EINE ROSE IM SCHNEE

Nach zehn Jahren sehen sich die Jugendfreunde Justus und Vinzenz in Berlin wieder. Justus ist Verleger in New-York geworden, Vinzenz hat drei Bücher geschrieben und Anna geheiratet. Am Flughafen verliebt sich Justus auf den ersten Blick unsterblich in Anna …

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Justus ging die Treppe hinunter, die von der Fluggastbrücke in die Wartehalle führte, und plötzlich sah er die Frau seines Lebens: Sie hatte herrliches Haar und dunkle Augen, ein schönes, ovales Gesicht und ein wunderbares, ruhiges Lächeln auf den Lippen. Jetzt trafen sich ihre Blicke, und er glaubte, auch in ihren Augen ein jähes Erkennen aufblitzen zu sehen, aber gleich darauf wandte sie sich dem Mann zu, der mit einer Zeitung in der Hand, die er gerade gekauft haben musste, an ihre Seite trat, den freien Arm um ihre Schulter legte und ihm, Justus, fröhlich mit der Zeitung zuwinkte.

Justus war wie versteinert: Der Mann war Vinzenz, sein bester Freund, fast sein Bruder.

“Da bist du ja endlich!” rief Vinzenz aus, als Justus vor ihnen stand. Er umarmte ihn und stellte dann vor: “Anna, das ist Justus. Justus, das ist meine Frau Anna. Endlich lernt ihr euch kennen!”

Wenig später fuhren sie in Vinzenz Wagen in die Stadt. Anna sass am Steuer, die beiden Männer erzählten ihr, wie es früher war, in ihrer gemeinsam verbrachten Kindheit mit den gemeinsam ausgeheckten Streichen und den wilden Spielen in ihren Schul- und Studienjahren, die sie zusammen verbracht hatten. Dann assen sie in Vinzenz’ und Annas schönem Haus zu Abend. Anna stellte Fragen, hörte lächelnd zu und vermied es, Justus anzusehen.

“Wir waren unzertrennlich”, erinnerte sich Vinzenz. “Es ist eigentlich unglaublich, dass wir uns jetzt fast zehn Jahre nicht gesehen haben!”

In den zehn Jahren war viel und Entscheidendes passiert: Justus, der eine amerikanische Mutter hatte, war nach New-York gegangen und hatte dort einen Verlag gegründet. Vinzenz war nach Berlin gezogen, hatte drei vielversprechende Bücher geschrieben und Anna geheiratet. Justus war nicht nur gekommen, um seinen besten Freund zu besuchen und Anna kennenzulernen, sondern auch, um ihn zu bewegen, seine Bücher ins Amerikanische übersetzen zu lassen. Er wollte sie in seinem Verlag herausbringen.

“Nun, wie gefällt dir mein bester Freund?” fragte Vinzenz später und umschlang Anna, die nackt aus der Dusche kam, zärtlich mit beiden Armen.

“Vinzenz, du wirst ganz nass”, protestierte sie.

“Ich liebe dich”, seufzte er und vergrub sein Gesicht an ihrem Hals.

“Ich liebe dich auch, Vinzenz. Ich liebe dich, wie ich nie einen Mann geliebt habe.” Es war die Wahrheit.

Vinzenz nahm das Badetuch und wickelte sie zärtlich darin ein, während das altbekannte Gefühl der Ohnmacht wieder in ihm aufstieg. Wie gern hätte er sie hochgehoben und bis zum Bett getragen, wie es ein “ganzer Kerl” machen würde, aber er war nicht mehr “ganz”. Dieser verfluchte Knochenkrebs, diese verfluchte Beinprothese! Und diese Schmerzen, die in letzter Zeit wieder kamen, und von denen er Anna nichts sagte, um sie nicht zu beunruhigen. Und weil er alles von ihr wollte, nur kein Mitleid …

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“Willkommen in New-York, Anna”, sagte Justus. “Hatten Sie einen guten Flug?”

“Wunderbar”, erwiderte sie. “Ich bin nur traurig, dass Vinzenz nicht mitgekommen ist. Er wollte immer so gern New-York kennenlernen, aber er arbeitet an seinem neuen Buch, und wenn Vinzenz schreibt, schottet er sich völlig ab.”

“Das war immer so. Wenn er sich konzentriert, vergisst er alles andere.”

Mit der einen Hand griff er nach ihrem Koffer, mit der anderen berührte er leicht ihren Ellenbogen, um sie zum Ausgang zu führen. Und überfallartig war dieses Gefühl, das er besiegt zu haben glaubte, wieder da. Das Gefühl, mit der Frau zusammenzusein, auf die er immer gewartet hatte. Warum musste Anna die Frau seines besten Freundes sein! Plötzlich war er zornig auf Vinzenz. Was fiel ihm ein, ihm Anna zu schicken, um die Einzelheiten des Vertrages mit ihr zu besprechen? Die Frage war nicht, ob Anna die nötige Kompetenz hatte, die hatte sie unbedingt. Die Frage war, ob Vinzenz entgangen war, welch ein Feuer Anna in ihm entfacht hatte. Als er vor zwei Monaten in Berlin gewesen war, hatte Justus sehr wohl gemerkt, dass Vinzenz’ Augen mehr als einmal zwischen Anna und ihm hin und her gegangen waren. Vinzenz war immer klarsichtig gewesen, hatte immer einen scharfen Verstand gehabt. Was spielte er für ein Spiel? War ihm sein neues Buch wirklich wichtiger als Anna, die er mehr liebte als sein Leben, wie er sagte?

Justus brachte Anna zu ihrem Hotel: “Schlafen Sie gut, Anna. Morgen wird’s anstrengend! Ich schicke Ihnen um halb neun den Wagen, der Sie in den Verlag bringt.”

Sie lächelte ihm zu: “Gute Nacht, Justus, und danke, dass Sie mich abgeholt haben.”

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Anna hoffte, dass man ihr nicht ansah, wie wenig sie geschlafen hatte, als sie von der Sekretärin in Justus’ geräumiges Büro geführt wurde. Justus ging ihr entgegen. Er war grösser als Vinzenz und sein Körper war sportlich durchtrainiert. Anna zwang sich, nicht die Augen abzuwenden, sie sagte nur rasch: “Lassen Sie uns anfangen, ja?”

Sie arbeiteten bis halb eins, indem sie Punkt für Punkt den Vertrag durchgingen. Vinzenz’ Bücher sollten in einem Abstand von zwei Jahren herauskommen, es war von dem Übersetzer die Rede, dem Honorar und der Promotion. Beim Erscheinen des ersten Buches wollte Vinzenz persönlich nach New-York kommen, sich der Presse vorstellen und eine Reihe von Konferenzen geben.

“Wird er das schaffen?” fragte Justus besorgt.

“Er hat es selbst vorgeschlagen.”

Für das Mittagessen hatte Justus’ Sekretärin einen Tisch in einem der besten Restaurants von New-York reserviert.

“Vinzenz fehlt mir”, sagte Anna leise, nachdem der Ober sie an den Tisch geführt und Justus die Bestellung aufgegeben hatte. “Er hätte das alles so genossen!”

“Er fehlt mir auch. Mein bester Freund fehlt mir. Wie haben Sie sich eigentlich kennengelernt, Anna?”

“Vor vier Jahren suchte er eine Assistentin, die ihm alles, was nicht direkt mit dem Schreiben zu tun hatte, abnehmen sollte. Ich habe mich vorgestellt, und er hat mich sofort engagiert. Er hat mir gesagt, dass ich mich auf eine schwierige Zusammenarbeit gefasst machen sollte, dass er ungeniessbar sei, wenn er in einer schöpferischen Phase sei, aber das ist überhaupt nicht der Fall. Ich habe nie einen einfühlsameren, rücksichtsvolleren Mann gekannt.”

“Das ist, weil er Sie liebt.”

“Ich liebe ihn auch. ich liebe seinen Charme, seine immense Kultur, sogar die Melancholie, die ihn manchmal überfällt, seine Schwierigkeit zu leben. Und ich meine nicht seine Krankheit damit. Seltsam, zuerst habe ich gar nicht gemerkt, dass er ein künstliches Bein hat, dass er etwas hinkt, wenn er nicht aufpasst oder müde ist. Er hat einen eisernen Willen, wenn es darum geht, seine Krankheit zu besiegen. Er wird es schaffen, Sie werden sehen!”

“Ich weiss”, lächelte Justus, während Annas Anblick ihm das Herz zerriss, “ich kenne ihn!”

Nachmittags arbeiteten sie weiter, aber als Justus ihr vorschlug, gemeinsam in ihrem Hotel zu Abend zu essen, lehnte Anna ab: “Ich werde mir ein leichtes Essen auf’s Zimmer bringen lassen und dann schlafen. Ich schlafe jetzt schon. Morgen früh besprechen wir den Rest, und nachmittags fliege ich ja schon nach München zurück.”

Justus wusste nicht, ob er erleichtert oder enttäuscht war. Erleichtert, wenigstens heute Abend nicht mehr der ständigen Versuchung ausgesetzt zu sein, Anna zu berühren, sie anzusehen, ihr zu gestehen, dass er nie einer Frau gegenüber empfunden hatte, was er ihr gegenüber empfand. Und enttäuscht, weil er sich verzweifelt gerade nach all dem sehnte.

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Zu Hause in seinem luxuriösen Penthouse dachte er über sein Leben nach: Es hatte viele Frauen gegeben, sie machten es ihm leicht, aber keine von ihnen hatte wirklich gezählt. Es war, als hätte er von jeher auf Anna gewartet. Es quälte ihn, sich sagen zu müssen, dass er ihr wohl nie begegnet wäre, wenn sie nicht die Frau seines besten Freudes wäre, dass aber auch aus genau diesem Grund ein Glück unmöglich war.

Er war bei seinem dritten Whisky, als das Telefon trillerte.

“Läuft alles nach Wunsch?” fragte Vinzenz, nachdem er Justus begüsst hatte.

Einen siedendheissen Augenblick glaubte Justus, dass Vinzenz auf seine Liebe zu Anna anspielte: “Wie meinst du das?”

“Wie soll ich das schon meinen? Der Vertrag!”

Justus atmete auf: “Alles bestens”, versicherte er.

“Ich habe eine Bitte, Justus, und es ist mir sehr ernst damit: Könntest du Anna unter irgendeinem Vorwand noch ein paar Tage dabehalten? Bis ich dir sage, dass sie zurückkommen kann? Sag ihr, dass irgend etwas an dem Vertrag nicht stimmt.”

“Das wird schwierig sein, sie weiss gut Bescheid. Was ist los, Vinzenz?”

“Ich kann es dir jetzt nicht sagen, aber bitte, lass dir etwas einfallen. Und hindere sie daran, mich anzurufen!”

“Ich werde es versuchen, versprechen kann ich es dir nicht.”

“Ich möchte mich auf dich verlassen können”, drängte Vinzenz.

“Gut, du kannst dich auf mich verlassen.”

Er sagte Anna am nächsten Morgen, dass der Vertrag noch von seinen Anwälten überprüft werden musste und Vinzenz, mit dem er gestern Abend gesprochen hätte, sie bat, diese Überprüfung hier in New-York abzuwarten. Seine Sekretärin würde sich um die Umbuchung des Rückflugs und die Verlängerung ihres Hotelaufenthalts kümmern. “Und noch eins”, schloss er, “Vinzenz bittet Sie, ihn auf keinen Fall anzurufen, aber er hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, dass er Sie liebt.” Er hatte sich noch nie so unwohl gefühlt, er hatte Angst, dass sie die Lüge erriet, dass sie sich fragte, warum die beiden Männer über ihren Kopf hinweg entschieden hatten, aber sie sagte nichts und senkte nur den Blick.

Erleichtert fuhr Justus fort: “Ich habe mir für diese Zeit freigenommen und schon ein ganzes Programm auf die Beine gestellt: Das Guggenheim-Museum, Central Park, Theater auf dem Broadway, die Brooklyn Bridge, Greenwich Village … Es wäre doch schade gewesen, wenn Sie abgereist wären, ohne die Wunder New-Yorks gesehen zu haben.” Vor allem, sagte er sich, durfte er ihr keine Minute Zeit zum Nachdenken lassen …

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Es wurden die schwierigsten, die qualvollsten und gleichzeitig schönsten Tage seines Lebens: In dieser Zeit verliebte er sich, wenn das möglich war, noch mehr in Anna. Nicht nur in ihre Schönheit, auch in ihr Wesen. Er entdeckte Annas Lachen, ihre Grosszügigkeit. Sie konnte fröhlich sein wie ein Kind und fünf Minuten später ergriffen vor einem Kunstwerk im Guggenheim-Museum stehen. Sie war die hinreissendste Frau, die er je gekannt hatte.

Als er sie am vierten Tag morgens im Hotel abholte, sah sie übernächtigt aus: “Ich möchte zu Vinzenz”, sagte sie mit Tränen in den Augen.

“Ich werde meine Anwälte fragen, ob sie bald fertig sind”, erklärte Julius hilflos und verwünschte insgeheim Vinzenz, der immer noch nicht das grüne Licht für Annas Rückkehr gegeben hatte.

“Ich habe versucht, ihn anzurufen, ja, trotz seines Verbots, aber zu Hause meldet sich niemand. Es muss etwas passiert sein. Ich werde heute noch zurückfliegen.” Sie sagte es so bestimmt, dass er ihr nicht widersprechen mochte. Plötzlich kam ihm ein ungeheuerlicher Gedanke: Wenn Vinzenz sie nun betrog? Wenn er deswegen Anna fernhalten wollte? Er stellte sich einen Augenblick ihren Schmerz vor, wenn sie Vinzenz Untreue entdeckte, sagte sich aber gleich darauf, dass das unmögich war. Sicher, Vinzenz war früher kein Kind von Traurigkeit gewesen, genau wie er selbst, aber Anna war keine Frau, die man betrog. Er entdeckte nun, dass er sich ebenfalls Sorgen um Vinzenz machte und schämte sich, auf ihn gehört und Anna belogen zu haben.

Zwei Stunden später brachte er sie zum Flughafen, und als der in der Sonne gleissende Jet in den blauen Himmel aufstieg, war ihm, als würde ihm ein Stück aus dem Herzen gerissen.

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Es war ein kalter Wintertag, und er stand neben Anna am Grab. Sie hatte eine rote Rose auf den Sarg geworfen, Tränen liefen über ihre Wangen.

Justus hatte Anna nicht wiedergesehen, seit sie vor sieben Monaten überstürzt aus New-York abgereist war. Sie hatte ihn nur einmal kurz nach ihrer Rückkehr angerufen: “Vinzenz lag im Krankenhaus, seine Krankheit war wieder ausgebrochen, es hatten sich überall Metastasen gebildet. Er wollte nicht, dass ich ihn in diesem Zustand sah … ” Sie hatte am Telefon geweint.

Sieben Monate waren ihm noch gegeben, in denen Anna ihn hingebungsvoll gepflegt hatte. Dann war es zu Ende. Justus wusste nicht, wie er sie jetzt trösten sollte. Er wagte nicht einmal, sie zu berühren und hätte sie doch so gern in die Arme genommen, um ihr ein wenig Wärme zu geben. Sie zitterte am ganzen Körper.

“Er hat mir diesen Brief gegeben”, sagte Anna, als sie endlich allein und wieder in Vinzenz’ Haus waren. “Er wollte, dass wir ihn zusammen lesen, nach seinem Tod. Bitte, öffnen Sie ihn. Ich kann es nicht.”

Also öffnete Justus den Brief, zog das Blatt heraus und entfaltete es: “Geliebte Anna, lieber Justus”, las er halblaut, “für mich ist das Leben zu Ende, und bei den Schmerzen, die ich habe, kann ich euch versichern, dass ich erleichtert darüber bin. Aber für euch geht das Leben weiter, und ich bin froh, dass ihr euch habt. Ja, Anna, ich habe gemerkt, dass Justus dich nicht gleichgültig liess. Und du, Justus, alter Freund, ich kenne dich so gut, dass ich sicher bin, dass du Anna als die Frau deines Lebens erkannt hast. So, wie es mir selbst erging, als ich ihr begegnete. Ich danke euch beiden, dass ihr es mich nicht habt spüren lassen. Bitte, fühlt euch nicht schuldig, Liebe ist eine Naturgewalt. Vielleicht werdet ihr ab und zu an mich denken, zuerst öfter, dann seltener, das Leben ist stärker als der Tod, und das ist gut so. Ich wünsche euch von ganzem Herzen, dass ihr glücklich miteinander werdet. Euer Vinzenz.”

Sie mochten einander nicht ansehen, endlich sagte Anna leise: “Justus, bitte gehen Sie nach New-York zurück.”

In ihm herrschte ein unbeschreibliches Chaos der Gefühle. Alles vermischte sich: die Trauer um Vinzenz, die Liebe zu Anna, der Schmerz, dass sie offensichtlich nichts für ihn empfand, dass alles auf einem Irrtum beruhte, denn sie schickte ihn ja fort …

“Justus, würdest du mich bitte ansehen?”

Anna hatte ihn geduzt! Und sie lächelte unter Tränen. “Ich werde nach New-York kommen, zu dir”, versprach sie und bat: “Du musst mir nur ein bisschen Zeit lassen, ja?”

“Alle Zeit, die du willst, Anna”, erwiderte er, und es war, als öffnete sich nun endlich der Himmel. Für Anna und ihn.

ENDE


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