Ein wahres Kleinod humanistischer Publizistik

Mit Blick auf den bevor­ste­hen­den 300. Geburtstag des fran­zö­si­schen Philosophen Denis Diderot (05. Oktober 1713 – 31. Juli 1784) hat Werner Raupp eine Schrift mit dem Untertitel „Ein fun­ken­sprü­hen­der Kopf“ vor­ge­legt. Der Autor nennt diese Arbeit beschei­den „ein Büchlein“. Vom Umfang her mag seine Untertreibung zutref­fen, aber vom Inhalt her ist dies Büchlein ein wah­res Kleinod huma­nis­ti­scher Publizistik.

diderot_funkenspruehender_kopfDem Rezensenten seien zunächst aber einige sehr per­sön­li­che Anmerkungen gestat­tet: Seine erste Begegnung mit Diderot fand in der DDR-Oberschulzeit statt. Im Literatur- und Geschichtsunterricht wurde über Diderot im Zusammenhang mit Aufklärung und Französischer Revolution, seine Enzyklopädie fand dabei beson­dere Erwähnung. Einige Jahre spä­ter sah er im Kino die 1966er Verfilmung von „Die Nonne” und einige wei­tere Jahre spä­ter erwarb er in der Buchhandlung sei­ner Kleinstadt eine von Klaus Ensikat exzel­lent illus­trierte Ausgabe von „Die geschwät­zi­gen Kleinode”. Und nun – Jahrzehnte spä­ter – eine erneute Begegnung mit Diderot…

Ein Mosaik aus 100 aus­ge­wähl­ten Gedanken

Werner Raupp hat, um Denis Diderot auf eine ganz beson­dere Art zu wür­di­gen, ein Mosaik von 100 Gedanken des Universalgelehrten und Schriftstellers zusam­men­ge­fügt. Ein Mosaik aus kür­ze­ren und Längeren Zitaten, zusam­men­ge­faßt in acht Kapiteln: I. Ein Vorläufer von Wikipedia – die Enzyklopädie; II. Von Philosophie, Aufklärung und Vernunft; III. Vom Schauspiel der Natur; IV. Von Gott und Religion; V. Von der Kunst und dem Schönen; VI. Die humane Gesellschaft; VII. Von Glück und Tugend, Liebe und Leidenschaft und VIII. Vom flüch­ti­gen Leben und dem Tod. Allein schon diese kleine Auswahl und ihre Systematisierung zei­gen dem heu­ti­gen Leser, wie umfas­send die Interessen und das Werk die­ser her­aus­ra­gen­den Persönlichkeit war. Und die­ses Mosaik zeigt auch, daß viele die­ser rund ein Vierteljahrhundert alten Gedanken noch heute beden­kens­wert sind und kei­nes­falls ver­al­tet…

Den Rezensenten inter­es­sie­ren neben Diderots kul­tur­wis­sen­schaft­li­chen Aussagen vor allem auch sol­che, die welt­an­schau­li­che und religions-/kirchenkritische Fragen berüh­ren. Im Kapitel IV. fin­den wir unter den „Mosaiksteinchen” 28. bzw. 33. fol­gende Zitate: „Eine wahre Religion, die alle Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten angeht, müßte ewig, uni­ver­sell und evi­dent sein; keine hat diese drei Merkmale; also sind alle drei­fach als unwahr erwie­sen.” - „Der Priesterstand, des­sen System ein Gewebe aus absur­den Ideen ist, sucht ins­ge­heim die Unwissenheit zu erhal­ten; denn die Vernunft ist der Feind des Glaubens.” (S. 101/102)

Allein diese Gedankenauswahl ist viel­leicht Anregung, sich Diderots Werke wie­der mal oder erst­mals in die Hand zu neh­men. Zumindest sollte die­ses „Büchlein” (und das ist nun als Ausdruck von Anerkennung gemeint) in die Hände mög­lichst vie­ler Studenten aller wis­sen­schaft­li­chen Studiengänge gelan­gen. Zumal auch der güns­tige Preis sicher­lich Hemmschwellen abbaut. Und selbst­ver­ständ­lich sollte Raupps Würdigung des gro­ßen Diderot in mög­lichst viele Hände von Humanisten, Atheisten und ande­ren gesell­schafts­kri­ti­schen Geistern gelan­gen.

Wissenswertes über einen fun­ken­sprü­hen­den Kopf

Mit Absicht hat der Rezensent Werner Raupps eige­nen Beitrag in die­ser Schrift nicht an den Anfang die­ser Besprechung gestellt. Raupp bezeich­net sei­nen „Streifzug durch Leben und Werk des fran­zö­si­schen Philosophen” beschei­den als „Einleitung”. Beides ist unter­trie­ben, denn trotz aller Kürze ist diese bio­gra­phi­sche Abhandlung über Leben, Wirken und Werk von Denis Diderot mehr als nur eine Einleitung. Der „Streifzug” zeich­net ein wirk­lich umfas­sen­des Bild des Menschen, des Universalgelehrten, des krea­ti­ven Geistes und des Gesellschaftskritikers Denis Diderot. Und Raupp idea­li­siert den Menschen Diderot kei­nes­falls, ver­schweigt des­sen per­sön­li­che Schwächen nicht. So ent­steht zugleich ein rea­lis­ti­sches Bild der vor­re­vo­lu­tio­nä­ren fran­zö­si­schen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts.

Diderot wächst in gut­bür­ger­li­chen und from­men Verhältnissen auf. Sein Weg scheint vor­be­stimmt durch den Besuch eines Jesuitenkollegs in sei­ner Heimatstadt, er soll ein­mal die „beträcht­li­chen Pfründe” sei­nes Onkels über­neh­men. Und pri­mär um die eige­nen Pfründe ging und geht es immer noch in der Machtinstitution katho­li­sche Kirche, trotz aller sal­ba­dern­den pries­ter­li­chen Phrasen von Seelsorge und barm­her­zi­ger Nächstenliebe. Doch es sollte anders kom­men.

Im Alter von 15 Jahren zieht Diderot nach Paris, um dort seine Ausbildung fort­zu­set­zen. In Paris wird der junge Mann von der in den lite­ra­ri­schen Salons um sich grei­fen Umbruchstimmung der Aufklärung erfaßt. So bricht er das anfäng­li­che Studium der Theologie ab, da er die kir­chen­christ­li­chen Dogmen immer mehr in Zweifel zieht. Ihn treibt gren­zen­lose Neugier und er stürzt sich auf ein brei­tes Spektrum von Wissensgebieten, sowohl geistes- als auch natur­wis­sen­schaft­li­cher Art. Sein unkon­ven­tio­nel­ler Lebensstil (er liebt nun mal auch sol­ches: „Ein guter Tisch, gute Weine, schöne Weiber”) bringt ihn früh­zei­tig und zeit­le­bens in Schwierigkeiten. Noch mehr trifft das auf die von ihm ver­faß­ten ket­ze­ri­schen Schriften zu. Seine Studien ent­fer­nen ihn immer mehr vom Katholizismus, vom Christentum über­haupt. Raupp schreibt dazu: „Die ori­gi­nel­len Ausführungen (…) kün­den bereits die moderne Evolutionstheorie an. Zugleich mar­kie­ren sie den ers­ten Über­gang vom Deismus zu Atheismus und Materialismus.” (S. 20)

Der Autor geht im Weiteren aus­führ­lich auf Diderot und des­sen berühm­tes­tes und wich­tigs­tes Buchprojekt, die „Encyclopédie”, ein – eine wahre „Weltkarte der Erkenntnis” und nicht min­der das „Sturmgeschütz der Aufklärung”. Und zur Erkenntnis gehört unwei­ger­lich auch dies: „Damit ein­her geht die Forderung nach der Trennung von Staat und römisch-katholischer Kirche ein­her. Letztere pro­fi­tiert bekannt­lich von der Unwissenheit des Volkes und bil­det als größ­ter Grundeigentümer im vor­re­vo­lu­tio­nä­ren Frankreich die Stützmauer des mor­bi­den Feudalismus, dem sie einen Heiligenschein gött­li­cher Würde ver­leiht.” (S. 25)

Raupp skiz­ziert dann auch die Talente des „skep­ti­schen Freigeists” Diderots auf den Gebieten der Kunst und Ästhe­tik, der Experimentellen Philosophie und der sich rasch ent­wi­ckeln­den Naturwissenschaften: „Als Jesuitenschüler ange­tre­ten, gelangt Diderot auf sei­nem Weg vom Theismus der frü­hen Jahre – mutig vor­an­schrei­tend – über den Skeptizismus, den Deismus hin zu einem dyna­misch gepräg­ten materialistisch-monistischem Weltbild…” (S. 42) Der Philosoph kann da an das reli­gi­ons­kri­ti­sche Testament des Priesters Jean Meslier (1664-1729) anknüp­fen: „Der Landpfarrer aus den Ardennen ver­tritt darin als einer der ers­ten Gelehrten der Neuzeit eine ent­schie­den atheistisch-materialistische Weltsicht, die zudem eine sozia­lis­tisch geprägte Konzeption der Gesellschaft dar­bie­tet“, so Raupp wei­ter auf S. 42.

Hierzu heißt es bei Raupp wei­ter: „Damit hat Diderot den exter­nen Schöpfergott, christ­li­cher oder deis­ti­scher Couleur, end­gül­tig aufs Altenteil geschickt. Dieses Gottesbild rühre von der Unwissenheit, Ängst­lich­keit und vom Glücksbedürfnis des Menschen wie auch vom ‚Priesterbetrug‘ her (…) Ebenso sei die christ­li­che Moral eine Verirrung, sie stehe der Natur ent­ge­gen und bürde dem Menschen anstelle der wesent­li­chen sozia­len Pflichten schi­mä­risch geist­li­che Pflichten auf. Zudem seien über­haupt die christ­lich anti­ken Dogmen schon lange ver­gilbt; die Bibel, beson­ders das Alte Testament, ent­halte obskure Geschichten, ja aben­teu­er­li­che Räuberpistolen, die eines Gottes nicht wür­dig seien, und das repres­sive Christentum habe in den zurück­lie­gen­den Aberhunderten von Jahren eine blu­tige Kriminalgeschichte ver­an­stal­tet, die jeg­li­chem Wahrheitsanspruch ohne­hin zuwi­der­liefe.” (S. 44) Werner Raupp kon­sta­tiert bezug­neh­mend auf Diderots „evolutionistisch-humanistischem Menschenbild” (das ja auch ein Weltbild ist): „Mit sei­nen Vorstellungen eines dyna­mi­schen Materialismus hat der fran­zö­si­sche Aufklärer die moderne Evolutionstheorie Darwins ange­kün­digt und ebenso auf den dia­lek­ti­schen Materialismus des 19. Jahrhunderts (Marx, Engels und Lenin) ein­ge­wirkt.” (S. 47)

In die­ser bio­gra­phi­schen Skizze dür­fen natür­lich Aussagen über Diderots Debatten mit ande­ren Philosophen ebenso wenig feh­len wie Aussagen über Entstehung, Inhalte und Wirkung sei­ner Schriften (z.B. Goethe), ein­schließ­lich der Theaterstücke und Romane. Zu nen­nen wären hier u.a. die „auf­wüh­lende Klostersatire” „Die Nonne” (ent­stan­den um 1760), der sati­ri­sche Dialogroman „Rameaus Neffe” (1762-1773), der „liber­tine Schlüsselroman” „Die geschwät­zi­gen Kleinode” (1748).

Diderot – ein Kompagnon der Moderne

Angesprochen wird auch Diderots Rußland-Aufenthalt auf Einladung der „auf­ge­klär­ten” Zarin Katharina II. (Oktober 1773 – März 1774). Dazu schreibt Raupp: „Vor allem nach sei­ner Rückkehr aus der rus­si­schen Hauptstadt kämpft der huma­nis­ti­sche Aufklärer mit offe­nem Visier für Freiheit und Demokratie. Fortan weiß er sich zum Anwalt des ‚Dritten Standes‘ bestellt, der (…) gegen­über den obe­ren Ständen von Adel und Klerus die Last des Landes zu tra­gen hat.” (S. 61) Und Diderot schließt in seine Gesellschaftskritik nach­hal­tig die Kritik am euro­päi­schen Kolonialismus und der Versklavung der soge­nann­ten Naturvölker durch die christ­li­chen euro­päi­schen Eroberer ein.

Werner Raupp wür­digt den „Kompagnon der Moderne” – bezug­neh­mend auf die wider­sprüch­li­che Rezeption des Diderot’schen Oevre nach des­sen Tode – mit die­sen Worten: „Auch in unse­ren Tagen ist Diderots Stern noch lange nicht am Sinken. Der phi­lo­so­phe erweist sich in man­cher­lei Hinsicht als kom­pa­ti­bel mit Ansichten und Einstellungen des spä­ten 20. und des begin­nen­den 21. Jahrhunderts, etwa mit den Themen Feminismus, Kommunismus und Anarchie und beson­ders mit Trans- und Posthumanismus.” (S. 71) Der Autor hebt her­vor, daß Diderot frü­her beson­ders in Deutschland, heute vor allem in Japan und China beson­ders wahr­ge­nom­men wird, wäh­rend sich das offi­zi­elle und aka­de­mi­sche Frankreich mit einer sol­chen Anerkennung sehr lange sehr schwer getan hat.

Werner Raupp, geb. 1955 in Karlsruhe, stu­dierte Philosophie, Theologie und Neuere Geschichte; 1996 wurde er zum Dr. theol. (!) pro­mo­viert. Raupp ist Mitbegründer und Geschäftsführer des humanistisch-philosophischen Arbeitskreises Tusculum. Mit zahl­rei­chen eige­nen Publikationen unter­stützt er die Kirchen- und Christentumskritiker Karlheinz Deschner und Gerd Lüdemann.

Siegfried R. Krebs

Werner Raupp (Hg.): Denis Diderot – Ein funkensprühender Kopf. 100 Gedanken. Ein Mosaik zum 300. Geburtstag des französischen Philosophen. 154 S. m. Abb. Paperback. Tectum Verlag. Marburg 2013. 8,95 Euro. ISBN 978-3-8288-3164-3

[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]

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