Essai 86: Über Gerichte mit Geschichte

Im französischen Radio lief vorhin eine Sendung über das Essen und dabei habe ich einen interessanten Gedanken aufgeschnappt, den ich meiner werten Leserschaft nicht vorenthalten wollte. Jedes Gericht hat seine eigene Geschichte, hieß es. Als Studentin der Literaturwissenschaft und Narratologie (Erzähltheorie) möchte ich dem nicht ganz vorbehaltlos zustimmen, so schön ich diesen Gedanken auch finde. Wobei, wenn man zum Beispiel auch sagen kann, dass ein Bild eine Geschichte erzählt oder ein instrumentales Musikstück, warum dann nicht auch eine Ansammlung von Gerüchen und Geschmäckern, wie man sie in Gerichten findet? Schließlich können diese eine ganze Flut von Erinnerungen und Assoziationen hervorrufen, die zusammengenommen eine Art Geschichte bilden. Aber dann ist diese Geschichte ja bei jedem Menschen eine andere, während bei einem (nicht-abstrakten) Bild oder einem Musikstück die Geschichten, die der Betrachter oder Zuhörer damit verbindet sich doch eher ähneln.

Vielleicht war damit aber auch so etwas wie eine Tradition gemeint, die hinter bestimmten Gerichten steckt. Da gibt es ja tatsächlich Rezepte, die schon sehr alt sind und wirklich eine Geschichte haben, die ursprünglich für irgendwelche Könige gedacht waren oder Ähnliches. Es kann aber auch eine ganz persönliche Familiengeschichte dahinterstecken. Der Apfelkuchen, den meine Mutter immer macht und den ich auch in mein Repertoire übernommen habe, ist zum Beispiel ein Rezept, das schon meine Urgroßmutter immer benutzt hat. Oder die leckeren Käseplätzchen, die mein Opa immer gebacken hat. Meine Schwester und ich haben sein Rezept übernommen und wenn wir heute Käseplätzchen essen, ist das auch immer eine Erinnerung an unseren Opa und Teil unserer Familiengeschichte. Das hat doch auch etwas Tröstliches, oder?

Ich find’s bloß schade, dass es in Deutschland so ein merkwürdiges Verhältnis zur Nahrungsaufnahme gibt. In Frankreich oder auch in Wien, wo ich neulich für eine Woche war, habe ich den Eindruck, man geht viel natürlicher, freudiger und sinnlicher mit dem Essen um. Natürlich ist auch da nicht immer alles supertoll und Friede, Freude, Eierkuchen, aber zumindest die Esskultur wird mit einer gewissen Zuneigung gepflegt. In Deutschland macht man da entweder so eine Wissenschaft draus und sich das Leben viel zu kompliziert (Eier in den Mürbeteig? Backpulver für Crèpes? Zucker in die Salatsoße?) oder man isst, um satt zu werden und hauptsache, die Größe der Portion ist möglichst umfangreich. Kein Wunder, dass der Anteil der Übergewichtigen hier so hoch ist. Essen sollte doch auch Spaß machen, man sollte das doch auch genießen können. Wie will man denn etwas genießen, was so völlig ohne Vergnügen zubereitet wurde? Dann schaufelt man eben in Windeseile Nahrung in sich hinein, damit man nicht merkt, wie leidenschaftslos das Essen schmeckt. Das ist doch öde. Und da merkt man natürlich auch nichts von der Geschichte eines Gerichts.

Mich nerven ja immer die Leute, die mit stolzgeschwellter Brust verkünden, sie könnten nicht kochen. Das ist Unsinn. Jeder kann kochen, da halte ich es wie der Koch im Film Rattatouille, der der kleinen Ratte Rémi als Vorbild dient. À propos, diese kocht ja auch nicht sklavisch nach Rezept, sondern intuitiv, sinnlich, mit Spaß am Vergnügen. Und das kann wirklich jeder. Einfach mal in die Schränke gucken, eine Packung Nudeln hat man ja immer irgendwo und die kann man mit allem essen. Sogar mit Apfelkompott. Und dann improvisiert man mit dem, was man sonst so findet, eine Soße. Dafür braucht man kein kulinarisches Talent, nur ein wenig Experimentierfreude und Fantasie. Oder wenigstens Salz und Pfeffer. Dann kann man sich nämlich auch diesen widerlichen Dosenfraß sparen, bei dem sogar das am wenigsten eklige immer noch schlimmer ist, als das misslungenste Selbstgekochte. Außerdem weiß ja auch kein Mensch, was in diesen Dosenravioli und dergleichen Verbrechen gegen die Geschmacksnerven eigentlich drin ist. Das ist ja wie bei Katzenfutter, dann steht drauf “mit Rind” und in der Zutatenliste, ganz klein gedruckt, ja mir ist manchmal langweilig im Supermarkt, dann lese ich mir das durch, “0,3% Rinderknochenasche”.

Aber so lange es Leute gibt, die diesen – Pardon – Scheiß in sich hineinschaufeln, weil sie stolz auf ihr eingebildetes Koch-Untalent sind, wird dieser Mist auch immer weiter produziert. Natürlich gibt’s diesen Ekelkram auch in Frankreich oder Österreich, aber da steht dem wenigstens eine traditionelle Esskultur gegenüber, mit Gerichten, die etwas zu erzählen haben. Es wäre schön, wenn sich in Deutschland auch mal so eine Wertschätzung von gutem, leckeren Essen etablieren könnte.


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