Gestern war ich bei Armin im Sanatorium zu Besuch. Doch der Verrückten nicht genug – Melvin hat mich begleitet. So kam ich zu einem interessanten Gespräch bereits auf der Hinfahrt.
„Mein Alter spinnt wieder“, begann Melvin unvermittelt. „Er ist ein mühsamer Greis.“
„Wie alt ist denn dein Vater?“, wollte ich wissen.
„80 und kein bisschen weiser.“
„Aha, woran liegt das denn?“
„Er kann einfach nicht loslassen und das Leben geniessen. Dabei wäre es höchste Zeit. Stattdessen jammert er rum, wie alt er sei und dass ihn die Jungen nicht verstehen würden.“
„Also keine Altersmilde?“
„Keine Spur. Er ist noch immer ganz der Alte. Am meisten wurmt es ihn, dass aus mir nicht das geworden ist, was er sich vorgestellt hatte. Es musste ja immer alles nach seinem Kopf gehen. Kaum hatte ich meine Lehre als Radioelektriker abgeschlossen, hat er mir ein Radio und TV-Geschäft gekauft.“
„Wie grosszügig von ihm!“
„Berechnete Grosszügigkeit. Bei ihm ist nichts gratis, hinter jedem Geschenk steckt eine Erwartung.“
„In diesem Fall erwartete er von dir wohl eine erfolgreiche Geschäftstätigkeit. Das ist doch normal.“
„Die meisten Vögel scheissen in ein Nest, das sie nicht selbst gebaut haben.“
„Undankbare Vögel“, grinste ich.
„Ich wollte einfach nicht mehr nach der Pfeife meines Vaters tanzen.“
„Was hast du getan?“
„Ich ging pleite.“
„Eine interessante Lösung“, frotzelte ich. „Aber wieso spinnt dein Alter jetzt wieder, wie du sagst?“
„Nach seiner Pensionierung konnte er natürlich nicht aufhören, Menschen herum zu kommandieren. Er hat sich in allerlei Projekte gestürzt.“
„Wieso nicht? Das ist doch besser, als den ganzen Tag vor der Glotze zu hocken und auf den Sensemann zu warten.“
„Ja schon, aber für seine Projekte brauchte er immer ein paar Helfer, die er herumkommandieren konnte und die seine Träume verwirklichten.“
„Tja, ohne Bodenpersonal geht eben nichts. Was ist daran falsch?“
„Jetzt wachsen ihm seine Projekte über den Kopf und er will sie loswerden.“
„Aha, ich verstehe, und du bist die Person der Wahl.“
„Ja, ich soll den ganzen Basar übernehmen und sein Werk fortführen. Er erwartet damit eine gewisse Unsterblichkeit und hofft, dass die Leute ihn nicht vergessen werden. Denn davor fürchtet er sich am meisten. Davor, dass er vergessen wird. Davor, dass er plötzlich allein ist…“
„…und sich mit sich selbst auseinandersetzen muss. Ich verstehe.“
„Ja, und das letzte und wichtigste Projekt im Leben ist der eigene Tod.“
Fortsetzung folgt. Euer Traumperlentaucher