Eine Sternstunde bürgerlicher Propaganda

In der Süddeutschen Zeitung gab es am Wochenende vor Weihnachten eine Wochenendbeilage zum Thema “Arm und Reich”. Leider habe ich diese Texte im Online-Angebot der Süddeutschen nicht finden können – was allerdings auch nicht wirklich schade ist, denn darin steht nichts besonders wichtiges oder gar richtiges über diese Welt und ihren Zustand. Andererseits sind sie ein Paradebeispiel sich kritisch gebender bürgerlicher Propaganda, das geradezu nach einer wirklich kritischen Kommentierung schreit.

Gesehen bei einem Spaziergang am ersten Weihnachtstag.

Gesehen bei einem Spaziergang am ersten Weihnachtstag.

“Liebe Leser, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht, hört man so oft, dass man es mittlerweile für ein Naturgesetz halten könnte. Die werden werden eben immer reicher, die anderen, naja, Pech gehabt. Aber muss das so ein?”

Und so weiter. Um die Sache abzukürzen: Im Grunde stellen sämtliche Autoren fest, dass es eigentlich nicht so sein müsste, wenn es nur irgendwie gerechter zuginge. Aber gleichzeitig sind sie auch fest davon überzeugt, dass Freiheit, Demokratie und Menschenrechte etwas dermaßen Fantastisches sind, dass man das bisschen Ungerechtigkeit, das damit einher geht, schon aushalten muss. Denn eigentlich könnte es doch allen gut gehen, wenn die Reichen etwas mehr Steuern zahlen müssten und die Armen, nun ja, ihre Freiheit doch bitte sehr endlich mal dazu nutzen würden, ein bisschen weniger arm zu sein.

Denn dieses Jahrzehnt, schreibt ein gewisser Alexander Hagelüken unter der Großüberschrift “Arm”, wird die Dekade des Reichtums. “Große Diamanten, überdimensionierte Uhren, Bordeauxflaschenund Luxuswohnungen werden gekauft wie nie.” Die Weltwirtschaft wächst und gedeiht, sie bringt immer unermesslichen Reichtum hervor, weshalb es immer mehr Wohlstand für alle geben würde – theoretisch. Andererseits gibt es auch immer mehr Menschen, die unter zunehmen prekären Bedingungen leben müssen. Ist ja nicht so, dass ein aufgeklärter Journalist der Gegenwart das nicht mitbekommen würde: Es folgt eine Aufzählung empörender Zahlen, etwa, dass ein US-Firmenboss im Jahr 1994 das 90-fache eines Arbeiterlohns kassiert hat, während er jetzt das 180-fache eines Arbeiterlohns einstreicht. Oder dass Geringverdiener heutzutage so wenig verdienen wie im Jahr 1985, während die Gutverdiener satte Einkommensteigerungen verbuchen können, von denen sie dann die Luxusgüterindustrie ankurbeln. Seit 1990 nimmt die Ungleichverteilung in allen Industriestaaten rapide zu. Und woran liegt das? Die Antwort ist schnell aus dem Ärmel geschüttelt: An der Globalisierung. Und an Ronald Reagan und Maggie Thatcher. Die beiden Dinosaurier des Neoliberalismus habe nämlich mit ihrem Deregulierungs- und Liberalisierungskomplex den schönen gemütlichen Kapitalismus, der Wohlstand für alle geschaffen habe, kaputt gemacht.

Heutzutage könne sich kein Unternehmer, der auf dem Weltmarkt mit Indern und Chinesen konkurrieren muss, es sich leisten, hohe Löhne zu zahlen. Das ist leider absolut richtig. Trotzdem fällt dem Autor nichts Besseres ein, als für angemessene Mindestlöhne zu werben, damit es wieder ein bisschen gerechter zuginge. Und natürlich könnten die Regierungen bei den ganzen Milliarden, die sie in Bankenrettungen investieren, auch ein paar Milliarden mehr für Bildung locker machen.

Na toll: Und was hilft denn die ganze Bildung, wenn man am Ende nur einen Mindestlohn damit verdienen kann? Ich komme aus einer Generation, die unglaublich gut ausgebildet wurde. Viele meiner Freunde haben studiert – da waren sogar einige Arbeiterkinder dabei. Jaja: Auch im Westen gab infolge der vielgescholtenen 68er und der sozialistischen Systemkonkurrenz auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs Bildung für für alle, so dass ungefähr zwei, drei Jahrzehnte lang der Bildungserfolg hauptsächlich vom eigenen Engagement abhing, und nicht wie vorher und heute wieder, von der Herkunft bzw. den finanziellen Möglichkeiten der Eltern. Aber was ist aus uns, die wir davon gerade noch profitieren konnten, geworden?

Einige haben tatsächlich ganz gute Jobs bekommen, andere müssen sehen, wie sie den Kopf über Wasser halten, trotz Diplom, Magister oder gar Promotion. Ich kenne hervorragend qualifizierte Naturwissenschaftler, die auf Altenpflege umgeschult wurden, weil sie einfach keinen Job bekommen haben. Ich kenne Magister mit Durchschnittsnote 1,0, die seit Jahren von Hartz-IV leben. Ich kenne Diplom-Ingenieure, die sich in Rund-Um-Die-Uhr-Jobs für ein vergleichsweise mieses Gehalt verschleißen. Und ich selbst habe es mit meinem ausgezeichneten Diplom auch nur in ein Angestelltenverhältnis geschafft, mit dem ich gerade so viel verdiene wie eine kaufmännische Angestellte mit dreijähriger Ausbildung – früher, als es noch entsprechende Tarifverträge gab. In den 90er Jahren konkurrierten dermaßen viele gut ausgebildete Menschen um die allerletzten Jobs, dass die Chefs sich daran gewöhnt haben. Und die jammern jetzt, weil die Absolventen tatsächlich immer weniger können und wissen – aber warum zum Teufel braucht man eigentlich Abitur, um bei Nordsee Fischbrötchen zu verkaufen oder bei MacDonadls Burger zu braten?! Von wegen Fachkräftemangel. Es mangelt keineswegs an Fachkräften, es mangelt an Unternehmen, die Fachkräfte entsprechend bezahlen wollen. Aber darum ging es in dieser Beilage gar nicht. Es ging unter anderem aber auch um “eine kleine Kulturgeschichte der Armut”, die mir dann komplett die Schuhe ausgezogen hat.

Ein Nikolaus Piper behauptete unter der Überschrift “Ewige Mühsal”, dass es Armut schon immer gegeben hätte, quasi als Begleiterscheinung menschlicher Existenz – die meiste Zeit sei das Leben für die meisten Menschen immer nur ein Überleben und die menschliche Existenz somit prekär gewesen. Na klar – solange die Menschen von dem Leben mussten, was sie selbst anbauten, reichte eine schlechte Ernte und die Hungersnot war da. Herr Piper berichtet auch davon, dass die Armen im Christentum gebraucht wurden, damit die Reichen ihrer Sünden ledig werden konnten (in dem sie den Armen gaben) und dass die große Wende bei der Armut mit dem segensreichen Wirken des Kapitalismus einher ging. Jawoll: Nachdem sich die Lage der Armen erst noch verschlimmerte, was dann auch Sozialkritiker auf den Plan rief, die über das Elend der Massen klagten und Kinderarbeit, mörderische Arbeitsbedingungen und dergleichen mehr anprangerten, habe sich doch alles zum Guten gewendet. Die Proletarier in den Industrieländern verelendeten nicht, “wie es Karl Marx vorhergesagt hat”, sondern kamen zu beispiellosem Wohlstand!

Klar, dazu trug auch die Arbeiterbewegung bei, wie der Autor durchaus zugibt, aber doch in erster Linie die Kapitalisten selbst, die Arbeit, Kapital und Boden so produktiv machten, dass am Ende alle etwas davon hatten. “Der Kapitalismus schuf nicht nur die materiellen, sondern auch die geistigen Voraussetzungen für die Abschaffung der Armut.” Ich weiß ja nicht auf welchem Planeten Herr Piper lebt, aber auf der Erde ist die Armut keineswegs abgeschafft, im Gegenteil, sie schafft sich gerade in schrecklichem Ausmaß neu – inklusive ihrer geistigen Voraussetzungen. Diese Beilage der Süddeutschen ist ein markantes Beispiel für den intellektuellen Niedergang.

Zur Krönung seiner Huldigung des Kapitalismus bemüht der Autor auch noch den Ökonomen Amartya Sen, der geschrieben habe, dass Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung die Schlüssel zum Abbau der Armut seien. Dazu wird folgendes Beispiel geliefert: In Indien habe es seit der Unabhängigkeit 1947 zwar schlechte Zeiten und schlechte Wirtschaftspolitik gegeben, aber keine Hungersnot. Unter der kommunistischen Diktatur seien dagegen während Maos “Großen Sprung nach vorn” Millionen Chinesen verhungert – überhaupt sei das die größte Hungersnot in der heute bekannten Geschichte der Menschheit gewesen.

Nun will ich keineswegs behaupten, dass das Elend im maoistischen China keins gewesen sei. Aber unter den verschiedenen feudalistischen Herrschern Chinas gab es auch immer wieder Hungersnöte epischen Ausmaßes. Es gab auch jede Menge Elend in den kapitalistischen USA während der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren – trotz oder eher wegen des unglaublich intakten Kapitalismus inklusive Demokratie, Freiheit und Menschenrechten. Und warum sich in Indien immer wieder hochverschuldete Bauern umbringen, obwohl sie doch Kapitalismus, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte haben, würde mich auch einmal interessieren – vielleicht, weil man sie zu nachhaltig von all ihren irdischen Besitztümern befreit hat? Warum waren die befreiten Sklaven auf den Plantagen des Südens nach dem Bürgerkrieg in den USA nicht froh über ihre Freiheit, sondern wollten lieber bei ihren ehemaligen Sklavenhaltern bleiben? Weil sie dort ein Dach über dem Kopf und was zu essen hatten – als von jeglicher Habe befreite selbstbestimmte Menschen ihre Haut selbst vermarkten zu müssen, fanden viele noch schlimmer als ihr Sklavendasein.

Und was ist mit den Erfindern der Demokratie, den Griechen? In aller Freiheit und Selbstbestimmung geht ihr Land gerade den Bach runter, weil der Kapitalismus so fein funktioniert – die Banken machen ihren Gewinn, die Bevölkerung muss es ausbaden – noch sind die Griechen nicht “im mittelalterlichen Sinne” arm, wie Piper so richtig echte Armut definiert. Sie sind nur so arm, dass sie ihre Kinder nicht mehr ernähren können und im Winter frieren müssen.

Leider ist Karl Marx überhaupt nicht widerlegt, wie der Autor dieses eigenartigen Artikels behauptet. Nur weil es eine relativ kurze Periode in der Menschheitsgeschichte gab, in der die Produktivitätszuwächse dermaßen hoch waren, dass selbst die Armen in den Industrieländern nicht mehr elend waren, sondern nur weniger hatten, als die Reichen, heißt das doch nicht, dass der Kapitalismus ein Armutsbekämpfungsprogramm ist. Im Gegenteil: Wir sind inzwischen wieder in der Situation angelangt, die sogar im Artikel zitiert wird:

Die Bourgeoise habe, so schrieb Karl Marx im Kommunistischen Manifest, “an die Stelle der mit religiös und politischen Illusionen verbrämten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.”

Diese Ausbeutung findet doch weltweit statt – überall dort, wo man Menschen dazu zwingt, für einen Hungerlohn Reichtum für andere zu produzieren. Man erzählt den Leuten was von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten, nimmt ihnen ansonsten aber alles weg, was sie zum Leben brauchen, und lässt sie dann in aller Selbstbestimmtheit auf den Markt los. Dort verkaufen sie sich bzw. ihre Arbeitskraft dann zum Marktpreis und können mit etwas Glück davon leben. Das ging ein paar Jahrzehnte lang ganz gut und nun wird es halt wieder schwieriger – selbst wenn es tatsächlich so sein sollte, dass heute weniger Menschen als früher unter der absoluten Armutsgrenze von 1,25 Dollar pro Tag leben müssen.

Wer legt eigentlich solche Grenzen fest?! Und wo kann man denn heutzutage überhaupt noch von 1,25 Dollar am Tag leben?! Und wenn alle Menschen pro Tag über 1,25 Dollar verfügen, ist die Armut weltweit abgeschafft?! Zu welchem Preis wird der Kapitalismus das wohl hinkriegen?



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