Gedanken zum Mindestlohn

Ein Gastbeitrag von Timo Zimmermann.

In Deutschland ist nach einem Kurswechsel der CDU/CSU die Debatte um einen Mindestlohn wieder aufgeflammt. Auch in der CDU/CSU finden sich vermehrt Bedenkenträger gegen einen Lohn, von dem der Mensch nicht leben könne. Die Kritik ist noch etwas zögerlich, denn in der CDU/CSU weiß man auch, dass der Anspruch, der Lohn möge Lebensmittel sein, in der freien Marktwirtschaft systemwidrig ist. So sagte der Vorsitzende der Unions-Mittelstandsvereinigung, Hans Michelbach (CSU), dem Kölner Stadt-Anzeiger, eine allgemein verbindliche Lohnuntergrenze sei "ordnungspolitisch nicht vertretbar". Sie widerspreche "den Prinzipien der Marktwirtschaft", für die die Union stehe. Das darf man jetzt aber nicht als Systemkritik missverstehen.

Der Mindestlohn ist nur die Spitze des Eisberges

Während im Zusammenhang mit dem Mindestlohn zumeist auf die sächsische Friseuse mit ihren vier Euro in der Stunde verwiesen wird, die von ihrer Vollzeitstelle nicht leben könne, muss man zunächst einmal sagen, dass kein Lohn zum Leben taugt, von einigen Spitzensalärs vielleicht einmal abgesehen. Niemand, auch nicht der Facharbeiter bei VW, kann von seinem Lohn sein ganzes Leben finanzieren.

Zunächst ist ihm seine Einkommensquelle gar nicht lebenslang garantiert. Sein Arbeitsplatz kann jederzeit wegrationalisiert werden und damit seine einzige Einkommensquelle. Wird er dauerhaft krank oder später einmal alt, dann hat er ebenfalls kein Einkommen mehr, von dem er leben kann. Hier wird der Lohn erst zu einem mehr oder weniger Lebensmittel hingebogen, durch die zwangsweise Umverteilung des Gesamtlohns aller Arbeitenden, im System der staatlichen Versicherungskassen. Wobei jeder Arbeiter heute schon weiß, dass ihm eine relevante spätere Rente keineswegs garantiert ist. Es ist eben so, dass es kaum ein Lohnabhängiger schafft, mit seinem Lohn ein wirkliches Vermögen aufzubauen. Laut amtlicher Statistik verfügen 60 Prozent der Deutschen über so gut wie kein Vermögen oder haben sogar ein negatives Vermögen - also Schulden. Das macht klar, dass hier keine Reserven vorhanden sind, um einkommenslose Zeiten mithilfe von Rücklagen selbst zu finanzieren. Die Wenigsten würden wohl ein halbes Jahr ohne Einkommen aus eigener Kraft überleben. Die eine Million Vollzeitbeschäftigten, die unter fünf Euro/Stunde verdienen, sind also nur die Spitze des Eisberges.

Warum verdienen einige Leute wenig und andere noch viel weniger?

Warum zahlen Unternehmen eigentlich so wenig Lohn, dass er nicht zur Vermögensbildung taugt und vielen sogar nur einen Hungerlohn? Die Antwort ist einfach: Weil sie es wollen und können. Ein Lohn ist nicht in Stein gemeißelt, sondern das Resultat des Streits zweier gegensätzlicher Interessen. Ein Unternehmen will viel Leistung zum kleinen Preis. Die Belegschaft hat ungefähr das umgekehrte Interesse. Die Unternehmerseite hat in diesem Konflikt das gewichtige Erpressungsmittel, dass die Leute auf Geld zum Leben angewiesen sind.

Die Arbeiter können versuchen, durch die Drohung mit kollektiver Arbeitsverweigerung den Preis ein wenig in die Höhe zu treiben. Freilich müssen sie dabei das Interesse der Unternehmerseite mit berücksichtigen und sich selbst immer ein Stück bremsen, denn der Reiz für eine Anstellung darf beim "Arbeitgeber" nicht verloren gehen. Jobs mit geringen Qualifizierungkosten, bei denen Arbeiter leicht zu ersetzen sind, haben traditionell ein geringeres Erpressungspotential. Hinzu kommt, dass in diesen Branchen der kollektive Lohnkampf bei den Arbeitern noch unbeliebter ist als eh schon, der Organisierunggrad gering und die Gewerkschaften sehr konstruktiv mit dem Thema Niedriglohn umgehen.

Die Kritiker des Mindestlohns

Während ganze Horden von studierten BWLern den ganzen Tag damit beschäftigt sind, das Verhältnis von Lohn und Leistung zugunsten des Unternehmens zu optimieren, behauptet der Arbeitgeberverband, dass niedrige Löhne vor allem den Beschäftigten nützten, weil sie die Unternehmen andernfalls durch Maschinen oder Standorte im Ausland ersetzen würden. Natürlich darf man so etwas nicht als Erpressung missverstehen. Und natürlich ist überhaupt eine Arbeit zu haben bereits alles, was ein Arbeiter zum Glücklichsein braucht, egal, was er dafür bekommt. Die Süddeutsche Zeitung, in ihrer unnachahmlichen Art, adelt die überhauptige Beschäftigung und macht Unternehmer gar zum warmherzigen Gutmenschen:
"Ein schlecht bezahlter Job ist besser als keiner, weil er die Chance bietet, sich im Arbeitsleben zu halten und dort hoffentlich sogar voranzukommen – das ist das Gegenteil von sozialer Kälte." (SZ vom 31. Oktober 2011)
Auch die Tatsache, dass durch den Einsatz von Technik und moderner Arbeitsorganisation im Unternehmen bei vielen Tätigkeiten ein Arbeiter immer leichter austauschbar wird – eine gute Bedingung, um Löhne zu drücken – wird noch als Wohltat dargestellt. Niedrige Löhne erleichterten Geringqualifizierten, eine Arbeit zu finden und verhinderten Schwarzarbeit. Obwohl die Leute nur wegen des Lohns arbeiten gehen, soll ihnen also ausgerechnet ein niedrigerer Lohn einen größeren Nutzen versprechen. Weil das ja immer noch besser als überhaupt kein Einkommen sei.
Das kann als Lob des Niedriglohns nur derjenige missverstehen, der großzügig die Augen verschließt vor der systembedingten Zwangslage, dass man ohne Geld in einer Marktwirtschaft nicht leben kann, weshalb manchmal Leute sogar darüber froh sind, überhaupt irgendeinen einen Job zu haben. Aber eben aus dieser Not heraus.

Zu guter Letzt wird von den Unternehmern auch gerne noch behauptet, dass man schon sehr gerne sehr viel mehr bezahlen würde, aber das Unternehmen dann leider Leute entlassen müsse. Auch für diese offenkundige Lüge bekommen sie von Teilen der Presse Rückendeckung:
"Die allermeisten Arbeitgeber sind nicht böse. Sie wollen gerne gut zahlen – auch (sic!) weil sie dann gute Leistung bekommen. Sie können es häufig nur nicht, wenn sie die Belegschaft nicht dezimieren wollen." (SZ vom 31.Oktober 2011)
Glaubte man dieses Argument, würde das bedeuten, dass der Gewinn eine Größe sei, die paritätisch in mehr Beschäftigung und mehr Lohn "investiert" werden würde. Jeder möge aus seiner Erfahrung mit diverse Rationalisierungsrunden den Wahrheitsgehalt dieser Aussage prüfen oder den BWL-Berater seines Vertrauens zu Rate ziehen.

Die Befürworter des Mindestlohns

Die Gewerkschaften verlangen zwar nach einem gesetzlichen Mindestlohn. Man sollte ihnen aber nicht durchgehen lassen, dass es sich bei den Löhnen von teilweise unter fünf Euro Stundenlohn um Tariflöhne handelt, unter die sie ihre Unterschrift gesetzt haben. Auch ihnen ist, bei aller Kritik, eine Beschäftigung überhaupt lieber als ein Job, von dem man leben kann. Das nennen sie Pragmatismus. Und die Mindestlöhne, die sie beispielsweise in der Zeitarbeitsbranche durchgesetzt haben, belaufen sich auf 6,89 Euro/Stunde (Ost) und 7,79 Euro/Stunde (West). Der ausgehandelte Mindestlohn im Osten entspricht hier bei einer 40-Stunden-Woche einem Monatslohn von 1.100 Euro - brutto, wohlgemerkt. Eine Summe, die im Grunde für sich spricht.

In der Politik regt sich schon länger Kritik an der staatlichen Subventionierung von Billigarbeit. Es ist davon die Rede, dass der Staat inzwischen elf Milliarden Euro für die Aufstockung von Niedriglöhnen auf Hartz IV-Niveau bezahlt. Als Lösung gilt ein gesetzlicher Mindestlohn. Von den Linksparteien seit langem gefordert, ist nun auch die CDU im Prinzip dafür. Verkauft wird die Sache natürlich als Wohltat für die armen Menschen. Die "Menschenwürde" gebiete einen Lohn, von dem man leben könne, heißt es aus Teilen der CDU. Für die SPD ist so ein Leben am Lohnminimum sogar gleich ein gutes Leben: "Wer gut arbeitet, soll einen guten Lohn erhalten, deshalb Mindestlöhne."

Ein kritisches Fazit

Mindestlohn, das klingt in vielen, auch kritischen Ohren, gut. Aber man sollte nicht vergessen, dass die Debatte um einen Mindestlohn vor allem deshalb aufkommt, weil es bei der Entlohnung seit Jahren nur noch nach unten geht, weil Politik und Wirtschaft einen gewaltigen Niedriglohnsektor geschaffen haben und eine Hartz IV-Sozialhilfe auf Niedrigstniveau, die einen zur Annahme von Billigjobs presst. Die Forderung nach einem Mindestlohn ist aber auch eine Bankrotterklärung für die Gewerkschaften, die keine höheren Tariflöhne durchgesetzt haben. Ob aus Unfähigkeit oder Unwillen, ist an dieser Stelle fast egal.

Auch für das System der Marktwirtschaft ist die aktuelle Debatte eine Bankrotterklärung. Oder soll man es wirklich dem Kapitalismus, dem angeblich besten Versorgungssystem der Menschheitsgeschichte, als Leistung anrechnen, dass nach zirka 250 Jahren seiner Existenz, mit wohl tausenden Prozenten Produktivitätssteigerung seither, in einem der höchstentwickeltsten Länder dieser Welt, Menschen für eine Vollzeitstelle einen Lohn bekommen, von dem sie nicht einmal leben können? Oder eben einen Mindestlohn bekommen sollen, der mal eben so verhindert, dass sie bettelnd auf der Straße leben müsse? Oder einen Lohn, der sie ihr Leben lang von der Hand in den Mund leben lässt und keine nennenswerte Vermögensbildung zulässt? Während der Reichtum in den Händen der Besitzenden – von kleineren Krisendelle abgesehen - von Rekordstand zu Rekordstand steigt? Und die Leute, die täglich zur Arbeit gehen? Sind denn tatsächlich alle so bescheiden geworden, dass sie sich mit einem System zufrieden geben, dass der Mehrheit wohl bis in alle Ewigkeit kaum mehr als ihre nackte und stets ungewisse Existenz zu versprechen vermag?


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