In Stuttgart wollen sie keinen neuen Bahnhof. In Velen wollen sie kein Biogas-Kraftwerk. In Insel bei Stendal wollen sie keine Vorbetraften im Ort. In Sangerhausen wollen sie keinen Großstall, in Berlin keinen neuen Flughafen, in Südlohn kein Kraftwerk, in Dresden keine Nazis, in Erfurt keinen Papstbesuch, in Köln keine Pelze, in Dörfern keine Windparks und in Teilen der FDP keinen Rettungsschirm. Bäume fällen und Rüben pflanzen, schnell fahren und langsam bauen, abreißen oder sanieren, stets und ständig melden sich Stimmen zu Wort, die es nicht oder so, nicht jetzt oder woanders haben möchten.
Überall mischt er sich ein, wird er laut und grantelig, sobald es gegen seine Interessen geht. Der vom "Spiegel" vor einem langen, rettungsreichen Jahr zum "Wutbürger" ernannte Held des vergangenen Jahres, ein Mensch, der dem Fortschritt um des Fortschritts wegen in den Arm fiel, ist in einem Staat, dessen Politiker in Furcht vor dem Volk und dem nächsten Wahltag lesen, zum egozentrischen Potentaten geworden.
Gelten darf nur, was er gelten lassen will. Sein Protest, und sei er noch so randständig, wird mit Hilfe von Internet und allseits protestbereiten Medien zum lautstarken Orkan, dem nichts widerstehen kann. Eine Zumutung, dass über dem Haus ein Flieger landet. Ein Unding, dass in die Nachbarschaft Vorbestrafte gezogen sind. Kein Zustand, dass nebenan ein Stall entstehen soll und auf der anderen Seite des Ortes ein Pumpspeicherwerk. Eigennutz geht vor Gemeinnutz und die einzige offene Frage ist, wann sich in den ersten Ostseeorten Bürgerinitiativen bilden, die mobil machen gegen das lärmende Meeresrauschen und Lärmschutzwände oder aber die Verlegung der See woanderhin verlangen.
Schnell fahren wollen alle, Straßen bauen aber möchte man doch bitte anderswo. Immer muss jemand leiden, immer muss jemand die Zeche zahlen. Gegen alles finden sich Argumente, die niemals von der Hand zu weisen sind. Dass die Flugzeuge derzeit auch irgendwo landen und dass der Protestler selbst recht gern und häufig fliegt? Tut nichts zur Sache. Dass die Nachbarn der meisten Vorbestraften gar nicht wissen, dass sie Nachbarn von Vorbestraften sind und dieses Nichtwissen die Gefahr so wenig mindert wie Wissen darum die Gefahr erhöht? Ähh, könnsiedasnochmalsagen?
Der Bürger21, ein Wesen aus einer Zeit, die keine Probleme hat und sich deshalb mit Nebensächlichkeiten die Tage vertreibt, ist nach einer Studie des Göttinger Instituts für Demokratieforschung ein eigennütziger Kerl, der von der Urangst getrieben wird, seine Grundstücke und Eigenheime könnten durch Windräder oder Großbaustellen entwertet werden. "Der wutbürgerliche Aktivist ist gut situiert, besser gebildet, 70 Prozent sind älter als als 45 Jahre und mit der eigenen Situation zufrieden", fasst der "Tagesspiegel" zusammen. Solche Menschen schätzten die demokratischen Werte, seien aber mit deren Praktizierung höchst unzufrieden. "Volksbegehren und andere Instrumente der direkten Demokratie stehen hoch im Kurs."
Aber natürlich, denn sie sind die Werkzeuge, die dem eigenen Egoismus eine Goldborte annähen. Die Mahnung um Toleranz meint hier nur, alle anderen Interessen müssten auf die eigenen Rücksicht nehmen: Weil der Bürger21 aus Prinzip keinen Pelz trägt, soll auch niemand mehr Pelze züchten, weil er sowieso mit dem Auto fährt, braucht er keinen Bahnhof. Der Strom kommt beim Bürger21 aus der Steckdose, das Steak aus dem Bioladen, das Benzin aus dem Zapfhahn, die Demokratie aus dem Widerstand gegen demokratische Entscheidungen.
Der Bürger21 hat die Erfahrung gemacht, dass man ihm zuhört, wenn er nur laut genug schreit. Er sieht sich selbst als Träger des Fortschritts, seinen Konservatismus hält er vor sich selbst sorgfältig versteckt. Er nennt ihn Engagement.
Wird der Bürger21 älter, wird er so ganz problemlos sogar gegen die Kinderspielplätze hinter dem Haus sein können, die er selbst als jüngerer Protestler herbeigekämpft hat.