Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
Als Hamed Abdel-Samad am 04. Dezember in Berlin über das Buch sprach, war er in vielerlei Hinsicht um einiges pessimistischer als er es noch beim Verfassen des Buches war. Die Gefahr, dass aus der Revolution in Ägypten keine Demokratie erwächst, sondern eine Theokratien enstehen könnte, ist leider größer geworden.
Im Frühjahr 2011 war Hamed Abdel-Samad in Kairo. Das war der Zeitpunkt, an dem dort die Massen gegen die Mubarak-Diktatur auf die Strasse gingen. Und es ist das Ereignis, dass im Buch der meiste Platz eingeräumt wird. Zu Recht.
Denn Abdel-Samad berichtet nicht nur, sondern er bewertet. Er beschreibt nicht nur, was er sieht und erlebt; er ordnet es ein und setzt es in Zusammenhänge: historische und politische. Dabei kommt für den von den deutschen Medien abhängigen Beobachter manch neue Erkenntnis zu Tage. Wir wissen nicht viel über die innenpolitischen Sachverhalte. Und die Muslimbrüderschaft ist in den deutschen Medien fast eine Dependance von Al-Quaida.
Für mich spannender als die Schilderungen der Ereignisse auf und um den Tahri-Platz, dem Symbol der ägyptischen Revolution, sind die Erkenntnisse und Hinweise, die Hamed Abdel-Samad dem Westen und vor allem Europa gibt. (Für mich spannend ist sein Hinweis zum Beispiel auf deutsche Hilfe beim Aufbau einer Polizeibehörde insofern, als dass ich genau dies hinsichtlich Tunesiens kritisierte.)
Sollte Europa sich nicht entschließen, den arabischen Staaten beim Aufbau einer funktionierenden Demokratie und Wirtschaft Hilfe anzubieten, besteht die Gefahr, dass es in den nordafrikanischen Ländern zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommen kann. Zumal absehbar ist, dass sich die klimatischen Bedingungen in den kommenden Jahren verschlechtern werden; die landwirtschaftliche Produktivität aufgrund des Wassermangels absinken wird und in instabilen Systemen keine Infrastruktur erhalten, geschweige denn ausgebaut werden wird.
In diesem Falle müsse sich Europa auf eine riesige Flüchtlingswelle einstellen. Eine “dritte Völkerwanderung”. In Anbetracht der Lage und Situation der bereits in Deutschland und den anderen europäischen Staaten lebenden Migranten ergäbe sich eine explosive Situation:
Die Asymmetrie in der Beziehung zwischen den Migranten und der Aufnahmegesellschaft, die Umbrüche in unserer Welt und die Angst vor der Zukunft sowie die gegenseitigen Ressentiments, die sich wechselseitig hochschaukeln, werden die radikalen Weltanschauungen aller Couleur beflügeln. Die Turbulenzen in dieser Welt werden in den nächsten Jahren zu einer noch tieferen Kluft führen zwischen einem Sarrazin-Volk, das um seine traditionellen Werte und seine gewohnte Lebensweise fürchtet, und einer Generation junger Muslime, die gerne in Selbstmitleid und Lethargie verfällt und sich ohnmächtig fühlt. Eben diese Mischung aus moralischer Überlegenheit und materieller Unterlegenheit, zwischen Ohnmacht und Allmachtsvisionen macht den islamischen Terror unberechenbar und gefährlich… [Seite 159]
Doch der Autor belässt es nicht beim Jammern, Warnen und Beklagen. Er macht Vorschläge und unterbreitet Ideen für eine Zukunft, von der sowohl der nordafrikanische Raum als auch Europa profitieren könnten. Das letzte Kapitel des Buches “Ein Marshallplan für die arabische Welt” befasst sich allein mit diesen Ideen.
Vielleicht sollte dieses Kapitel hundertfach kopiert und an die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft verteilt werden. Denn ich meine, dass seine Vorschläge allemal wert sind, diskutiert zu werden.
Alles in Allem: ein gutes, gut lesbares und kenntnisreiches Buch. Und in jedem Falle eine Empfehlung für all die, die über den eurozentristischen Tellerrand schauen wollen und heute; ein Jahr nach der Revolution, begreifen wollen, was am Nil geschah und geschieht.
Nic