innere Lammertal tut sich auf. Wir blicken bis in die Hohen Tauern. Sehen das Wiesbachhorn, das Kitzsteinhorn, die Hohe Dock und viele andere Parade-Dreitausender. Ob ich wehmütig bin, nicht höher zu sein? Mitnichten – daheim ist es am schönsten. Ganz ehrlich.
Über die Südseite des Fritzerkogels donnert gerade die typische Mittagslawine ins Tal. Kurz beobachten wir, wie sich am Wandfuß der Schneestaub in die Höhe schiebt. Dann setzten wir den Aufstieg fort. Halten uns nach der Scharte rechts und folgen einem flachen Rücken, der uns direkt auf den Gipfel bringt. Wie immer hat der Wind den Gipfelhang fast blank gefegt. Über den Südhang des Hochkarfelderkopfes hängt eine mächtige Wechte.
Ich gehe bis zum Gipfelkreuz, das diesen Winter schon bis zur Halterung für das Gipfelbuch eingeschneit ist. Im Geiste mache ich eine 360°-Aufnahme. Wie oft habe ich dieses Panorama schon aufgesaugt. Immer wieder bin ich tief beeindruckt davon.
Am Balkon des Tennengebirges
Der Hochkarfelderkopf ist einer der Randgipfel des Tennengebirges auf der Lammertaler Seite. Gerade deswegen hat man von seinem Gipfel einen so fantastischen Blick über das Salzburger Land. Im Flachland hängen Nebelschwaden, davor das unverkennbare Plateau des Tennengebirges, das besonders im Winter einer Mondlandschaft gleicht. Östlich stechen die schroffen Gipfel des Gosaukammes hervor. Dahinter, weil etwas höher, der Dachstein. Direkt unter mir sehe ich mein Elternhaus. Unseren Weg hier herauf – von der Haustür bis auf den Hausberg.
Ich taste mit meinem Blick die freien Hänge vor meinen Füßen ab. Ich weiß genau, wo ich heute meine Schwünge ziehen werde. Wir fellen ab. Der Hunger ruft. Und viel lauter Pulver und Firn.
Abfahrt – alles dabei!
Zuerst rattert es unter den Skiern. Der Gipfelhang ist spiegelglatt. Dann staubt’s bis zur Waldgrenze. Normalerweise fährt man entweder links durch den Passruckgraben und den Ruckwasserfall ab. Bei niedriger Schneelage ist ein Steinski schwer zu empfehlen. Allen, die sich auf Skiern nicht ganz sicher fühlen, sei gesagt: die Abfahrt ist ab der Waldgrenze meist ein Kampf mit Bäumen, Sträuchern, Felsstufen, weichem Frühjahrsschnee oder Bruchharsch. Wer auf Nummer sicher gehen will, fährt entlang der Aufstiegsspur ab. Aber auch hier ist der Wald dicht und wer ein gutes Reaktionsvermögen besitzt klar im Vorteil.
Tipp: Wenn du ganz unten nach der Forststraße abfährst, kannst du dir in der Wildau ein Mittagessen gönnen. Der Gasthof liegt etwas oberhalb des Parkplatzes und ist im Lammertal für seine gute Küche bekannt.
Ich muss heute nicht in der Wildau einkehren. Meine Oma wohnt ganz in der Nähe und hat für ihre hungrige Enkelin gekocht.
Zur Oma gäbe es einige weitere Abfahrtsvarianten. Neben der Abfahrt durch die Labachrinne, könnte ich auch die Nebelgasse nehmen. Ein Grund, die Tour im Frühjahr noch ein paar Mal zu machen. Als Belohnung gibt’s dann Hildes berühmte Fleischkrapfen und den besten Gitterkuchen. Oder rügende Worte, weil ich wildes Dirndl immer so gefährliche Sachen mache.
Tourdaten und GPS-Track
- Höhenmeter: 1.400
- Distanz: 12 Kilometer
- Dauer: 3 Stunden für den Aufstieg
- Schwierigkeit: mittel
- Ausgangspunkt: Skiliftparkplatz im Lammertal