Herzschlag des Lebens

Huhu,
heute gibt es mal keine Rezension, sondern was von mir Geschriebenes für euch zu lesen. Ich hoffe sehr, dass es euch gefällt. Die Kurzgeschichte ist im Rahmen eines kleinen Schreibwettbewerbs entstanden.
Ich will nicht lange drum herum reden, also, viel Spaß beim Lesen und ich freue mich über Kommentare. Herzschlag des Lebens
Es ist ein schwerer Gang, den ich vor mir habe, doch das heißt nicht, dass ich mich davor drücken werde. Im Gegenteil. Es ist der Augenblick, auf den ich jeden Tag hinfiebere, nach dem ich mich sehne, auch wenn die Angst mich jedes Mal begleitet.
Ich atme noch einmal tief durch, ehe ich auf den Eingang des Krankenhauses zuschreite und die Türen automatisch zur Seite gleiten, um mich einzulassen. Ich lächle der Frau am Empfang zu, gehe jedoch an ihr vorbei in Richtung Treppe. Sie hält mich nicht auf, kennt bereits mein Gesicht und lässt mich meiner Wege gehen. Meine Schritte führen mich die insgesamt 64 Stufen nach oben in den vierten Stock.
Woher ich das so genau weiß? Weil ich diese Strecke die letzten drei Wochen täglich genommen habe.
Kurze Zeit später betrete ich das Zimmer, in dem mein kleiner Bruder liegt. Er zeigt keine Reaktion, dass er mich bemerkt, aber bei einem Komapatienten ist das auch nicht zu erwarten. Ich seufze und lasse mich auf einen Stuhl neben seinem Bett fallen. "Hey, Jas, ich bin's schon wieder... Irgendwie komisch, dass ich jeden Tag hier bin, hm? Erst sehen wir uns jahrelang nicht und plötzlich rücke ich dir ständig auf die Pelle."
Ich habe die Angewohnheit entwickelt, mit meinem Bruder zu reden. Die Ärzte sagten mir, dass er - auch wenn er im Koma liegt - hören kann, was um ihn herum geschieht, aber ich habe keine Ahnung, ob ich ihnen das glauben soll. Doch es schadet ja nicht, wenn ich in diesem ansonsten leeren Zimmer merkwürdige Selbstgespräche führe.
Ein Blick zu Jasper genügt, um mich für einen Moment verstummen zu lassen. Seit seiner Einlieferung sind jetzt ganze 22 Tage vergangen, aber sein Gesicht ist immer noch von Kratzern und blauen Flecken übersäht, ganz abgesehen von den Verletzungen, die sich unter der Decke verbergen, welche bis zu seinem Kinn hochgezogen ist. Um seinen Kopf ist ein dicker weißer Verband gewickelt, aus seinem Mund ragen Schläuche. Es ist ein schreckliches Bild und mein schlechtes Gewissen wird von Tag zu Tag schlimmer.
"Was ist bloß mit dir passiert, Jas? Ich wüsste zu gern, was in den letzten Jahren mit dir geschehen ist, aber leider kannst du mir das nicht verraten. Und ich habe mich zu sehr aus deinem Leben zurückgezogen, um auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, was hinter diesem ganzen Scheiß stecken könnte." Meine Stimme klingt bitter bei diesen Worten.
Auch die Polizei, die mich nach Jaspers Einlieferung kontaktiert hat, konnte mir bisher nicht weiterhelfen. Alles, was ich weiß, ist, dass ein Fremder Jasper gefunden hat. Es war früher Morgen und er war gerade mit seinem Hund unterwegs, als er im Park auf diesen lebensgefährlich verletzten, jungen Mann gestoßen ist, der reglos auf dem Gehweg lag. Blutverkrustete Verletzungen, sei es nun die Platzwunde an seiner Augenbraue, die mit fünf Stichen genäht werden musste, oder die Schnittwunden an seinem Bauch, zeigten deutlich, dass sein Zustand kritisch war. 
Doch das war gar nicht das Schlimmste. Mein Bruder war so heftig zusammengeschlagen worden, dass er zahlreiche innere Verletzungen hatte. Vor allem sein Kopf macht mir Sorgen, denn irgendetwas in seinem Gehirn - der Arzt hat es mir versucht zu erklären, aber ich habe es nicht ganz verstanden - sorgen dafür, dass er nicht aufwacht.
Klar, die ersten Tage nach seiner Einlieferung war das gewollt, denn man hatte Jasper nach einer mehrstündigen Not-OP ins künstliche Koma versetzt, damit seine Verletzungen erstmal heilen konnten, doch mittlerweile sah der Zustand anders aus. Die Medikamente waren abgesetzt worden, doch auch jetzt, Tage später, macht Jas keine Anstalten, die Augen zu öffnen. Doch ganz ehrlich? Von Tag zu Tag drängt sich mir mehr der Gedanke auf, dass Jasper vielleicht nie mehr aufwacht. Er liegt auf mir, eine zentnerschwere Last, unsichtbar für andere, die mich zu Boden drückt und langsam zerquetscht.
Ich greife nach der Hand meines Bruders, die unter der Bettdecke hervorlugt, halte sie einfach fest, um wenigstens irgendwie zu spüren, dass er bei mir ist. Ist überhaupt noch etwas von ihm in diesem Körper, der so reglos vor mir liegt und nur noch von Maschinen am Leben gehalten wird? Manchmal stelle ich mir diese Frage, doch dann verdränge ich sie schnell wieder, denn sie führt vielleicht zu Antworten, die ich nicht haben will.
"Ich hätte nicht einfach verschwinden dürfen", beginne ich weiterzusprechen. "Ich habe dich im Stich gelassen, weil ich dachte, du seist ohne mich besser dran. Aber jetzt, wo ich hier sitze, begreife ich, dass ich falsch lag. Du hast mich gebraucht und ich bin einfach abgehauen. Es tut mir Leid, Jas. Ich habe dich im Stich gelassen."
Und jetzt sieh nur, was aus mir geworden ist, scheint er mich mit diesem ständigen Piepen der Maschinen um ihn herum zu verhöhnen. 
Irgendetwas ist in den letzten fünf Jahren völlig schief gegangen. Woher ich das weiß? So etwas, wie das, was Jasper zugestoßen ist, passiert nicht zufällig. Man hatte es gezielt auf ihn abgesehen, dessen bin ich mir sicher. Ich kenne dieses Vorgehen. Ich bin nicht stolz darauf, aber ich weiß genau, was da passiert ist, auch wenn ich heutzutage nichts mehr mit solchen Dingen zu tun habe. Mein Leben hat sich völlig verändert - zum Guten - während sich Jaspers Leben anscheinend genau in die entgegengesetzte Richtung entwickelt hat. Denn vor fünf Jahren führte er noch das sorglose Leben, um das ich ihn nur beneiden konnte, während ich mit Problemen zu kämpfen hatte, von denen mein kleiner Bruder nicht einmal etwas ahnte. Was für eine Ironie. 
Nach ein paar Stunden an Jaspers Seite, in denen sich sein Zustand wieder nicht verändert hat, verlasse ich das Krankenhaus wieder. Morgen werde ich erneut hier sein und weiter hoffen, dass er irgendwann aufwacht. Vielleicht hilft es ja, wenn ich nur fest genug daran glaube. Ich kann meinen Bruder nicht einfach aufgeben. Aber ich muss wissen, was passiert ist. Wie es dazu kam, dass sein Leben sich so verändert hat.
Ist es verwerflich, dass ich mir ein Bild von Jaspers Leben machen will, das er die letzten Jahre geführt hat? Nein, entscheide ich, doch das macht es nicht leichter, jetzt vor seiner Wohnung zu stehen und einfach in seine Privatsphäre einzudringen. Den Ausweis mit seiner Adresse habe ich in dem Portemonnaie gefunden, das zusammen mit seinem Schlüsselbund in dem Nachttisch des Krankenzimmers lag.
Es hat lange gedauert bis ich mich dazu überwinden konnte, auf diese Weise in seinem Leben zu wühlen, doch letztendlich ist es die einzige Möglichkeit. Ich ertrage diese Ungewissheit nicht länger.
Vorsichtig stecke ich den Schlüssel in das Schloss der Wohnungstür und öffne sie. Betrete diese völlig fremde Wohnung. Es sieht nett aus. Nicht besonders groß, aber gemütlich eingerichtet. Es sieht nach dem Jas aus, den ich kenne und irgendwie erleichtert es mich, dass er mir nicht völlig fremd geworden ist. 
Ich entdecke ein Regal mit Büchern. Krimis und Thriller, wie mein Bruder sie schon immer gerne gelesen hat, aber daneben auch viele Fachbücher zum Thema Architektur, die mich daran erinnern, wie er als Kind schon immer mit Bauklötzen und Legosteinen Türme und Häuser gebaut hat. Es erfüllt mich mit Wehmut, wenn ich diese Sachen betrachte, denn sie rufen so viele schöne Erinnerungen an unsere gemeinsame Kindheit wach, dass sich sogar ein sehnsüchtiges Lächeln auf mein Gesicht schleicht, während meine Finger die Buchrücken entlang fahren. Auf dem Fernsehtisch liegen ein paar Konsolenspiele herum und an der Wand hängen ein paar große Bilder von Gebäuden, die mir nichts sagen. Auch der große Zeichentisch nahe am Fenster fällt mir auf. Ich glaube mein Bruder hat diese Leidenschaft zur Architektur zu seinem Beruf gemacht und es freut mich für ihn, dass er diesen Traum verwirklichen konnte. Die Küche ist ziemlich spartanisch eingerichtet und man sieht, dass Jasper sich hier nicht viel aufhält. In der Spüle stapelt sich Abwasch. Das Schlafzimmer ist aufgeräumt, lediglich ein Buch auf dem Nachttisch sticht heraus. 
Es ist alles ziemlich unauffällig und normal, aber es würde mich auch wundern, wenn die Hinweise, nach denen ich suche, einfach so offen vor mir liegen. Innerlich schalte ich um, knipse die Gefühle aus, die mit dieser Situation verbunden sind und beginne mit der Suche. Verdränge die Trauer und die Wut, die mich bei dem Gedanken daran überkommen, was sich hinter dieser Fassade, die ich hier sehe, noch alles verbirgt. Schränke, Schubladen, Kisten, nichts ist vor mich sicher, auch wenn am Ende alles unberührt aussieht. Ich weiß nicht genau, was ich suche, habe nur eine ungefähre Ahnung, dass es da noch mehr geben muss. Irgendeinen Hinweis auf Jaspers prekäre Lage, in der er stecken muss, wenn ihm sowas angetan wird.
Dann, auf der Unterseite der Couch im Wohnzimmer werde ich endlich fündig. Ich löse den Umschlag, der dort angeklebt ist, und ziehe ihn hervor. Mein Name steht darauf. Mason. Ein einfaches Wort, fünf Buchstaben, die mich verwirren. 
Mit zitternden Händen öffne ich den Umschlag und ziehe zwei Zettel heraus. Der erste ist ein Brief. Ich muss schlucken, als ich zu lesen beginne. 
Hallo Mase, 
lange nicht mehr gesehen, Bruder. Du bist bestimmt verwirrt und das würde mir an deiner Stelle nicht anders gehen. Wer schreibt schon seinem Bruder einen Brief, den man seit fünf Jahren nicht gesehen hat und dann versteckt man ihn auch noch in seiner Wohnung? Nicht gerade üblich, aber ich wusste, dass du vorbeikommen würdest. Wusste, dass du nach Hinweisen suchen würdest, falls mir etwas zustößt, wie es wahrscheinlich jetzt der Fall gewesen sein wird.
Du weißt genau, was passiert ist, oder? Nein, antworte nicht, das war eine rhetorische Frage, natürlich weißt du es. Schließlich sind dir solche Situationen nur allzu bekannt. Was? Du dachtest, ich weiß nichts davon? Von deiner anderen Seite, die du immer so mühsam vor mir versteckt hast? Oh doch, Mason, ich habe es auf äußerst deutliche Weise erfahren als ich in deine Fußstapfen getreten bin. 
Ich sehe dein geschocktes Gesicht in diesem Moment vor mir und diese Frage in deinem Blick wie das passieren konnte. Das ist die Frage, die dich beschäftigt, oder? Warum? 
Ich erspare dir die Langfassung. Ich hatte ziemliche Geldprobleme. Das Studium war teuer und ich brauchte dringend Geld. Tja, ich habe es mir von den falschen Leuten geliehen und musste anschließend mit den Konsequenzen leben. Sie haben mich freudig in ihre Mitte aufgenommen.
Den Rest der Geschichte kennst du, denn sie gleicht ab hier deiner eigenen. Nur dass ich nicht so viel Glück wie du hatte als ich aussteigen wollte.
Ich weiß jetzt, warum du damals einfach abgehauen bist und ich kann es verstehen. Solltest du ein schlechtes Gewissen haben und dir jetzt deswegen Schuldgefühle einreden: Ich verzeihe dir, auch wenn es nichts zu verzeihen gibt. An meinem Schicksal bin ich selber schuld und du trägst dafür keine Verantwortung.

Es sind seine Worte darüber, dass er genau wusste, was passieren wird und dass er sich damit abgefunden hat, die mich an den Rand meines Fassungsvermögens bringen. Nicht umsonst hat er mich, trotz der fünf Jahre, die wir uns nicht gesehen haben, als erste Kontaktperson angegeben, falls ihm etwas passieren sollte.
Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann, Mase. Du wirst tun, was ich mir von dir wünsche. Vergib mir, dass ich dich da wieder mit reinziehe, aber mir bleibt keine andere Wahl. Du bist die einzige Person, die mich versteht. Danke. 
Ich nehme den zweiten Bogen zur Hand. Dieser Zettel verändert alles. Hätte ich ihn doch bloß nie gefunden. Eigentlich sollte er alles einfacher machen, denn er sagt mir genau, was ich tun soll. Es ist eine Patientenverfügung, die Jasper mir hier anvertraut. Eine Patientenverfügung, in der Jasper schreibt, dass er nicht künstlich am Leben gehalten werden will, sollte es zu einem solchen Fall kommen. Doch bin ich auch stark genug dafür sie umzusetzen? Kann ich mich dazu überwinden, diese lebenswichtige Entscheidung zu treffen? Ich weiß es nicht und das macht es nur noch schlimmer.
Mit diesen beiden unscheinbaren Blatt Papier in meiner Hand breche ich zusammen. Meine Beine geben nach und ich sinke unverhofft zu Boden. Ich zersplittere in tausend Teile, die sich nie wieder perfekt zusammensetzen lassen und endlich brechen die Tränen aus mir hervor, die ich seit über drei Wochen zurückhalte. Ich schluchze, mein Gesicht ist tränennass und ich kann nicht aufhören. Ich bin allein und nur deshalb erlaube ich es mir, mich so gehen zu lassen.
Am nächsten Morgen kehre ich ins Krankenhaus zurück. Heute fällt mir der Gang noch schwerer als sonst, denn der zweite Zettel aus dem Kuvert lastet schwer in meiner Hosentasche. Ich betrete Jaspers Zimmer und setze mich an sein Bett, weiß noch nicht, ob ich es mit mir vereinbaren kann, dass ich die Patientenverfügung an den Arzt weitergebe, denn es würde sein Schicksal ein für alle Mal besiegeln. 
Immer wieder habe ich das Gefühl, dass eigentlich ich derjenige sein sollte, der hier in diesem Bett liegt. Ich. Nicht Jas. Er hat das nicht verdient, während ich genug Sünden für ein ganzes Leben angesammelt habe und genau das hier als gerechte Strafe ansehen würde. Doch das Schicksal hat es anders gewollt. Ich kann nicht mit meinem Bruder tauschen, also bleibt mir nur eine Möglichkeit. Schweren Herzens treffe ich eine Entscheidung, die mich innerlich fast umbringt, doch es ist das einzig Richtige.
Es schnürt mir die Luft ab und meine Brust zieht sich zusammen, doch letztendlich bringe ich sie hervor. Die Worte, die meine Welt zusammenbrechen lassen und ihn von seinem Leid erlösen. Der Arzt steht vor mir und sieht mich an. "Ich war gestern bei meinem Bruder zuhause. Dort habe ich das hier gefunden." Ich ziehe das Blatt Papier aus meiner Hose und überreiche es ihm. "Eine Patientenverfügung. Jasper ... Er will nicht künstlich am Leben erhalten werden. Sie müssen die Maschinen abschalten."
Alles in mir schreit auf. Mein Mund öffnet sich, um diese Worte sofort wieder zurückzunehmen, doch es dringt kein Laut über meine Lippen. Ich kann ihm das einfach nicht weiter antun. Es war sein letzter Wunsch und ich kann ihn nicht ignorieren. Ich unterschreibe sein Todesurteil und fühle mich dabei, als würde ich mit ihm sterben, auch wenn es das ist, was Jasper wollte.
Ich stehe neben seinem Bett und halte seine Hand, als der Arzt die Maschinen abschaltet, die Jasper bis jetzt am Leben erhalten haben. Es dauert nicht lange, bis das lange Piepen ertönt, das angibt, dass Jaspers Herz nicht mehr schlägt. Der Arzt bestätigt seinen Todeszeitpunkt, drückt mir die Schulter und spricht mir sein Beileid aus, ehe er das Zimmer verlässt, damit ich mich von meinem Bruder verabschieden kann.
Es ist, als hätte das schlagende Herz in meiner Brust auch aufgegeben. Es ist, als sei ich auch tot.

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