Es geschieht am 12. August 1961

Die Familie versammelt sich in Nikolassee, um eines Ahnen Geburtstag zu gedenken.

Im Laufe vieler Jahre geriet die familiäre Community zu groß und zu verstreut, daher bedurfte es eines Fixpunktes für den Zusammenhalt. Den man glaubte in den Ahnentafeln, hobbymäßig angefertigt im Dritten Reich, gefunden zu haben. Die erste schriftliche Erwähnung fand die Familie nämlich durch die Geburt eines gewissen Carl Arthur Friedrichs, Anno Domini 1596, fixiert in einem thüringischem Kirchenbuch.

Carl Arthur Friedrich ist jener Urahn, auf den die Existenz von Hunderten von sich kennenden Nachfahren zurückgeht. Die sich aus unterschiedlichen Gründen an vielen Orten des Kaiserreiches angesiedelt hatten, aus denen einige später – nach den Detonationen des letzten sagenhaften Krieges – vertrieben sind.

Es lebe Carl Arthur Friedrich! Es lebe der Clan!

Nun also – heute am 12. August 1961 – sitzt die Familie in Berlin, viele Koffer in diversen Hotels deponiert, salviert Zusammenhalt, während bereits in unmittelbarer Nähe die Vorbereitungen für eine weitere Trennung geschaffen werden. Wie ein Kater nach rauschendem Fest erscheint Stacheldraht im Fleisch einer leidenden Nation. Das Leid der Verlierer findet immer wieder – wie lange noch? – seine Fortsetzung.

Vorerst bleibt die Familie zusammen. Berät sich. Diskutiert über Schuld und Unschuld, Ursache und Wirkung. Drittes Reich und Russenpack, Amizigaretten, dem Erbe, verblieben in Breslau und über die Flucht. Damals war es so, heute isses so und morgen? Eine Situation wie bei “12”, dem russischen Film aus dem Jahre 2007, doch das deutsche Ende bleibt 1961 unklar.

Ein Kommunist bleibt schließlich im Westen, wegen einer Liebschaft – ein Angeheirateter kehrt nach Osten zurück, weil er seines Großvaters Haus vor den Kommunisten retten will. Dramatik in jedem Einzelschicksal, jede einzelne Entscheidung, so falsch sie uns Schlaumeiern auch scheint, ist nachvollziehbar. …

So sitze ich heute beim Zappen und denke mir lieber statt des angebotenen Fernsehmülls meine eigenen Filme aus. – Voller Symbolik, wie ein Schlangenei.

Der zweite Film meines Abends ohne TV behandelt zwei Lemberger Brüder. Aus einer polnischen Stadt, die nach übereilter Eroberung durch die Deutsche Wehrmacht am 19. September 1939 an sowjetische Waffenbrüder übergeben ward.

Eine Szene des Filmes behandelt den 22. September 1939.

General der Panzertruppe Heinz Guderian und Brigadekommandeur Semjon Kriwoschein nehmen die erste gemeinsame faschistisch-sowjetische Militärparade ab, tauschten feierlich Hakenkreuz gegen Rote Fahne, leicht verwundete, von sowjetischen Ärzten gut versorgte, ehemals – im Eifer der Gefechte – versprengte Wehrmachtssoldaten werden übergeben. Kriwoschein gratuliert im Namen von Stalin und der übrigen sowjetischen Führung den Deutschen zu ihren Erfolgen.

1939 bis 1941 wird Lemberg sowjetisch verwaltet. Einer der besagten Brüder gerät dem NKWD in die Fänge, wird inhaftiert, einiger politischer Blödigkeiten wegen, gefoltert gequält und schließlich, Juli 1941, von der UPA, der Українська Повстанська Армія, die gemeinsam mit den Deutschen Richtung Moskau marschiert, befreit. Schließt sich denen bewusst an, seiner willkürlichen Inhaftierung wegen den Kommunismus hassend.

Die Brüder sind Juden. Der in Lemberg verbliebene wird als solcher im Dezember 1942 verhaftet und der SS zugeführt. Kann sich vor Einlieferung in ein KZ noch auf wundersame Weise selbst befreien, flieht, und schließt sich glühenden Hasses auf alle Faschisten der Welt der Roten Armee an, trägt von nun an – wie eine Ikone – ein Bild von Stalin in der Jacke. Träfen diese Brüder jetzt aufeinander – sie hätten sich gegenseitig ermordet. Bis in die Mitte der Fünfziger Jahre noch, da die UPA immer noch um Befreiung der Ukraine rang.

Dass sich beide Brüder doch noch getroffen haben mögen – irgendwann in den Neunzigern, vielleicht in Israel – ist für diesen Film erwünschte Legende. Denn ich sehe ihre Tränen und bin gerührt. Die Brüder können sich sogar umarmen, weil sie sich endlich verstehen. Sie wissen, dass es keine politische Wahrheit geben kann. Niemand hat das Recht für sich gepachtet.

Jetzt, da ich das ebenfalls weiß, mache ich beruhigt die Augen zu.


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