FRISCH VERLIEBT INS NEUE JAHR

Vicky bekommt eine Einladung zum Silvesterball – von einem Mann, für den sie schon als Schulmädchen schwärmte. Sie soll ihren Freund mitbringen. Dumm nur, dass sie keinen hat …

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Es war der 28. Dezember. Viktoria Beck ging in Gedanken versunken durch die Fussgängerzone, die immer noch weihnachtlich geschmückt war. Fröstelnd zog sie sich die Kapuze über den Kopf und vergrub die Hände in den Taschen ihres Parkas. Es war traurig gewesen, am Heiligabend allein zu sein. Bang fragte sie sich, wie es wohl zu Silvester sein würde …

Eigentlich hatte sie die Ferien bei ihrer Mutter in München verbringen wollen, aber kurz vor Weihnachten hatte ihre Mutter angerufen und glücklich erzählt, sie würde mit Herrmann, dem neuen Mann in ihrem Leben, nach Marokko fliegen, nach Marrakesch. Ob Vicky mitkommen wolle? Nein, Vicky hatte sich nicht aufdrängen wollen. Obwohl sie wusste, dass keiner ihrer Freunde über die Weihnachtstage in Göttingen sein würde, hatte sie ihrer Mutter versichert, dass sie lieber hierbleiben würde. Darauf war per Eilzustellung ihr Weihnachtsgeschenk eingetroffen: ein dicker Zopfpullover.

Ihr Vater, der in Amerika lebte, hatte auch etwas geschickt: einen grosszügigen Scheck. Aber beide Geschenke konnten Vicky nicht darüber hinwegtrösten, dass sie seit der Scheidung ihrer Eltern kein anderes Zuhause mehr hatte als eine winzig kleine Wohnung unterm Dach.

Vicky sah zu den bunten Lichterketten hoch, lachte auf und schüttelte über sich selbst den Kopf. Schluss mit dem Selbstmitleid, befahl sie sich. Du bist 21 Jahre alt und solltest dich endlich mit den Tatsachen abfinden.

Plötzlich prallte sie so heftig gegen ein Hindernis, dass ihre Kapuze herunterrutschte.

Kräftige Hände hielten sie fest, und eine Männerstimme rief gespielt empört: “Sie hätten mich ja beinahe über den Haufen gerannt!”

Vicky entschuldigte sich und strich sich das Haar aus der Stirn. Als sie den Mann erkannte, schoss ihr das Blut in die Wangen: “Holger, ja, bist … bist du denn wieder hier?”

Holger Klimt runzelte ratlos die Augenbrauen, und sie erklärte rasch: “Ich bin Vicky. Vicky Beck! Wir haben mal nebeneinander gewohnt.”

Verlegen fügte sie hinzu: “Es ist allerdings schon ein paar Jahre her …”

Endlich schien er sie zu erkennen und fing schallend an zu lachen: “Die kleine Vicky von nebenan! Donnerwetter, hast du dich aber gemausert!”

Sie fühlte sich geschmeichelt, aber zugleich auch irgendwie befangen: “Wir haben uns seit über sechs Jahren nicht gesehen …”

“So lange ist das schon her?” wunderte sich Holger. “Bist du sicher?”

Natürlich war sie sicher! Schliesslich war kaum ein Tag vergangen, an dem sie nicht an Holger Klimt gedacht hatte. Sie erinnerte sich genau daran, wie die Klemts ins Nachbarhaus gezogen waren. Gleich, als sie Holger zum ersten Mal sah, hatte sie sich unsterblich in ihn verliebt. Leider hatte er sie immer wie ein kleines Mädchen behandelt. Kein Wunder, er war ja auch zehn Jahre älter als sie und studierte damals in Freiburg. Wenn Holger in den Semesterferien nach Hause kam, brachte er fast immer ein hübsches Mädchen mit. Er winkte Vicky über den Gartenzaun zu, ohne zu ahnen, welche Seelenqualen sie beim Anblick seiner attraktiven Freundinnen ausstand. Als Holger dann sein Studium beendet hatte, war er ins Ausland gegangen, und sie hatte ihn nicht wiedergesehen.

Er schmunzelte: “Es ist kalt. Wollen wir uns nicht dort ins Café setzen?”

Selig folgte sie ihm. Er bestellte Kaffee und Kuchen für sie beide, und ihr wurde schnell wohlig warm. Was natürlich nicht nur vom Kaffee kam.

“Wie geht es denn deinen Eltern?” erkundigte er sich. “Ich weiss von meinen alten Herrschaften, dass sie sich haben scheiden lassen. Und euer Haus ist auch verkauft worden.”

“Ja, das war vor zwei Jahren. Mein Vater lebt jetzt in Amerika und meine Mutter in München.”

“Und du bist hier in Göttingen geblieben?”

“Wegen des Studiums”, nickte sie. “Ich studiere Geschichte.” Das war allerdings nur die halbe Wahrheit. Ihre grösste Antriebsfeder war die Hoffnung gewesen, Holger irgendwann wiederzusehen. Wie oft war sie an seinem Elternhaus vorbeispaziert! Aber niemals hatte sie den Mut gehabt, bei seinen Eltern zu klingeln und sie nach Holger zu fragen. Und jetzt war er wie ein verspätetes Weihnachtsgeschenk in ihr Leben geschneit. Ob das ein gutes Omen war?

“Ich kann’s einfach nicht fassen, wie hübsch du geworden bist”, staunte Holger wieder. Er beugte sich vor und sah ihr tief in die Augen: “Hast du Silvester schon etwas vor? Ich verlobe mich nämlich, und meine zukünftigen Schwiegereltern geben einen Ball in ihrer herrschaftlichen Jugendstilvilla.” Bei dem Wort “herrschaftlich” zog er eine Grimasse und blinzelte ihr spitzbübisch zu. “Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn du kommen könntest. Ich nehme an, dass du einen Freund hast? Bring ihn doch einfach mit!”

Vicky wurde ganz schwindelig. Zuerst hatte sie sich gefühlt, als würden ihr Flügel wachsen, und gleich darauf, als hätte jemand einen Kübel eiskaltes Wasser über sie geschüttet. Es gelang ihr jedoch, lächelnd zu sagen: “Du verlobst dich? Wie schön für dich! Natürlich komme ich gern. Und … und ich bringe jemanden mit.”

Wen, das wusste Vicky zwar noch nicht, aber darüber konnte sie später immer noch nachdenken. Allein auf diesem Fest erscheinen wollte sie auf keinen Fall. Holger brauchte nicht zu wissen, dass ihr Herz die ganzen Jahre nur ihm gehört hatte.

Er schrieb die Adresse auf einen Notizblock, riss die Seite heraus und reichte sie ihr: “Bitte um zwanzig Uhr da sein. Und nichts vorher essen, es gibt ein wunderbares kaltes Büfett.”

Ein bisschen ungeduldig, wie es ihr schien, wartete Holger, bis sie den Kuchen gegessen und den Kaffee getrunken hatte, dann winkte er dem Kellner: “Ich hätte viel lieber noch ein bisschen hier mit dir zusammengesessen, aber ich muss jetzt los, um Ariane von der Anprobe abzuholen”, entschuldigte er sich. “Apropos Kleidung: Abendgarderobe ist erwünscht. Langes Kleid für die Damen und Smoking beziehungsweiser dunkler Anzug für die Herren. Arianes Familie ist wahnsinnig vornehm.”

Auf der Strasse winkte er ihr noch einmal zu und lief dann mit langen Schritten davon. Jetzt bereute Vicky ihr voreilige Zusage beinahe. Es würde weh tun, miterleben zu müssen, wie Holger sich verlobte. Ausserdem hatte sie weder ein Abendkleid noch einen Freund. Andererseits, so überlegte sie, war es die beste Gelegenheit, Abschied von ihren Jungmädchenträumen zu nehmen und Holger endlich zu vergessen. Sie atmete tief durch und beschloss, das Fest ganz einfach zu geniessen und sich zu freuen, dass sie Silvester nicht allein war – und dass Holger sein Glück gefunden hatte.

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Am nächsten Morgen kaufte sich Vicky beim Bäcker zwei Brötchen und eine Tageszeitung. Sie frühstückte in aller Ruhe und las dabei die neusten Nachrichten. Als sie den Annoncenteil aufschlug, fiel ihr Blick zufällig auf die Rubrik “Verschiedenes”. Da stand: “Student erledigt (fast) jede Arbeit”, gefolgt von einer Telefonnummer.

Wenn das nicht ein Wink des Schicksals war! Vicky überlegte nur kurz, dann griff sie zum Telefon und tippte die Nummer ein. Es wurde rasch abgehoben: “Nils Eckardt, ja bitte?”

Vicky versuchte, ihre Stimme geschäftsmässig und seriös klingen zu lassen: “Hier Viktoria Beck. Ich habe Ihre Annonce gelesen, und ich hätte einen Job für Sie.”

“Warum handelt es sich? Bodenentrümpelung? Babysitting? Chauffeurdienste? Nachhilfeunterricht?” Die Stimme klang nett.

“Etwas ganz anderes. Ich … ich suche einen Begleiter für einen Silvesterball.” Jetzt war es heraus.

“Klar, so etwas mache ich auch”, erklärte er zu ihrer Erleichterung sofort.

“Natürlich in allen Ehren”, fügte sie hastig hinzu. Gut, dass er ihr knallrotes Gesicht nicht sehen konnte.

“Natürlich.”

“Besitzen Sie einen Smoking oder einen dunklen Anzug?” erkundigte sich Vicky. “Es ist nämlich Abendgarderobe erwünscht.”

“Ich habe keins von beiden. Aber man kann sich ja alles leihen. Das ginge allerdings auf Ihre Kosten.”

“Selbstverständlich”, beruhigte ihn Vicky und erkundigte sich nach dem Stundenhonorar. Sie war heilfroh, dass er keine astronomische Summe nannte. So konnte sie ihren “Begleiter” wunderbar vom Weihnachtsgeld ihres Vaters bezahlen. “Die Silvesterfeier fängt um acht Uhr an, und ich schätze, dass wir so bis 2 Uhr früh bleiben. Wo wollen wir uns treffen?”

“Ich hole Sie ab. Allerdings habe ich nur eine kleines, altes Auto, aber es fährt. Ist das in Ordnung?”

“Okay”, lachte Vicky und gab ihm ihre Adresse. Dann fuhr sie in die Stadt und fragte in einem Secondhand-Shop nach einem Abendkleid.

“Wie wär’s damit?” Die nette Besitzerin der Boutike hielt ein bodenlanges rotes Kleid hoch, in das Vicky sich auf den ersten Blick verliebte. Als sie aus der Umkleidekabine kam und sich vor dem Spiegel drehte, erkannte sie sich selbst kaum wieder. Das Kleid sass wie massgeschneidert. Es hatte ein eng anliegendes, figurbetontes Büstenteil mit schmalen Trägern und einer aufgenähten Rosette. Darunter bauschte sich weich der Rock. Die Farbe des seidig schimmernden Stoffes schmeichelte ihrem klaren Teint und brachte ihre blauen Augen und ihre dunklen Haare wunderbar zur Geltung.

Die Ladenbesitzerin war genau so angetan wie ihre Kundin. Sie holte eine farblich passende Plüschstola und legte sie um Vickys Schultern: “Die berechne ich Ihnen nicht. Sie sehen aus wie eine Prinzessein!”

Vicky war selig. Im Schuhgeschäft nebenan erstand sie ein paar goldene Sandaletten mit hohen Absätzen. Der Scheck ihres Vaters reichte auch dafür.

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Den ganzen 31. Dezember war Vicky so aufgeregt wie noch nie in ihrem Leben. Freude auf das Fest und Kummer, Holger endgültig an eine andere Frau verloren zu haben, wechselten einander ab. Und wenn sie an ihren “Mietmann” dachte, musste sie regelrechte Anfälle von Panik niederkämpfen. Würden sie sich verstehen? Und einigermassen zueinander passen? Sie hatte ihn nicht einmal nach seinem Aussehen, geschweige denn seiner Grösse gefragt. Was würde sie machen, wenn er ein Zwerg war?

Punkt halb acht Abends sass sie fertig angezogen auf ihrem Sofa. Wie bestellt und nicht abgeholt, dachte sie und kicherte nervös. Draussen auf der Strasse explodierten ein paar Knallfrösche, und als gleich darauf die Klingel schellte, schreckte Vicky zusammen. Mit zitternden Händen schnappte sie sich ihr Abendtäschchen – auch eine Neuanschaffung – und hastete die Treppe hinunter.

Ein gutaussehender junger Mann in einem tadellos sitzenden dunklen Anzug streckte ihr die Hand entgegen: “Nils Eckardt. Guten Abend, Frau Beck.” Er führte sie zu seinem bescheidenen Auto und hielt ihr galant die Tür auf: “Wohin soll’s denn gehen?”

Als sie ihm die Adresse in einem Nobelviertel nannte, grinste er: “Dann wird’s wohl besser sein, ich parke mein mickriges kleines Auto etwas abseits.”

Während der Fahrt zerbrach sich Nils Eckhardt den Kopf, aus welchem Grund sich diese bezaubernde junge Frau einen Begleiter mietete. Aber schliesslich, was ging ihn das an? Er machte einen Job, und das Geld brauchte er dringend.

“Wollen wir uns siezen oder duzen?” fragte er.

“Duzen wäre besser. Sie … du bist sozusagen mein Freund.”

Er parkte sein Auto wie versprochen etwas vom Haus entfernt, und sie gingen das kleine Stück bis zur hell erleuchteten Villa zurück. In der Auffahrt reihten sich die Nobelkarossen aneinander. Ein Diener in Livrée empfing sie, nahm Vicky die Plüschstola ab und hängte sie in einen Garderobenraum zu den kostbaren Pelzen und Kaschmirmänteln. Nils brauchte nichts abzulegen. Er trug nur seinen Leihanzug und bemühte sich, so auszusehen, als sei ihm nicht kalt.

Eine Art Empfangschef, der auf Vicky eher wie ein Oberkellner wirkte, begleitete sie durch das Entree der Villa bis zu einem Saal, in dem der Ball stattfinden sollte. Prunkvolle Kronleuchter hingen von der hohen, reichverzierten Stuckdecke herab und liessen das Parkett in warmen Tönen schimmern. An der Stirnseite war ein reichhaltiges Büfett aufgebaut. Festlich gekleidete Gäste unterhielten sich miteinander, während die Kapelle leise die Instrumente stimmte.

Holger – im Smoking – kam ihnen entgegen, um sie zu begrüssen. Er nahm zwei Gläser Champagner vom Tablett eines Serviermädchens, reichte sie ihnen und lächelte Vicky zu: “Wie schön, dass du gekommen bist, Vicky. Und das ist …?”

“Nils Eckardt”, stellte sich Nils vor. “Vielen Dank für die Einladung, Herr Klimt.”

Holger drückte kurz die dargebotene Hand und fragte: “Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Ihnen Vicky für einen Augenblick entführe?”

“Natürlich nicht.” Nils sah den beiden nach und spürte seltsamerweise so etwas wie einen Stich von Eifersucht – und Besorgnis. Dieser Mann gefiel ihm nicht.

Holger öffnete jetzt eine der Flügeltüren und führte Vicky auf die Terrasse hinaus. “Prächtig, nicht wahr?” sagte er und deutete auf den Park. “Mein künftiger Schwiegerpapa ist Unternehmer und sehr wohlhabend.”

“Wo ist denn deine Verlobte?” fragte Vicky und rieb sich verstohlen die Arme, weil ihr lausig kalt war.

“Ariane macht sich schön. das dauert bei ihr verflixt lange. Ausserdem liebt sie Starauftritte. Sie erscheint immer erst, wenn alle Gäste da sind.”

Er sah sie so intensiv an, dass Vicky das Blut in die Wangen stieg. Plötzlich gestand er: “Das Leben spielt einem manchmal seltsam mit. Als ich dich wiedersah, wurde mir klar, dass ich dich liebe, Vicky!”

Ihr Herz klopfte jetzt zum Zerspringen. “Ich … ich liebe dich auch, Holger”, stammelte sie. “Schon so lange. Aber du … du wirst dich verloben!”

“Am liebsten würde ich mit dir auf und davon gehen. Leider ist das unmöglich. Ariane oder vielmehr ihr Vater sind wichtig für meine berufliche Zukunft. Aber du willst doch auch, dass wir uns wiedersehen? Du lässt mich nicht im Stich? Ich brauche dich so sehr, geliebte, kleine Vicky!”

Jemand trat auf die Terrasse: “Vicky, bist du hier?” fragte Nils.

Holger raunte: “Schick ihn fort!”

“Herr Klimt, Sie werden drinnen gewünscht. Ihre Verlobte sucht Sie”, fuhr Nils ungerührt fort.

“Ich muss rein, verdammt”, fluchte Holger.

Kopfschüttelnd sah Nils ihm nach und legte Vicky ihre Stola um: “Du musst dich ja zu Tode frieren.”

“Danke, Nils”, murmelte sie und hätte am liebsten geweint.

“Nichts zu danken, das gehört zum Service”, erwiderte er betont gleichgültig. Dabei hätte er sie viel lieber gefragt, was sich hier abgespielt hatte und was dieser Holger Klimt ihr bedeutete. Er wollte ihr raten, die Finger von ihm zu lassen. Aber dafür kannten sie sich wohl nicht gut genug.

Als sie den Saal wieder betraten, fiel ihnen eine junge Frau in einer kostbaren Abendrobe auf. “Das muss Ariane sein. Sie ist unglaublich schön und elegant”, flüsterte Vicky Nils zu.

“Ja, aber ihr Gesicht ist kalt wie Eis”, flüsterte Nils zurück.

Der ältere, vornehme Herr an ihrer Seite hielt jetzt eine Ansprache, hiess die Gäste willkommen und gab die Verlobung seiner Tochter mit Herrn Holger Klimt bekannt. Alle klatschten Beifall und gratulierten. Die Kapelle spielte einen Walzer. Holger ergriff Arianes Hand, an der ein beeindruckender Brillantring funkelte, und führte seine Braut zum Tanz.

Vicky fühlte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten und schimpfte mit sich selbst. Was hatte sie denn erwartet? Dass Holger seine Absicht änderte und verkündete, er könne sich nicht mit Ariane verloben, weil sein Herz einer anderen gehörte? Und das im Haus seiner Schwiegereltern? Oder dass er sie einfach entführen würde?

Nichts dergleichen war geschehen. Holger wirkte beherrscht, ja verliebt. Als hätte es die heissen Liebesschwüre auf der Terrasse nicht gegeben.

Nils berührte sanft ihren Arm: “Möchtest du tanzen?”

Vicky nickte und liess sich auf die Tanzfläche führen.

“Autsch”, zischte sie, nachdem Nils ihr zum dritten Mal auf die Füsse getreten war.

“Tut mir leid”, entschuldigte er sich. “Normalerweise tanze ich besser. Es liegt wohl daran, dass du mit deinen Gedanken ganz woanders bist.”

Da war es um ihre Fassung geschehen. Sie löste sich von Nils, drehte sich um und lief hinaus. Wie dumm sie gewesen war. Sie hätte niemals hierherkommen dürfen!

Ihre hochhackigen Sandaletten klapperten auf dem Pflaster. Die eisige Luft verschlug ihr fast den Atem. Sie hörte eilige Schritte hinter sich – und dann fühlte sie die warme Plüschstola auf ihren Schultern. Einen unsinnigen Moment hoffte sie, es wäre Holger. Aber es war Nils, der behutsam fragte: “Wie wär’s, wenn du mir alles erzählen würdest?”

“Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht”, erwiderte sie verzweifelt.

“Wenn Sie trotzdem meine Meinung möchten: Dieser Holger ist keine einzige Ihrer Tränen wert. Ich halte ihn für einen knallharten Mitgiftjäger!”

Tief in ihrem Inneren wusste Vicky, dass Nils recht hatte. Sie wusste auch, dass Holger sie nie heiraten würde. Nur fürs Bett wollte er sie haben. Trotzdem schmerzte es ungeheuer, sich diese Liebe aus dem Herzen zu reissen. Sie ging schneller, aber Nils blieb an ihrer Seite. Bis sie stehenblieb und fauchte: “Ich brauche Sie nicht mehr!”

“Ich Sie aber.”

“Ach ja, klar”, brachte sie kleinlaut heraus. “Ihr Geld. Selbstverständlich bezahle ich Sie bis zwei Uhr. Plus Anfahrt und Leihgebür für den Anzug. Wieviel macht das?”

Sie öffnete ihre Handtasche, aber Nils hielt ihre Hand fest: “Ich möchte keine Bezahlung. Und der Job ist für mich vorbei. Ich hoffe nur, dass ich immer noch dein Freund bin. Und deshalb frage ich dich, ob du Silvester mit mir feiern möchtest? Ich würde mich sehr darüber freuen, Vicky.”

“Und wo?” lachte sie bitter auf und sah zum Himmer empor, an dem selbst die Sterne zu frieren schienen.

“Ich kenne einen Ort”, schmunzelte er. “Aber renn um Gottes Willen nicht mehr weiter. Das Auto steht nämlich in der entgegengesetzten Richtung!”

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Etwas später hielt er vor einem kleinen Reihenhaus und half Vicky beim Aussteigen. Im Vorgarten waren die Rosen gegen die Winterkälte sorgfältig mit Stroh abgedeckt. Nils schloss die Haustür auf und machte Licht im Flur. Dann führte er Vicky in ein behaglich eingerichtetes Wohnzimmer, drückte sie aufs Sofa und bat: “Einen Moment.”

Sie sah ihm zu, wie er die Kerzen am Tannenbaum anzündete. Als nächstes verschwand er in der Küche und kam mit einer Flasche Sekt zurück. Er füllte die beiden Gläser, die bereits auf dem Tisch standen, reichte eines Vicky und prostete ihr zu.

Sie trank es fast in einem Zug leer und bekam einen gehörigen Schluckauf. Beide mussten plötzlich lachen – und Vicky fühlte sich zu ihrem Erstaunen schon sehr viel wohler. “Wem gehört denn dieses hübsche Haus?” fragte sie.

“Meiner lieben Oma Kathy. Sie ist über Silvester bei einer ihrer Freundinnen und hat mir den Schlüssel gegeben, damit ich hier feiern kann.”

“Und wieso standen so passend zwei Gläser da?” neckte sie ihn.

“Man weiss ja nie, ob man nicht in der Silvesternacht der Frau seines Lebens begegnet”, erwiderte er ernst.

Es war Gongschlag Mitternacht, und alle Glocken begannen zu läuten. Raketen schossen zischend in die Luft und entfalteten am Himmel ein farbenprächtiges Feuerwerk. Vicky dachte kurz an Holger – und registrierte erstaunt, dass es nicht mehr weh tat.

Nils füllte die Sektgläser nach. “Prost Neujahr, Viktoria”, sagte er und schaute sie liebevoll an.

Da war ihr, als sähe sie zum ersten Mal sein sympathisches Gesicht, seine warmen braunen Augen mit den verschmitzten Lachfältchen in den Winkeln und seinen gutgezeichneten Mund.

Er ging zum CD-Player und legte einen Walzer auf, dann öffnete er seine Arme und zog Vicky fest an sich. Diesmal tanzten sie in vollkommenen Einklang miteinander. Vicky fand es wunderbar, seinen Herzschlag so nah an dem ihren zu spüren.

“Prost Neujahr, Nils”, lächelte sie glücklich und öffnete ihre Lippen zum allerersten Kuss im neuen Jahr …

ENDE

P.S. Diese Geschichte ist neu auf dem Blog. Auch euch wünsche ich eine schöne Silvesterfeier und ein gutes und gesundes Jahr 2011!


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