Hat Gewaltlosigkeit bei den aktuellen Protesten eine Chance? – Ein Interview

Der spanische Friedensaktivist und -forscher Juan Gutierrez spricht über Feindbilder und deren Überwindung sowie über die Chancen der Gewaltlosigkeit bei den aktuellen Protesten in Spanien. Mit ihm gesprochen hat der Journalist Amador Fernández-Savater.

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M

Kamerad Feind, stirb nicht! Und töte mich nicht!

Renn nicht fort und gib nicht auf!

Wir müssen noch über so vieles zusammen reden.

Juan Antonio Bermúdez

Leitspruch des «Valencianischen Frühlings», Februar 2012

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Was ist das genau, ein Feindbild?
Am besten antworte ich damit, was das Feindbild bewirkt. Das Feindbild fügt etwas hinzu und nimmt etwas weg. Es setzt dem anderen Hörner auf und verleiht ihm Bocksklauen. Das heisst, es fügt ihm Dinge hinzu: zunächst das Vermögen zu schaden. Der andere hat ein fast unbegrenztes Potenzial, Unheil anzurichten. Dazu kommt zweitens der Vorsatz, dies auch zu tun: Er hat alle erdenkliche Absicht, Schaden zuzufügen. Vielleicht fehlt ihm dazu ein wirkliches Interesse. Es genügt allerding, dass er den Wunsch hat, Unheil anzurichten. Man sagte zum Beispiel, Sadam Hussein sei vom Wunsch beseelt gewesen, Israel zu bombardieren. Doch Hussein sorgte sich um sein eigenes Leben und wusste, dass man ihn umgehend töten würde, sollte er Israel bombardieren. Ein Stratege fragt sich immer: «Was fällt bei meiner Handlung auf mich zurück?» Das Feindbild hingegen präsentiert den anderen als reinen Willen, Schaden zuzufügen. Das scheint das einzige zu sein, woran er Gefallen findet und das ihn bewegt.

Und was nimmt es ihm weg?
Das Feinbild nimmt dem anderen das Menschliche. Es entmenschlicht ihn, entzieht ihm den ganzen menschlichen Gehalt. Der andere hat, durch das Feindbild betrachtet, niemanden gern, und niemand hat ihn gern. So sieht zum Beispiel der Pilot, der Bomben abwirft, keine menschlichen Wesen, weil er jene, die unten rennen, durch das zwischengeschaltete Feindbild betrachtet. Er bemerkt nicht, wenn er eine Mutter tötet, dass ein Waise zurückbleibt, dessen ganzes Leben dadurch geprägt sein wird. Er nimmt nur schädliche Wesen wahr, nicht das Leiden, das er durch sein Handeln verursacht. Da der andere reiner Wille zu schaden ist, muss der, welcher ihn liquidiert, ein Patriot sein, einer, der geradezu die Menschheit verteidigt. Dies ist der Motor des «glühenden Glaubens», von dem der ungarische Ministerpräsident Andras Hegedüs sprach, der zunächst einer der Unterzeichner des Wahrschauer Pakts war und dann Dissident und Soziologe wurde.

Aber es gibt sie ja, die Feinde. Es gibt ja tatsächlich solche, die uns Schaden zufügen.
Wir können unterscheiden zwischen dem Feind und dem Feindlichen an sich. Eine anschauliche Form, dies zu verdeutlichen, ist folgende. Gegenüber der Hand, die andere tötet oder verstümmelt, kann man zwei Haltungen einnehmen: sich dem entgegenstellen, was die Hand tut, aber im Gehirn oder Herz des Gegenübers das Menschliche suchen – oder den anderen einzig dadurch beurteilen, was die Hand tut. Da die Hand eine Schweinerei ausführt, ist er ein Schwein. Da die Hand einen Terrorakt begeht, ist er ein Terrorist. Und es bleibt uns nichts anderes übrig, als ihn so schnell wie möglich wegzuräumen. Das Feindbild ist dieser Akt der Entmenschlichung und der Reduktion. Aber wir können hinter dem Akt der Unmenschlichkeit auch das Menschliche suchen. Immer wieder finden wir Leute, die höchst unmenschlich gehandelt haben, aber woanders durchaus eine menschliche Dimension haben.

Und wenn es keinen anderen gibt? Das heisst, wenn der Feind eher eine Logik ist – der Macht oder der Ausbeutung – als ein Mensch?
Es kann unmenschliche Gesetze geben, wie zum Beispiel gerade jetzt in Spanien das Gesetz, das den Immigranten die medizinische Versorgung verwehrt.  Das Feindliche ist dann eine Struktur. Hier ist es nicht möglich, im anderen das Menschliche zu suchen, weil das Menschliche in den Menschen zu finden ist und nicht in Strukturen. Ein anderes Beispiel: Ich erinnere mich an einen Freund, der in Belfast lebte und auf beiden Seiten, der katholischen wie der protestantischen, der irischen wie der britischen Seite, Verwandte hatte, die gefallen sind. Er sagte zuweilen zu mir: «Das Feindliche ist die feindselige Situation.» Genau das ist es: nicht der andere, sondern die Dynamik, die zwischen beiden herrscht und sie entzweit. Das Karfreitags-Friedensabkommen veränderte die Situation und räumte ein grosses Hindernis im Zusammenleben hinweg, das langsam, aber stetig besser wird. Jedenfalls funktioniert die Unterscheidung zwischen dem Feind und dem Feindlichen, sei das Feindliche eine Struktur, eine Dynamik oder eine Aktion.

Doch kann eine solche Komplizierung der Figur des Feindes nicht die an sich richtige Kritik an Gewalt und Unterdrückung verwässern und neutralisieren?
Es geht darum, in der Kritik fest zu sein, aber dem anderen gegenüber anständig – und diese Spannung auszuhalten. Was heisst das? Wir dürfen nicht diplomatisch sein. Die Diplomatie versteckt den Konflikt, deckt ihn zu. Das Schlechte, das der andere ausübt, muss man benennen und anprangern, allerdings indem man zwischen dem Schlechten und der Person unterscheidet. Du kannst einer Mutter sagen, ihr Kind sei krank und sie brächte es um, wenn sie es weiterhin so und so behandle. Doch du kannst nicht zu ihr sagen: «Sie lieben Ihr Kind nicht. Sie sind kein Mensch.» Man muss zwischen der Person und dem Problem unterscheiden, weil der andere immer mehr ist, als was mit dem fraglichen Problem zusammenhängt, obschon manchmal Person und Problem so stark verbunden sind, dass sie wie eins erscheinen. Es gibt immer Anknüpfungspunkte, wo das Menschliche aufscheint, wenn du danach suchst.

Und was machen wir dann mit der klassischen Definition von Politik als der Unterscheidung von Freund und Feind?
Zunächst müssen wir fragen, ob das die einzig mögliche Definition ist. Der Jurist Carl Schmitt prägte sie, um die Politik Hitlers einzustufen: «Wer nicht mein Freund ist, ist mein Feind.» Bush sagte dasselbe nach dem 11. September, und ihn so sprechen zu hören, machte Angst. Für mich ist Politik die Kunst zu regieren. In welcher Hinsicht braucht man den Feind, um zu regieren? Natürlich hat man ihn immer wieder als Mittel zum Zweck gebraucht – und braucht ihn heute noch. Das ist tief in unserer Erziehung verankert, wo man bei den Kindern den Butzemann braucht, also ein Feindbild, um ein bestimmtes Verhalten zu bewirken oder zu verändern. Doch es gibt auch politisches Handeln ohne das Konstrukt eines Feindes, das heisst ein Vorgehen, welches das Vorhandensein eines Konfliktes nicht ausblendet, diesen aber so angeht, dass es weder Gewinner noch Verlierer zu geben braucht. Mors tua vita mea, sagte man im Römischen Reich. Dein Tod, mein Leben. Das ist eine Art, Politik zu machen. Aber nicht die einzige.

Aber wie sonst kann man die Wirklichkeit verändern?
Ich erwähne gerne das Beispiel von Mandela. Mandela entschied sich für den bewaffneten Kampf gegen die Apartheid und organisierte ihn. Von bewaffnetem Kampf sprechen wir, von nichts anderem. Doch immer richtete er als Sprecher der Freiheitscharta – die während mehr als eines Jahres von um die tausend Mitgliedern des Afrikanischen Nationalkongresses ausgearbeitet wurde – folgende Botschaft an die Weissen: «Wir wollen nicht, dass ihr aus Südafrika weggeht. Wir anerkennen und schätzen alles, was ihr dem Land gebracht habt. Was wir aber wollen: dass ihr uns in Gleichheit in die Augen schaut. Wir geben euch die Hand, doch zuerst müssen die Strukturen zerstört werden, die uns trennen.» Mandela wollte niemanden wegräumen. Er war überzeugt, dass sein Land von der Anwesenheit der Weissen profitieren würde, wenn erst einmal die Mauer der Apartheid niedergerissen war. Seine grosse Lehre ist nicht so sehr, dass man immer und in jeder Situation gewaltfrei sein müsse, sondern dass bei allem, was man tut, ein Weg offen gehalten werden soll, um den anderen zu achten. Ich würde sogar sagen, dass dieser Weg langfristig realistischer und wirkungsvoller ist.

Erkläre mir das etwas genauer!
Als Gefangener schloss Mandela mit einem seiner Wärter Freundschaft. Er achtete ihn und behandelte ihn nicht wie einen Feind. Er entfachte seine Menschlichkeit und bewirkte, dass er den eingeschlagenen Weg verliess und auf seine Seite wechselte. Und das war nicht das einzige Mal. Beim Widerspiegeln des gegenseitigen Feindbildes ist nichts zu gewinnen. Die Spiegelungen wiederholen sich bis ins Unendliche. Oder wie es der bekannte Witz des Komikers Pierre Desproges beschreibt: «Der Feind ist dumm. Er glaubt, wir seien der Feind. Dabei ist er es.» Indem du ein Feindbild projizierst, prallst du auf das, was du selbst dort hingestellt hast: auf ein Schild, das die Menschlichkeit des anderen zudeckt und so seine destruktive Antwort heraufbeschwört. Mandela schaffte es, dieses Schild zu durchbrechen und im anderen den Menschen zu finden. Deshalb erreichten die Worte, die er sprach und die keine Kritik verschwiegen, seinen Wärter mit deutlich mehr Kraft. Denn er sprach ihn als Menschen an. Wenn kein Feindbild dazwischen steht, ist es möglich, den anderen zu bewegen, zu berühren und sich mit ihm zu verbinden.

Siehst du die Bewegung 15-M[i] auf dieser Linie?
Ich stelle mir 15-M gerne wie einen Igel vor, mit zartem Fleisch und unendlich vielen Stacheln: die einladende und einschliessende Dimension und die deutlichen Verweigerungen. Der Stachel misst die Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt, wie viel menschliche Würde ich erfahre. Erstickt oder erwürgt die Wirklichkeit meine Würde? Dann stelle ich einen Stachel auf, um sie zu stechen und wieder frei atmen zu können, unabhängig davon, ob sie nun fünf Zentimeter oder drei Galaxien weit entfernt ist. Auch das Wort «indignados»[ii] hat seine Wurzeln im Wort «Würde» [Spanisch: dignidad]. Die Bewegung 15-M bestimmt die Wirklichkeit von der Würde her, und zwar nicht inwieweit ich sie in mir trage, sondern inwieweit ich sie durch die Mächte, die die Welt beherrschen, eingezwängt, misshandelt und verletzt sehe. Und 15-M lädt jeden dazu ein, sich der Bewegung anzuschliessen, ausgehend von seinen eigenen Verletzungen, die jeder in seiner Würde erfahren hat. Das konnte man deutlich bei den Sternmärschen vom Juni 2011 aus den Provinzen nach Madrid beobachten, in deren Versammlungen all das erlebte Unrecht in den Dörfern und Landstrichen zur Sprache kam.

Man sagt, 15-M sei eine sehr zahme Bewegung, die nichts verändert habe, und es brauche etwas anderes, nun, «da ihr Stern am Sinken ist».
Nun, es ist etwas sehr kurz gegriffen, einfach zu sagen, 15-M hätte sich nicht verweigert, die Bewegung sei so einschliessend, dass sie ohne Neins auskomme, sie sei honigsüss, und es sei uns nicht mehr nach Honig zumute. Die Stachel von 15-M haben zum Bestehenden Nein gesagt – und so deutlich Nein gesagt, dass Institutionen, die seit Jahrzehnten durch eine dicke Haut geschützt waren – wie die Monarchie, das Parlament und das Parteiensystem –, allmählich all ihr Elend und all das Schlechte, das von ihnen ausgeht, entdecken. Es braucht ein gerüttelt Mass an Realitätsverleugnung, um zu behaupten, 15-M hätte nichts verändert. Tatsächlich ist es so, dass die Stachel der Bewegung 15-M nicht ein Feindbild zerstechen und dadurch stumpf werden, sondern sich gegen das Unmenschliche richten, ohne das Menschliche im anderen zu verneinen. Vielmehr sucht die Bewegung Wege, das Menschliche im anderen zu erkunden und sich damit zu verbinden. Die Bewegung 15-M macht sich das, was sie zurückweist, nicht zum Feind.

Wie sieht das konkret aus?
Ich denke da zum Beispiel an die betonte, aktive und freudige Gewaltlosigkeit von 15-M. Das ist nicht eine Gandhische Gewaltlosigkeit. Diese war in hohem Mass masochistisch – nicht die eines Städters, der sich des Lebens freut, sondern eher die eines Fakirs, der sagt: «Ich füge anderen kein Leid zu. Ich stecke Leid ein, schlucke es – und brüste mich damit.» Die Gewaltlosigkeit von 15-M kommt anders daher. Sie wandelt ein historisches Erbe um und deutet es neu. Sie ist nicht nur für jene mit einer «grossen Seele» gedacht, sondern für jedermann. Sie ist nicht für ein paar wenige, sondern für die Masse, eine geradezu ozeanische Gewaltlosigkeit. Man bewegt sich in der Anonymität, was durchaus nicht heisst, dass wir alle nur noch verschwommen daherkommen, sondern vielmehr dass nicht mehr eine hervorragende Figur den menschlichen Reichtum in sich vereinigt und die anderen unbedeutend erscheinen lässt. Es ist eine Gewaltlosigkeit, die sogar jenseits der Polizeisperren Zeichen des Einverständnisses hervorrief, Zeichen, die dir als Mensch und nicht als Feind galten. Das tut nun wirklich weh …

Doch die Polizei antwortet mit Stockschlägen. Wie gehen wir mit der Gewalt um, die uns von der anderen Seite entgegenkommt?
Die Gewaltlosigkeit darf sich nicht von der Gewalt abwenden, sondern muss, indem sie diese versteht, daran erstarken, wobei Verstehen etwas anderes als Gutheissen bedeutet. Man muss verstehen, was die Bereitschaftspolizisten zu ihrem Handeln antreibt, was auf ihnen lastet. Ich erinnere mich an eine Kundgebung, wo eine junge Frau der Polizei zurief: «Ihr seid wie wir. Schliesst euch uns an!» Das stimmt nicht. Die Bewegung 15-M sagt: «Ohne Haus, ohne Job – ohne Angst.» Doch wenn der Polizist einen Befehl erhält und ihn nicht ausführt, verliert er den Job und sein Einkommen. Man muss die Gründe verstehen, die verhindern, dass sich der andere dir anschliesst. Man muss verstehen, wie der andere dorthin gekommen ist, wo er jetzt ist, was seine Wertvorstellungen sind usw. Das geschieht, wenn man das Feindbild wegnimmt. Das ist die einzige Form, an einem wenn auch nur ansatzweisen Einverständnis zu bauen, das sich in kleinen Gesten, Haltungsänderungen oder Blicken ausdrücken mag. Bei einer härteren Konfrontation geht dies alles verloren, weil es auf beiden Seiten nur noch Feindbilder gibt. Einen Feind schlagen ist immer viel einfacher als einen Menschen schlagen.

Aber die Gewaltlosigkeit der Bewegung 15-M konnte die Ausgabenkürzungen nicht verhindern.
Und der Kampf der Bergarbeiter[iii]? Konnte er es? Es ist falsch, wenn man sich selbst als Realisten definiert, indem man den anderen bezichtigt, er habe den Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Es gibt zuweilen Ziele, die sich kurzfristig weder im Guten noch im Schlechten erreichen lassen. Und wenn man das Ziel im Guten nicht erreichen konnte, heisst das noch lange nicht, man müsse es nun im Schlechten versuchen. Gewalt wurde immer so gerechtfertigt: «Friedliche Mittel nützen nichts. Man muss mehr Energie, ja, sein Leben dafür einsetzen und das des anderen bedrohen.» Doch es ist fraglich, ob das wirksamer ist. Die Gewaltlosigkeit von 15-M stellt zusammen mit der aktuellen Demokratisierung der Kommunikation für die Mächtigen eine wirkliche Herausforderung dar. Sie wissen nicht, wie damit umgehen, und setzen der Bewegung ständig Feinbilder auf, indem sie etwa sagen: «Das sind alles Wölfe im Schafspelz.» Doch es nützt nichts. Die Bewegung 15-M dekonstruiert jegliches Feindbild: «Wir sind nicht gegen das System. Das System ist gegen uns.» Und wer in der Bevölkerung atmet die Luft von 15-M? Eine riesige Mehrheit. Es ist deutlich, dass die härtere Politik der Volkspartei[iv] der Bewegung ein Ende setzen und sie zum Feindbild stilisieren möchte. Die Politiker der Volkspartei wissen, dass der Druck der Bürger ihrer Politik am Ende Grenzen setzen könnte.

Rund um die Ereignissen vom 25. September[v], auch als Bewegung 25-S bekannt, hat man den Eindruck, dass nun ein neues Stadium erreicht wird und wir etwas Direkteres, Überzeugenderes und Wirksameres als 15-M brauchen.
Wir leben in einer Welt, in der vieles schiefläuft und der Igel seine Stacheln zeigen muss. Ich bin eiverstanden. Das Problem ist, dass die «Radikalisierung» mit einer vereinfachten Sicht auf die Dinge einhergeht und manche Facette des Reichtums von 15-M ausblendet, so dass sie an Kraft und Mut verliert. Ein Beispiel: Die Bewegung 25-S wollte die Konfrontation verschärfen, Angstschwellen überwinden und die Ereignisse beschleunigen. Aber die Väter und Mütter konnten nicht mehr mit ihren Kindern an die Kundgebung gehen, da es gefährlich werden konnte. Ist das nicht eine andere Art der politischen Delegation von den «Untüchtigen» zu den «Tüchtigen». Und noch etwas: In der dialektischen Logik zwischen Unterdrücker und Unterdrückten findest du viel Anklage und Denunziation. Doch du findest nichts von dem Reichtum, der beim Unterdrückten bereits hier und heute vorhanden ist und der sich in den Zeltlagern von 15-M so überschwänglich strömte: die Freude des Teilens, die Offenheit für den anderen, der gemeinsame Aufbau, der Austausch von Freundschaft und Zärtlichkeit. So bleiben wir mit unseren Igelstacheln alleine und verlieren an Reichtum.

Ein Freund sagt, zwischen 15-M und 25-S seien wir von «Sie vertreten uns nicht» zu «Auf sie!» übergegangen, hin zu einer Radikalisierung der Konfrontation der 99 Prozent gegen das eine Prozent, eine Konfrontation, die darauf abzielt, die Regeln des Spiels um die Macht zu verändern.
Der Bewegung 25-S würde ich zwei kritische Fragen stellen. Erstens: Gibt es auf der anderen Seite etwas Menschliches zu finden, oder sind das nur Mistkerle und Kriminelle? Ist dort ein Scheusal, oder machen wir es dazu, indem wir das Gegenüber durch die Feindbild-Brille betrachten? Wendest du dich mit deiner Kritik an den anderen als Menschen, oder prallst du bloss mit dem Feindbild zusammen? Nun, darüber haben wir schon genügend gesprochen. Und zweitens: Wie lange brauchen wir, um den Fluch von Hegel zu überwinden, der gesagt hat, dass die Bürger unfähig seien, sich selber zu regieren. Erinnern wir uns, dass das Zeltlager auf der Puerta del Sol nur fünf Wochen andauerte und dass die Versammlungen in den Quartieren inzwischen sehr klein geworden sind und wenig Zulauf mehr haben. Aufbauen ist deutlich schwieriger als Zerstören, und die entsprechenden Zeitabläufe sind sehr unterschiedlich. Ich glaube, wenn wir die Macht übernehmen würden, wüssten wir nicht wirklich, was wir mit ihr anfangen sollen. Wie eignen wir uns diese Fähigkeit an? Ausschliesslich auf dem schnellen Weg von Spannung und Konfrontation?

Die Umzingelung des Kongresses hätte diese andere Dimension hinzufügen sollen. Nicht?
Ich glaube schon. Man muss alle versteckten Motive kennen, denunzieren und verurteilen, die ein Parlament dazu bewegen, Interessen zu vertreten, die nicht die Interessen der Gesellschaft sind, sondern jener, die die Gesellschaft unterdrücken. Man muss das Unsagbare aussprechen, das nicht Salonfähige aufzeigen. Aber wir müssen auch Strukturen aufbauen, damit die Bürger sich selber regieren können. Die Selbsterziehung der Zivilgesellschaft kann nur ein langsamer Prozess sein. Und diese Zeiterfordernis steht in Widerspruch mit der Suche nach direkter und unmittelbarer Wirksamkeit. Man muss der neoliberalen Idee der Effektivität widerstehen, die überall Einzug hält: «Wir dürfen keine Zeit mit langen, äusserst nebulösen und offenen Prozessen verlieren. Wir brauchen jetzt deutliche und fassbare Früchte.»

Eine andere Idee des sozialen Wandels braucht auch einen anderen Zeithorizont.
Eine zivilgesellschaftliche Politik reift heran und steht vor dem Durchbruch. Sie ist nicht parteibezogen, also nicht in Parteien zersplittert, die nur auf ihren Vorteil aus sind und ihrem Gegenüber schaden wollen. Es ist eine nicht hierarchische und nicht ausschliessende Politik, sehr anonym, wo jeder ersetzbar ist. Es ist eine Art Klimawandel, bei dem es Flut und Ebbe und hohe Wellen mit Schaumkronen geben wird. Doch entscheidend ist die Grundwelle. Und diese Grundwelle ist die neue, zivilgesellschaftliche Politik, die am Kommen ist. Noch während einiger Zeit werden wir unendliche Spiele, vorübergehende Verwicklungen und Spannungen zwischen der parteienbezogenen und dieser zivilgesellschaftlichen Politik erleben. Wir brauchen den zeitlichen Horizont eines historischen Prozesses, um den Hegelschen Fluch zu überwinden.

Zum Schluss, Juan: Weshalb sollen wir den anderen achten und uns nicht vielmehr für den reinen und harten Widerstreit gegen jenen entscheiden, der unsere Möglichkeiten behindert? Warum Friede und nicht Krieg?
Darauf gibt es sehr viele Antworten … Es ist nicht eine moralische Entscheidung, sondern eine solche für das Leben und gegen den Tod. Für das Leben ist es eine Notwendigkeit, Leben zu teilen und an andere weiterzugeben. Der Krieg sät und erntet Tod. Das Ziel des Krieges ist nicht Töten, aber er ist ein Mittel, um mir den Willen des anderen Untertan zu machen. Dies wird etwa bei Von Clausewitz, dem Kriegstheoretiker schlechthin, deutlich. Zwischen Krieg und Frieden gibt es eine Wahl für das Leben – nicht eines in mir als isoliertem Wesen eingezwängten Lebens, auch nicht für ein Leben einzig in meiner Gruppe mit geschlossenen Grenzen gegen aussen. Denn du beginnst damit, die da draussen als Feinde zu erklären, und endest damit, den inneren Feind zu suchen. Und das ist das Schönste an der Bewegung 15-M: Sie ist ein Raum geteilten Lebens ohne feste Grenzen gegen aussen.

Hat Gewaltlosigkeit bei den aktuellen Protesten eine Chance? – Ein Interview

Juan Gutierrez studierte Philosophie in Hamburg und nahm in den 1968er Jahren an der deutschen Studentenbewegung gegen den Vietnamkrieg teil. Während acht Jahren betreute er Werftarbeiter sozialarbeiterisch. Später gründete und leitete er in Gernika ein Zentrum für Friedensforschung. Heute ist er Mitglied und Berater des «International Network for Peace», einer internationalen Vereinigung von Menschen, die von politischer Gewalt betroffen sind und ihre traumatischen Erfahrungen in die Friedensarbeit einfliessen lassen, um so den Teufelskreis von Gewalt und Rache zu durchbrechen.

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Anmerkungen:

[i] Gemeint ist die Protestbewegung 15-M in Spanien, die am 15. Mai 2011 begann.

[ii] So nannten sich bei den Protesten in Spanien die «Empörten», inspiriert von Stéphane Hessels «Empört euch!»

[iii] Die spanischen Bergleute wehrten sich im Sommer 2012 teils gewaltsam gegen die Kürzungen der Subventionen im Bergbausektor.

[iv] Der Partido Popular (PP, zu Deutsch: Volkspartei) regiert seit November 2011 mit absoluter Mehrheit.

[v] An diesem Tag versuchten mehrere tausend Demonstranten das Kongressgebäude in Madrid zu umzingeln. Es gab 64 Verletzte, davon waren 27 Polizisten.

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Das Original des Interviews in spanischer Sprache ist auf dem Blog Interferencias bei eldario.es erschienen.

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Übersetzung: Walter B.

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