Das deutsche Wesen soll die Welt einlesen

 

oder: deutsche Tugend soll Exportschlager werden.
Letzte Woche las man gehörig viele Gründe, weshalb Vettel die Formel 1 abermals gewann. Meinte man vielleicht in seiner Unwissenheit, er habe einfach nur die beste Konstruktion gehabt - immerhin gewann sein Team auch jene Wertung -, den stärksten Motor, so wurde man im Feuilleton eines Besseren belehrt. Dreimalig weltmeistern kann man nämlich nur, wenn man schwer an deutschen Tugenden leidet. Und Vettel tut dies. Einer solcher Kommentatoren meinte endlich sogar, dass "niemals aufgeben, selbst in aussichtslos erscheinenden Situationen" etwas sehr Deutsches sei. Ich indes frage mich nun seither, ob dieses Niemals aufgeben, selbst in aussichtslos erscheinenden Situationen! nicht auch auf den angewandt werden könnte, der einst niemals aufgab in seinem Bunker, der selbst in aussichtslos erscheinender Situation den Endsieg anordnete. War der nun explizit tugendhaft?

Deutschsein ist demgemäß nicht nur etwas, das sich auf einen Ausweis mit deutschem Stempel erstreckt, sondern etwas Mystisches, etwas Qualitatives, etwas Sittliches. Beharrlich bleiben, hundertprozentiger Einsatz, Fleiß und Ziel vor Augen. Deutsche Tugenden führen zum Erfolg, sie sind das Fundament von internationalen Titeln. Fraglich ist, ob beispielsweise die spanische Jugendförderung im Fußball nicht deswegen deutsch ist, weil sie erfolgreich war. Hat Armstrong nicht auch niemals aufgegeben und mit einem Ziel vor Augen selbst in aussichtslosen Situationen gestrampelt wie irre? Ist er Deutscher? Tugenden, die man den Deutschen andichtet, sind Verhaltenskodizes von Menschen, nicht von Nationalitäten.
Nichtsdestoweniger hat die große Offensive deutscher Tugendhaftigkeit in Europa begonnen. Der eine meinte, man spricht in Europa wieder deutsche Zunge, als ob das immer irgendwie ein latentes Ziel gewesen sei. Der nächste lobt die effektive Tugendstärke von deutschen Beamten, die personalabbauend leisten könnten, was in anderen Teilen Europas nicht mal in dreifacher Besetzung gelingen würde. Und gewinnt jemand etwas Internationales, so sind es nicht seine persönlichen (oder die ihm zur Verfügung stehenden technischen) Attribute gewesen, die ihn erfolgreich sein ließen - man mystifiziert sie zu einer urdeutschen Sache, zu einem Erfolg nicht des Vettel beispielsweise, sondern zu einem Erfolg aller tugendhaften Deutschen. Vettel ist nach dieser Lesart nur der Statthalter des Formel 1-Sieges. Er nimmt die Ehrung stellvertretend für alle deutsche Tugendhaftigkeit an.
Die Welt mag am deutschen Wesen nicht genesen. Das gleich das Erdenrund gesundet, wäre pathetisch und in der heutigen rationell-redaktionellen Zeit nicht mehr angebracht. Aber die Welt könnte etwas annehmbarer werden, wenn diese Tugend in die Welt exportiert würde. In Sonntagsreden spricht man von europäischen oder abendländischen Werten und von westlichem Lebensstil - gemeint ist aber, die deutsche Tugend in diesen Sphären aufgehen zu lassen. Denn nur in der Tugend, wie sie in Deutschland traditionell ist, liegt die nächste Stufe der europäischen und vielleicht der globalen Weltgesellschaft. Das klingt alles übertrieben, alles etwas polemisch. Möglich, dass es das ist. Aber Floskeln wie Wenn alle so Strukturen hätten wie wir in Deutschland! oder Beste Qualität - made in Germany halt! oder Wenn sich die anderen nur ein wenig von Deutschland abschauten! kennt man hinlänglich.
Nur ein wenig deutscher sollte die Welt werden. Nicht viel, nur ein wenig. Das Bekenntnis zur Bescheidenheit ist in Deutschland, wenn man von seinem Sendungsbewusstsein nicht ganz in Sendungsbewusstlosigkeit fällt, sondern die Ansprüche leicht zurücknimmt. Statt dem Kodex, jeder solle nach seiner Fasson selig werden, hofft man auf DIN, auf Deutsche Ideal-Normung, für den Globus. Nur leichtes Drängen, kein Einmarschieren mehr. Zu tugendhaft sollten die anderen ja auch nicht werden, sonst sind Formel 1-Titel in Gefahr. Nur dezent zurücknehmen. Seit Ende des Weltkrieges hört man Sätze wie: Nur einen kleinen Hitler bräuchte wir. So bescheiden ist man geworden. Nur noch einen kleinen Herrn Hitler. Einen eingerahmten, wie ihn sich die Konservativen zu jener Zeit wünschten, in der Hoffnung, er sei gebändigt und befriedigt. Nur einen kleinen Hitler, kein großer mehr. Wir sind so bescheiden geworden! Kleine Hitlers und deutsche Tugenden als Kreditvergabekriterium. Da stellt sich die Frage: Ein Volk auf Lernkurs? Immer mehr Bescheidenheit bis zur Erkenntnis? Oder ist es doch nur gespielte Bescheidenheit und dezente Großmannssucht, um leise zu vollbringen, was einst scheiterte?
Wenn schon nicht genesen, so sollte die Welt wenigstens deutsche Tugenden einlesen, auf ihre Festplatte speichern, sie entpacken, installieren und gefälligst gebrauchen. Von Genesung spricht keiner mehr, aber Einspeisen und Einlesen in alle Kanäle - das wird man doch mal fordern dürfen!


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