Benjamin Merz ist Ethnologe. Kein richtig erfolgreicher, eher so einer, der in seinem Job mit jeder Faser seines Herzens aufgeht. Ihn lebt. Für den sein Beruf mehr ist als nur ein Beruf, sondern Therapie und Lebensinhalt.
Aufgewachsen mit vier älteren Brüdern ist Benjamin das Fragen nicht in die Wiege gelegt worden. Er ist eher als stiller Beobachter aufgewachsen, immer darum bemüht, mit seiner Familie mitzuhalten zu können. Ein stilles Kind, das keine Fragen stellte.
Während ihn seine Brüder immer noch in der Rolle des Nesthäkchens und zu beschützenden Nachzüglers sehen, hat Benjamin sich im Laufe der Jahre zu einem geschickten Fragensteller entwickelt, der es im Laufe eines Gespräches schafft, sich in einen Menschen hineinzuversetzen und ihm seine intimsten Geheimnisse zu entlocken. Das bemerken auch die Frauen in Mandlica, einem Städtchen an der sizilianischen Südküste, in das es ihn zu Forschungszwecken verschlägt.
Der sonst so zurückhaltende Benjamin steht bald im Mittelpunkt der ganzen Stadt, jeder möchte mit ihm reden und Teil seiner Forschung werden. Außer Paula, die Schwester seiner Wirtin Maria. Doch gerade diese Frau übt eine große Anziehungskraft auf Benjamin aus.
Hanns-Josef Ortheils Roman ist in mehrerer Hinsicht ein Liebesroman. Nicht nur, weil sich zwischen Benjamin und Paula ein zartes Pflänzchen der Zuneigung entwickelt, weil die beiden im Laufe der Geschichte einander näher kommen. Im Vordergrund steht Benjamins Liebe zu seiner Arbeit und damit verbunden seine Entwicklung zu dem Menschen, der er geworden ist.
Je mehr Geheimnisse Benjamin den Einwohnern von Mandlica entlockt, desto mehr seiner eigenen Geheimnisse kommen ans Tageslicht. Die Träume und Wünsche der anderen sind auch seine; er begehrt, was sie begehren. Aus einem Reiseroman wird so eine Geschichte des eigenen Entdeckens, die Herr Ortheil hier liebevoll erzählt.
Die Sprache im gesamten Roman ist von einer zarten Lebhaftigkeit geprägt, sie lässt Sonne und Wind und Meer auf der eigenen Haut spüren, so leicht ist sie. Sie gibt liebevoll Benjamins Geschichte und Entwicklung wieder. Auch deshalb ist Das Kind, das nicht fragte für mich in erster Linie ein Liebesroman. Einer der zeigt, wie schön das Leben und das Geschichtenerzählen sein können.
Gebundene Ausgabe: 432 Seiten
Erschienen bei Luchterhand Literaturverlag
November 2012
ISBN: 978-3-630-87302-2