Ein kurzer Satz voll Weltanschauung

 

Labour griff das elitär-snobistische Substrat des Thatcherismus auf, aus welchem letzterer seinen Antrieb für eine kalte Sozialpolitik bezog. Er nahm sozialdarwinistische Dogmatik in sein Konzept auf, um den Sozialabbau als ethische Handlung begründen zu können. Die stets paffende, dauerhaft saufende und Geld verprassende Unterschicht war eines der Märchen, das der Thatcherismus in die Welt setzte, um damit eine Politik der Herzlosigkeit für moralisch geboten zu konstatieren. Die Labour Party distanzierte sich in der Zeit der Opposition nicht davon, sondern nahm nach und nach die Ansichten und Überzeugungen der Conservative Party unter Thatcher auf und rüttelte nicht mehr an deren Wahrheitsgehalt. Aus der elitären Doktrin des Kreises um Thatcher wurde Parteidoktrin und wurde letztendlich Staatsdoktrin. Owen Jones beklagt das als eine der Wurzeln der Alternativlosigkeit, in die sich die politische Landschaft Großbritanniens hineinlavierte.

Die deutsche Sozialdemokratie hat viel von diesem New Labour gelernt und kopiert. Sie hat die Doktrin des faulen und genusssüchtigen Bodensatzes der Gesellschaft forciert und damit den Sozialabbau gerechtfertigt, den sie Reformen nannte. Dass man diese Doktrin nicht für einen Irrtum vergangener Jahre hält, macht der amtierende Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten nachdrücklich klar, als er vor einigen Tagen in einem Interview auf die Frage, ob das Kindergeld erhöht werde, mit folgenden Sätzen antwortete: "Schon zehn Euro Erhöhung würden den Staat eine Milliarde kosten. Und man weiß dann auch nicht, wo das Geld hingeht. Zehn Euro sind ja auch zwei Schachteln Zigaretten, zweieinhalb Bier oder zwei Pinot Grigio." Er hat außerdem noch deutlich gemacht, dass er persönlich keine Flasche Pinot Grigio für fünf Euro kaufen würde, was bei einigen Medien mehr Aufmerksamkeit erhielt, als die snobistische Essenz seiner Antwort.
Viel hat man darüber geschrieben, dass Steinbrück keine neue Sozialdemokratie vertrete, sondern den schröderianischen New Labour-Gedanken zu neuen Höhen treiben möchte. So deutlich wie mit diesem flapsig formulierten Zeilen hat er das womöglich vorher nicht unterstrichen. Was er da von sich gab, ist nicht weniger als der Urgedanken jedes neoliberalen Sozialabbaus, nämlich den, dass die Menschen, die in armen Verhältnissen leben, nicht mit Geld umgehen können, es für sinnlose Genüsse verpulvern, statt es wohlüberlegt anzulegen oder zu investieren. Weil Menschen in armen Lebensverhältnissen das Geld, das sie plötzlich mehr haben, nur für Quatsch ausgeben, so glaubt der snobistische Blick auf die Welt, dürfe man ihnen nicht noch mehr finanzielle Zuwendung erteilen und sollte sie zudem noch Kürzungen unterwerfen, um unsinnig verbrauchte Ressourcen vor den Exzessen der Unterschicht in Sicherheit zu bringen.
Es schwingt noch mehr mit in der Denkart, Menschen in Armut würden das ihnen erteilte Geld verschwenden. Man konstruiert daraus einen weiteren Rechtfertigungsansatz, um eine gerechte Sozialpolitik zu unterlassen. Wenn nämlich Menschen aus armen Verhältnissen Geld verschleudern, dann sind sie nicht ganz unschuldig an ihrer Situation. Leben in armen Verhältnissen wird damit zu einem Verschulden, spielt sich nicht nur zwischen auflaufenden Schulden ab, sondern ist eine Schuld, die man selbst verbrochen hat. So als könne jemand, der seine knappen Mittel mit Bedacht ausgibt, niemals in Armut gelangen. Steinbrück sagt das nicht direkt, wie das die Apologeten des Sozialabbaus, wenn sie sich dieser sozialdarwinistischen Impulse bedienen, generell nie unmittelbar sagen. Aber sie lassen es einen wissen, haben eine Perfidie entwickelt, Dinge zu benennen ohne sie zu nennen.
Der Sozialabbau kann so mit zweierlei Mitteln gerechtfertigt werden. Erstens, weil Hilfe immer an der Unbelehrbarkeit und der Unfähigkeit der Armen scheitert und, zweitens, weil Armut als das Produkt eigener Fehler im Almanach der unhinterfragten Selbstverständlichkeiten geführt wird. Wie sehr die neoliberale Ökonomie die Evolutionslehre auf menschliche Gesellschaft übertragen hat, läßt sich an seinen Erkenntnissen ablesen. Folgt man einmal seiner Logik, wonach Menschen in Armut mit Geld nicht umgehen könnten, also unfähig sind und zieht man daraus den Schluss, dass Armut Selbstverschulden heißt, womit als Summe die Einsicht entsteht, dass Sozialabbau nicht verwerflich, sondern vielleicht sogar anständig ist im Anbetracht der Prämissen, so wird das survival of the fittest offenbar, das dieser Denkweise zugrundeliegt. Unfähigkeit wird zur Schuld wird zur Einstellung der Hilfe. Wer nicht fähig ist, wer damit nicht unschuldig bleibt, der bleibt auf der Strecke. Das ist die evolutionäre Konstellation, die im Dschungel oder in der Savanne vorzufinden ist. Unfähigkeit (wenn man sie mal kurz für bare Münze nimmt) zu strafen ist kein zivilisatorischer Ansatz, sondern mit fiskalen Maßnahmen betriebener Biologismus.
Steinbrück bringt mit seinem kurzen Statement das gesamte Menschen- und Gesellschaftsbild des Neoliberalismus zur Sprache. Und er ist also der Mann für eine neue sozialdemokratische Zeit ...


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