G E I S T E R S T U N D E

Du bist noch wach. Das ist nicht weiter ungewöhnlich, leidest du in den letzten Tagen doch an einer sich langsam weitenden Schlafstörung, die sich allmählich bis in die frühen Morgenstunden dehnt. Du sitzt in deinem Sessel, der in einem gewissen Sinne tatsächlich dein Sessel ist, weil er dein angestammter Platz im Reigen der Wohnzimmersitzmöbel ist. Deine Frau liegt meist schon früh schlafend auf dem Sofa, die Füße gekreuzt, sodass du gebannt auf ihre Knöchel starrst, die dich an Sandkuchen erinnern. Du streichst mit dem Daumen über die Fernbedienung, sacht, um nicht doch einmal aus einem Versehen heraus, einer unbedachten Bewegung von Daumen oder Zeigefinger, den Programmplatz zu wechseln. So etwas könnte fatale Folgen haben. Du weißt dies wohl. Deine Frau könnte wach werden, sich die Augen reiben und sich früher ins Bett verabschieden. Du willst derlei vermeiden. Du willst deinen Blick auf ihre Fußknöchel wahren und schützen. Ihre Knöchel, diese wie aus Förmchen gefallenen Erhebungen, erregen dich auf eine seltsame Art und Weise, die selbst dich verwirrt. Du kannst die sexuelle Attraktion, die darin liegen muss, nicht deuten, du spürst ihre Anwesenheit aber deutlich durch die Ausbeulung in deiner Hose. Hin und wieder bist du auch schon auf der Gästetoilette verschwunden, du hast dich von ihr wie von einer Sexkabine schlucken lassen. Du hast im Dunkeln gehockt, die Erinnerung an die Knöchel abfackelnd, während deine rechte Hand rasch die Lust aus dir abpumpte. Du hast dich nach dem Toilettenpapier gebeugt, einige Streifen abgerissen, alles im Dunkel, es war umständlich und peinlich und langwierig, aber nie hast du das Licht angeschaltet, als würde die Anwesenheit der elektrischen Erhellung die Sache ins rechte und für dich aufdeckende Licht setzen. Die Hosen noch um die Beine hängend, bist du dann aufgestanden. Du hast dich erst jetzt am Lichtschalter vergangen. Es werde Licht. Du hast dich wieder auf die Brille gehockt, durch deren unsichtbare Gläser man nur immer den eigenen Unrat sieht, hast letzte Säuberungen an dir vorgenommen, nur um dann doch noch auf einen Urinstrahl zu hoffen, der sich, Gott liebt die Anständigen, dann auch immer einstellte, tröpfchenweise, aber man will in solchen Momenten ja auch nicht zu viel von seinem Schöpfer erwarten. Du bist dann wieder ins Wohnzimmer zurück. Manchmal war deine Frau schon fort, hinauf ins gemeinsame Schlafzimmer, aber meist schlief sie noch ihren sündigen Schlaf, der Dämonen ausschied, von denen sie nichts wusste.
In diesem Moment befindet sie sich bereits in ihrer Betthälfte, denn alles in diesem Haushalt hat seine ihm übertragene Funktion und darf unter keinen Umständen entweiht werden. Die linke Betthälfte gehört deiner Frau, du mochtest schon seit Kindertagen mehr die rechten Flecken. Der Frühstückstisch ist in Parzellen unterteilt, in Ländereien für Wurst und Käse, Landstriche die dem Kaffee und dem heißen Wasser für Tee vorbehalten sind. Alles ist vermessen und abgesteckt. Diese Ehe ist kein Neuland.
Du befragst den Fernseher, um dich zeitlich zu orientieren. Die Spätnachrichten flimmern. Es muss irgendwann nach Zwölf sein. Du versuchst die genaue Minutenzahl zu erahnen, reibst wie ein Geldverleiher den Daumen über den Zeigefinger, während die Bilder dir vom Grauen in einem fernen Land berichten. Dir ist das egal. Du würdest nie Urlaub in diesem Land machen. Schon der Menschenschlag, ihre Hauttönung, einfach alles an ihnen, schlägt dich in die Flucht. Du siehst in ihren Augen Schlangengruben. Die wurden zum Töten geboren, denkst du. Und bewiesen haben sie es ja auch schon. Vielleicht nicht direkt die da, aber andere, die ebenso aussehen. Die Weltpolitik verwirrt dich. Trotzdem hast du deine Meinungen zu den Dingen. Und nicht nur zu einzelnen Dingen, sondern zu allen Dingen. Das ist schon allerhand.
Da du die Müdigkeit, diese Vorahnung kommenden Schlafs, weder spüren noch im Zimmer schwirren sehen kannst, galoppiert deine Zeigefinger rasch über die verschiedenen Programmplätze: Brüste, größere Brüste, schwimmende Fische, ein vom Teufel besessenes Mädchen, Fische mit großen Brüsten, ein Teufel in Frauenkleidern, eine Autoverfolgungsjagd, dann noch einmal Brüste, die gerade von einem Skalpell geöffnet werden. Du belässt es bei der Schönheitsoperation. Du siehst eine Weile zu.
So eine Brust ist nichts, denkst du. Nur Fett, Fett und nochmals Fett.
Trotzdem lauscht du den Worten der Frau. Sie fühle sich nun als eine bessere Frau, sagt sie. Sie sei nun mehr Frau. Sie fühle sich attraktiver.
Du schüttelst den Kopf. Du hast den Glauben an die Welt verloren.
Du schaltest den Fernseher aus, legst noch die Fernsehzeitschrift in die Schublade des kleinen Beistelltisches. Dann schlurfst du hinaus, nicht ohne das Licht mit einer gekonnten Bewegung der linken Hand auszuknipsen. Du steigst die Treppenstufen nach oben. Gehst ins Badezimmer, um dir dort die Zähne zu putzen. Du bist sehr penibel in diesen Dingen. Du schrubbst deine Zähne exakt drei Minuten, keine Sekunde kürzer, keine Sekunde länger, denn die Zeiteinteilungen machen ja nachher das aus, was wir Leben nennen. Das hast du deiner Frau schon öfter erklärt. Sie akzeptiert diesen Unsinn, weil sie sich nicht auf Diskussionen einlassen will. Sie ist zwar klüger, muss diese Tatsache aber nicht beständig unter Beweis stellen.
Du orientierst dich beim Zähneputzen anhand einer auf dem Fenstersims abgestellten Digitaluhr. Du lässt sie dort stehen.
Es ist 0.45 Uhr. Das große Wunder des Zeitverlusts schenkt der Uhrzeit eine Minute. Welch ein Paradox, denkst du. Punkt 0.46 beginnst du mit der Reinigung deines Gebisses. Du empfindest das Fahren über die Zähne wie ein Ankämpfen gegen den Tod. Man putzt gegen den Verfall an. Nach dreißig Sekunden positionierst du dich neu im Mundraum. Du schließt die Augen. Dreißig Sekunden können eine Ewigkeit sein. Du denkst an den morgigen Tag. An deine Kollegen. Leichte Übelkeit arbeitet sich vom Hals in den Mund. Du hältst inne. Wartest. Nichts. Du putzt weiter, als ob nichts gewesen wäre. Nach drei Minuten ist das erste Geschäft eines bereits neuen Tages absolviert. Du greifst nach deinem Schlafanzug, einem dunkelblauen flauschigen Ungetüm, das deine Frau bereits vor Stunden auf dem Heizkörper deponierte. Du freust dich nicht darüber. Du nimmst es als eine Selbstverständlichkeit hin, denn dieses Haus wurde auf eben diesem Grundsatz erbaut. Eine gute Ehe kann nicht beständig nach dem Woher fragen, denn dann kommt sie nicht von der Stelle. Du bist zutiefst von dieser Wahrheit überzeugt. Du kannst dich nur nicht mehr erinnern, woher sie stammt.
Du schlüpfst aus dem Bad, stiehlst dich ins Schlafzimmer, unter die Bettdecke. Ruhe. Du horchst auf die unsystematischen Atemzüge deiner Frau. Manchmal kann man den Eindruck gewinnen, sie verlöre sich in einer Art von Atemstillstand. Ob du dann an ihr rütteln würdest? Du kannst diese Frage nicht genau beantworten, denn würde sie nur schlafen und du hättest sie dann geweckt, wäre Schmach, Schimpf und Schande groß, denn auf diese Geschwister versteht sich deine Frau gut, sie würde dich mit Wortunrat überschütten, denn du nur bedingt wieder abwaschen könntest. Also würdest du wohl ihren Tod in Kauf nehmen.
Du denkst darüber nach und bewegst bejahend den Kopf. Dann drehst du dich um. Ein letzter Blick auf das Leuchtziffernblatt der Nachttischuhr verweist dich auf die Ausgangskurve der Geisterstunde.
Es ist 0.59 Uhr. Du schläfst noch nicht.



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