Sie kommen und sie gehen, sie bleiben oder verschwinden, sie werden ihrem Publikum lieb und teuer - und sind doch Stunden später schon wieder wie vom Erdboden verschluckt. Angesichts des grassierenden Themensterbens in der deutschen Medienlandschaft hat das An-Institut für Angewandte Entropie der Bundeskulturstiftung in Halle an der Saale in einer großangelegten Studie versucht zu ergründen, wie es um die Haltbarkeit von Schlagzeilen in den Zeiten von Facebook und ZDF neo bestellt ist. Unter Leitung von des Medienwissenschaftlers Hans Achtelbuscher analysierte ein Team von Experten über Monate hinweg die Programmpläne von führenden Nachrichtensendungen und Leitmagazinen, um herauszufinden, "was eigentlich ein Thema zum Thema macht", wie Achtelbuscher beschreibt. Dabei begab sich die Forschergruppe auf absolutes Neuland, wie der Wissenschaftler erklärt: "Als wir begannen, gab es nicht einmal einen einheitlichen Maßstab, um die Haltbarkeit bestimmter Schwerpunktsetzungen zu messen".
Deshalb sei es seinem Team erst einmal darum gegangen, Pionierarbeit zu leisten. "Wir haben bald erkennen können, dass wir es mit einem komplexen Phänomen von Nachrichtenüberlagerung, aber auch von Nachrichtenverdünnung und redundanter Verstärkung zu tun haben." Achtelbusch unterscheidet aufgrund seiner Forschungen zwischen A-Themen, B-Themen und "allem übrigen", wie er es ein wenig flapsig nennt. A-Themen markierten dabei sogenannte Konsensdebatten, also Diskussionen, die einheitlich über alle Mediensparten und politisch ganz unterschiedlich ausgerichtete Presseorgane quasi "ausgefochten" würden. "das sind die Themen, die man auch als Muss bezeichnen kann", sagt der ausgebildete Entroposoph. Bestes Beispiel dafür seien die Terroranschläge vom 11. September 2001, die über Wochen sämtliche Titelseiten nicht nur weltweit, sondern auch in Deutschland beherrscht hätten.
Um die Haltbarkeit, medienwissenschaftlich als "H" bezeichnet, besser als bislang messen zu können, haben die halleschen Forscher einen Hochleistungstaschenrechner des Max-Planck-Institutes in Halle-Kröllwitz eine neue Maßeinheit errechnen lassen: "Emp" bezeichnet dabei die Verweildauer eines Themas auf der sogenannten A-Agenda in Wochen, wobei "Emp" als Einheit für die einheitliche Empörung stehe "Ein Emp erreicht ein beliebiges Vorkommnis, wenn es über ein Woche als allgemein dominierend wahrgenommen wird", rechnet Professor Achtelbuscher vor. Nach den Forschungsergebnissen, die sein Team erarbeiten konnte, erreichte der 11. September im zurückliegenden Jahrzehnt einen unangefochtenen Höchstwert von 15 Emp. "Danach faserte erst das Ereignis in seine Auswirkungen aus."
Doch auch die Bilanz der letzten zwölf Monate kann sich sehen lassen. "Es kommt ja nicht darauf an, wie wichtig ein Thema wirklich ist", ist sich Achtelbuscher sicher, "sondern auch darauf, wie es sich medial vermitteln lässt." Zudem spiele die vorhandene oder nichtvorhandene Konkurrenz durch andere Ereignisse eine Rolle. "Ist viel los, knicken selbst starke Themen schneller weg als in der sogenannten Saure-Gurken-Zeit", weiß der Professor.
Im Rückblick schälten sich jedoch immer die wirklichen Phänomene heraus. Das Jahr 2010 buchstabiere sich allen Analysen zufolge so: Nach der Eurokrise, die sechs Emp erreichen konnte, folgte die deutschlandweite
Missbrauchsdiskussion mit drei Emp, dann kam die Aschewolke mit ebenfalls drei Emp. Dem Wetteransager Kachelmann gelang nachfolgend im Alleingang ein Ergebnis von vier Emp, während der Bundespräsidentenrücktritt mit enttäuschenden zwei Emp in die Annalen einging. Auch nur knapp fünf Emp erzielten die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko und die Fußball-Weltmeisterschaft bei der sich diesmal alles auf die musikalische Begleitung konzentrierte.
Nach dem ersten Gesetz der Mediendynamik passe die Welt bekanntlich in keinen Schuhkarton, unweigerlich aber in 15 Minuten Tagesschau, lächelt Hans Achtelbuscher. Das zweite Gesetz der Mediendynamik hingegen besage, dass Großereignisse nie gleichzeitig stattfinden, sondern immer fein säuberlich hintereinander, als plane eine große göttliche Regie den Ablauf von Flugzeugabstürzen, Prominentenhochzeiten, Sportevents und Skandalen. Es habe deshalb niemandem im Team verwundert, dass die Loveparade-Katastrophe, die mit drei Emp auf eine recht beachtliche Bilanz kam, erst nach der Fußball-WM Raum griff. "Als das Thema abgehandelt war, kam dann schon die Street View-Diskussion", klärt der Forscher auf.
Immerhin vier Emp auf der nach oben offenen Skala konnte die von Ilse Aigner persönlich mit sich selbst geführte Sommerdiskussion über Google Street View einfahren. "Das ist in Anbetracht des schwachen Themas gut, aber angesichts des seinerzeit herrschenden Mangels an alternativen nicht sehr überraschend." Erst dem Bundesbanker Thilo Sarrazin sei es schließlich gelungen, Street View vom Erfolgspfad zu drängen - und wie. "Sarrazin kam mit seinen kruden Thesen sofort auf einen Wert von acht Emp", haben die Forscher berechnet. Acht Emp sei ein Traumwert, den in normalen Zeiten allenfalls der Tod eines Prominenten wie Lady Diana oder Michael Jackson aufweisen könne. "das ist für einen wenig schillernden Mann wie Sarrazin schon erstaunlich."
Zumal die Erfolgsgeschichte wohl hätte weitergeschrieben werden können, wenn nicht der damals noch als Bundesinnenminister dilettierende Thomas de Maiziere die Debatte mit seiner legendären Terrorwarnung von Ende November abrupt beendet hätte. "Zu einem Zeitpunkt, als alle Medienschaffenden von Sarrazin ermüdet waren, wurde das als erlösend empfunden." Da aber das versprochene Blutbad im Reichstag trotz so prominenter Fürsprecher ausblieb, langte es für de Maiziere doch nur zu zwei Emp. "Dann funkte schon Wikileaks dazwischen." Die Enthüllungsplattform kam wie der nachfolgende
Klimawandel-Winter auf drei Emp, die von Gesine Lötzsch initiierte Kommunismusdebatte aber nur auf ein Emp. "Das blieb ein Thema für Spezialisten", analysiert Achtelbuscher, "das seinen Augenblick nur mangels anderer Angebote dominierte."
Der Rest der Statistiken der Medien-Entroposophen, die von den beiden Polen Wucht (W) und Haltbarkeit (H) geprägt werden, aber liest sich dann wieder wie ein Who-is-Who des erfolgreichen Agenda-Setting (Gerhard Schröder). Gorch Fock (drei Emp), Tunesien (zwei Emp), Ägypten (drei Emp), dann zum ersten Mal Libyen (ein Emp), vorzeitig abgelöst durch die große Volksaussprache zu Guttenberg und dessen abgeschriebener Doktorarbeit (vier Emp). "Als das durch war und Libyen noch nicht wieder etwas hergab", sagt der Fachmann, "wurde notgedrungen zum E10-Benzin gegriffen." Wohl auch deshalb habe der Biosprit letztlich nur unbefriedigende zwei Emp geschafft. Hauptgrund aber seien natürlich die Ereignisse in Japan gewesen. "Der Tsunami beendete aus unserer Sicht die E10-Woche, ab Samstagmorgen übernahm dann die Atomkrise."
Allerdings sei die aus seiner Sicht vom Start weg "auf sehr, sehr großer Flamme gekocht worden". Das berge stets die Gefahr in sich, ein Thema vor seiner Zeit "auszubrennen". Man könne das jetzt gut daran sehen, dass der Nachrichtentsunami zwar anfangs "gigantischer war, als alles, was wir seit dem Beginn des Irakkrieges gesehen haben", er aber mit nur zwei Emp gerade ein Viertel des Wertes erreicht habe, den Thilo Sarrazin seinerzeit hatte verbuchen können. "Wobei das Comeback von Libyen bei dieser Entwicklung einerseits überlagernd wirkte, andererseits aber auch als Ablösung recht willkommen war."
Lob des Lesens: Hochbetrieb in der Worthülsenfabrik