Titel: Haarmann
Autor: Dirk Kurbjuweit
Format: Hardcover
Preis: 22,00 €
Seitenzahl: 320 Seiten
Verlag: Penguin
ISBN: 978-3-328-60084-8
Bewertung: 3 Sterne
Rezensionsexemplar
Inhalt
Im Hannover der 1920er Jahre verschwinden Jungs spurlos. Niemand weiß wohin und wieso, doch einer nach dem anderen wird vermisst gemeldet. Für Robert Lahnstein, Ermittler in diesem Fall, wird aus schrecklichen Gerüchten bald Gewissheit: das Deutschland der Zwischenkriegszeit hat es mit einem psychopathischen Serienmörder zu tun. Doch Lahnstein weiß bald nicht mehr, womit er mehr zu kämpfen hat: mit dem Schicksal der Vermissten, dem Verwirrspiel mit dem mutmaßlichen Täter, den Machenschaften innerhalb der eigenen Polizeireihen oder der wachsenden Unruhen der Gesellschaft, die bald glaubt, dass die Polizei sie nicht mehr vor den schrecklichen Verbrechen schützen kann.
Dirk Kurbjuweit ist für mich kein unbekannter Autor. Ich habe bereits „Zweier Ohne“ von ihm gelesen und kannte daher seine Art zu erzählen bereits. Fritz Haarmann, der Serienmörder, ist für mich ebenfalls nicht unbekannt. Durch etliche True Crime Podcasts und Berichte war ich mit dem Fall des „Werwolfs“ von Hannover bereits vertraut. Als ich gesehen habe, dass ein Kriminalroman zu diesem schrecklichen Fall erscheinen wird, wollte ich das Buch unbedingt lesen. Herzlichen Dank an das Bloggerportal und den Penguin Verlag für das Rezensionsexemplar!
Ich bin großer True Crime Fan. Einen genauen Zeitpunkt, wann dieses Interesse losgegangen ist, kann ich euch gar nicht sagen. Schon als jüngeres Mädchen habe ich gerne Krimi-Serien geschaut, mich haben True Crime Dokumentationen interessiert und Serien wie „Criminal Minds“ oder „Navy CIS“ habe ich rauf und runter geschaut. Ermittlungsarbeit fand ich spannend und, wie ihr sicher wisst, lese ich für mein Leben gerne Thriller. Seit Ende 2019 habe ich auch True Crime Podcasts für mich entdeckt und bin begeisterte Hörerin von „Mordlust“ und „Zeit Verbrechen“. Ich kann nicht mehr genau benennen wann ich das erste Mal von Fritz Haarmann gehört habe, doch ich weiß, dass ich Ende des letzten Jahres einen Podcast, der sich allein mit diesem Fall beschäftigt, gehört habe. Es war ein wirklich toll aufgenommener Podcast, der sich wie ein Hörspiel hört und toll recherchiert ist. So wurde mein Interesse an diesem Fall wieder geweckt und als ich von dem Buch „Haarmann“ gehört habe, wollte ich es unbedingt lesen.
Der Einstieg in die Geschichte war eigentlich recht leicht, die Welt, in der man sich in diesem Buch bewegt ist geprägt von Krieg, Armut und politischen Unsicherheiten. Der erste Weltkrieg ist zu Ende und Deutschland hat die Kriegsschuldlast alleine zu tragen. Die Niederlage wiegt für die meisten Deutschen schwer und die politische Lage leidet sehr darunter. Keiner weiß so recht wohin er sich wenden soll, wer die richtigen Werte vertritt und was als nächstes geschehen wird.
Und dann verschwinden in Hannover immer wieder Jungs zwischen 15 und 19 Jahren spurlos. Die verängstigten Eltern wenden sich an die Polizei, wissen nicht, was mit ihren Jungen geschehen ist. Robert Lahnstein ist neu im Präsidium in Hannover und wurde für den Fall der vermissten Jungen eingesetzt. Es belastet ihn stark, dass sie keinerlei Hinweise haben, niemand hat irgendetwas gesehen oder bemerkt. Doch nicht alle Jungen können so plötzlich und ohne ein Wort zur Fremdenlegion gehen, oder nach Amerika oder sonst irgendwie ausgerissen sein. Es ist unwahrscheinlich, dass mittlerweile 16 junge Männer in ähnlichem Alter einfach aus der Welt fallen.
Lahnstein versucht in alle Richtungen zu ermitteln, doch nicht nur die fehlenden Hinweise stellen ihm ein Bein, auch seine Kollegen scheinen nicht unbedingt großes Interesse daran zu haben, dass die Fälle aufgeklärt werden. Sie behindern immer wieder Lahnsteins Arbeit, ignorieren seine Vorschläge und scheinen seine Arbeit eher zu behindern als ihm helfen zu wollen. Lahnstein steht schnell vor der Frage: wird jemand gedeckt? Gibt es vielleicht einen Täter, der bewusst übersehen wird? Als er einen wichtigen Hinweis bekommt, die nötige Akte aber nicht aufzufinden ist, setzt er sich mit Drohungen gegen seine Kollegen durch und bekommt endlich das, was er so lange verzweifelt gesucht hat: einen mutmaßlichen Täter. Fritz Haarmann.
Lahnstein ist für mich nur schwer greifbar gewesen. Er wirkt traumatisiert durch den Krieg, auch wenn er diese Tatsache zu verbergen versucht. Den Verlust seiner Frau und des gemeinsamen Kindes hat er nicht überwunden und die Gefangenschaft in England plagt ihn zusätzlich mit Erinnerungen. Teilweise hatte ich beim Lesen das Gefühl, dass er überhaupt nicht bei der Sache ist und sich leicht von äußeren Umständen ablenken ließ. Auch die politisch schwierige Lage kommt immer wieder in den Vordergrund. Natürlich spielt diese eine Rolle, vor allem wenn man an die Ermittlungsarbeit und den wachsenden Druck der Gesellschaft denkt. Doch letztlich sollte es nicht hauptsächlich darum gehen, dass erst kürzlich ein Putschversuch in München misslang, bei dem Hitler ins Gefängnis ging oder wie die unterschiedlichen Wahlergebnisse zu dieser Zeit aussahen. Bis zu einem gewissen Punkt konnte ich verstehen, wieso der Autor diese Tatsachen mit eingeflochten hat, doch etwas weniger hätte mir mehr gefallen. Mir hat der Fokus auf den Kriminalfall gefehlt. Auch die immer wiederkehrenden Erinnerungsfetzen von Lahnstein fand ich teilweise ermüdend und habe sie gegen Ende nur noch als Lückenfüller betrachtet. Als hätte man überlegt, wie man das Buch länger machen kann und deshalb die Familientragödie noch mit eingebaut. Und trotz all dem, bleibt Lahnstein für mich blass und unnahbar. Ich habe kein bisschen mit ihm gefühlt, konnte ihn nicht greifen und letztlich eigentlich auch gar nicht leiden. Teilweise hat er sich regelrecht in seinem Selbstmitleid gesuhlt und immer wieder die Chance verpasst sich gegen seine Kollegen durchzusetzen. Lahnstein weiß genau, dass sie viel zu wenig Polizeikräfte sind und er weiß, dass die Polizisten darauf angewiesen sind von Spitzeln Hinweise zu bekommen, um Verbrecher festzunehmen. Was er nicht sieht ist, dass Haarmann genau das ist: ein Spitzel der Polizei. Er ist blind, was seine eigenen Kollegen angeht und lässt alles durchgehen, egal, was sie machen. Ich fand es schade, dass er sich nicht durchzusetzen wusste.
Die eigentliche Hauptperson in diesem Buch hätte in meinen Augen Fritz Haarmann sein sollen. Es hätte mich brennend interessiert wie sich Kurbjuweit ihn vorgestellt hat. Sein Innenleben, das, was ihn mutmaßlich dazu antrieb, all diese schrecklichen Taten zu begehen. Ich hätte gerne mehr über seine Kindheit und Jugend erfahren. Wie wurde er zu dem Mann, der er war, als man ihn hinrichtete? Wie konnte es so weit kommen? Das alles hat er nicht mit einbezogen. Haarmann bleibt an sich genauso blass wie Lahnstein. Er ist zwar der Täter, kommt aber erst ganz zum Schluss richtig im Buch vor. Über ihn wird aber kaum etwas im Buch geschrieben. Nichts, das wirklich Einblick in sein Leben gegeben hätte. Es gibt einige wenige Passagen in denen seine Gedanken geteilt werden, doch das war mir eindeutig zu wenig. Diese Stellen hätte der Autor meiner Meinung nach ausweiten und vertiefen sollen. Ich wollte etwas über Haarmann erfahren und nicht über die Polizeiarbeit von Lahnstein oder sein Familienunglück. Es ist schade, dass der Fall in diesem Buch dann doch irgendwie in den Hintergrund gedrängt wird. Die Taten an sich müssen ja nicht detailliert beschrieben werden, doch ich hätte mir auch mehr Spannung erwartet. Es war grausam was zu dieser Zeit in Hannover geschah und letztlich wird diese Tatsache fast schon unter den Tisch gekehrt. Erst in den letzten beiden Kapiteln wird ein Teil des Ausmaßes klar, das Haarmann angerichtet hat und dennoch nicht nachdrücklich genug. Es fehlten mir Informationen, Vermutungen und die Spannung. Vor allem hat Kurbjuweit als wichtige Quellen für sein Buch die Aufzeichnungen von Theodor Lessing genannt, welcher damals im Gericht saß und sehr detailliert darüber berichtete, wie Haarmann sich gab. Vereinzelt übernahm Kurbjuweit das Verhalten von Haarmann, doch nicht mit Nachdruck genug. Nur mit Hintergrundwissen kann man diese Hinweise wirklich verstehen und deuten, was ich sehr schade fand. Nicht jeder, der dieses Buch liest, kennt sich gut mit dem Fall Haarmann aus und kann die Verhaltensweisen richtig deuten. Im Fokus war, in meinen Augen, nicht Fritz Haarmann, sondern der Polizist Lahnstein.
Fazit
Das Buch hätte sehr viel spannender und unterhaltsamer sein können, wäre der Protagonist nicht ein Polizist der mit größeren privaten Problemen zu kämpfen hat, sondern der Täter an sich. Ich hätte sehr viel lieber gelesen, was in Haarmanns Umfeld los war, wie er sein Leben fristete und letztlich zu dem wurde, der er war. Es hat mich nicht sonderlich interessiert, was Lahnstein privat durchleben musste, weil ich wegen Fritz Haarmann dieses Buch lesen wollte und nicht wegen einem Polizisten. Die Taten an sich blieben genauso blass wie sämtliche handelnde Personen. Die politische Lage wird dafür umso genauer dargestellt, was ich aber nicht immer notwendig fand. Ja, ein gewisser Rahmen, in dem man sich orientieren kann ist durchaus wichtig, aber mehr auch nicht. Leider konnte mir dieses Buch nicht das geben, was ich mir gewünscht habe.