Ein ganzes halbes Jahr

Im Oktober habe ich "Ein ganzes halbes Jahr" von Jojo Moyes gelesen, nachdem es hier schon länger lag.


Ich habe es geschenkt bekommen, aber nach 1-2 Kapiteln war mir das Thema eine zu schwere Kost, um es zu lesen.


Ohne mir vorher die Bewertungen durchzulesen oder weitere Informationen zu dem Buch zu suchen, fing ich es vor ein paar Wochen an. Ich glaube, ich habe bei dieser Geschichte alles erwartet, nur nicht das. 
In meinem Text wird viel gespoilert, überlegt euch also hier an dieser Stelle, ob ihr weiter lesen möchtet, falls ihr noch vorhabt, das Buch zu lesen.

Das erfahren wir bei Amazon:

"Louisa Clark weiß, dass nicht viele in ihrer Heimatstadt ihren etwas schrägen Modegeschmack teilen. Sie weiß, dass sie gerne in dem kleinen Café arbeitet und dass sie ihren Freund Patrick eigentlich nicht liebt. Sie weiß nicht, dass sie schon bald ihren Job verlieren wird – und wie tief das Loch ist, in das sie dann fällt. Will Traynor weiß, dass es nie wieder so sein wird wie vor dem Unfall. Und er weiß, dass er dieses neue Leben nicht führen will. Er weiß nicht, dass er schon bald Lou begegnen wird."

Durch diesen Klappentext erfahren wir nicht viel, ehrlich gesagt. Vor allem wird mit keinem Wort erwähnt, was für ein schweres Thema hier behandelt wird. 

Liest man den Klappentext erwartet man eine Liebesgeschichte, die einige Hürden überwinden muss.


Wir können uns gar nicht auf den Kampf vorbereiten, den Will Tag für Tag kämpfen muss und wie schwer es für Lou wird, Will zu helfen. 
Die Themen Freitod, Behinderung und Lebenslust nehmen hier den größten Teil der Geschichte ein, fast ist ihre Liebesgeschichte nur eine Randerscheinung. 
Wer "Das Meer in mir" kennt, dem wird Wills Behinderung nichts Neues sein und auch die Themen kehren hier zurück.


Aber eins muss ich hier sagen: es ist keinesfalls dasselbe wie "Ziemlich beste Freunde".
Es ist nicht dieselbe Geschichte, nur mit einem Mann und einer Frau, die sich verlieben. 
Es ist dieselbe Behinderung, aber der eine bejaht sein Leben, nimmt sein neues Leben an, der andere will es beenden. 


"Ziemlich beste Freunde" dient den positiven Seiten, wie gut ein solches Leben sein kann, "Ein ganzes halbes Jahr" widmet sich der anderen Seiten, den Menschen, die unter keinen Umständen damit leben können und wollen. Also, wie kann man sagen, dass es dasselbe ist? Hier ist ein Unterschied zwischen Leben und Tod.
Den folgenden Text hab an den Tagen nach dem Lesen geschrieben und füge ihn einfach mal hier ein:

Ich gehe durch die Straßen, mache Einkäufe, der Wind zerzaust mein Haar, kurz werde ich angerempelt, ich höre ein leises 'Tschuldige, aber es ist ganz weit weg, denn mit den Gedanken bin ich ganz woanders. Wie in Trance zahle ich an der Kasse, in Gedanken höre ich immer wieder dieselben Worte, immer wieder dieselbe Szene. Vor drei Tagen habe ich das Buch gelesen, und doch stecke ich immer noch darin fest. 


"Naja...okay...vielleicht wollte ich, dass sie es hören. Ich wollte, dass Sie über das nachdenken, was sie tun."
"Ach, also darüber, wie ich mein Leben nutzlos verstreichen lasse?" "Ja, eigentlich schon."

"Meine Güte, Will. Ich wünschte, Sie würden aufhören, mir zu erzählen, was ich zu tun habe. Was ist, wenn es mir gefällt, vor dem Fernseher zu sitzen? Was ist, wenn ich keine Lust habe, etwas anderes zu machen als ein Buch zu lesen?" Meine Stimme war schrill geworden. "Was ist, wenn ich abends müde bin? Was ist, wenn ich meine Freizeit nicht mit Aktionismus ausfüllen möchte?"
"Aber es könnte der Tag kommen, an dem Sie sich wünschen, Sie hätten es getan" sagte er leise. "Wissen Sie, was ich an Ihrer Stelle tun würde?"
Ich lege das Schälmesser weg. "Ich vermute, das werden Sie mir gleich erzählen.""Ja. Und das ist mir kein bisschen peinlich. Ich würd in die Abendschule gehen. Ich würd mir eine Ausbildung als Schneiderin oder Modedesignerin suchen oder was auch immer Sie wirklich machen möchten." ..."Ich würd herausfinden, was ich tun könnte, das nicht zu teuer ist- Fitness-Kurse, Schwimmen, ehrenamtliche Arbeit, egal. Ich würde lernen ein Instrument zu spielen, lange Spaziergänge mit dem Hund anderer Leute unternehmen oder..." 

Die Sätze brennen sich in meine Seele, die Schichten, die mein Innersten verpacken, schälen sich ab, fallen ab, und seltsam verletzlich stehe ich in dieser Geschichte.


Ich fühle mich wie ein offenes Buch, dass nicht mehr zu schließen ist.
Ich fühle mich Will und Lou so nah. 

Will, weil ich in einer ähnlichen Situation war. Nein, ich saß noch nie in einem Rollstuhl und auch habe ich die volle Kontrolle über meinen Körper, aber das Schicksal hat mich selbst vor einigen Jahren in die Knie gezwungen.


Es gab einmal eine Zeit, da war alles so, wie es sein sollte. Wenn man jung ist, gesund ist.
Als ich an den Wochenenden vom Feiern nach Hause kam, mit einer neuen Nummer im Handy und einem tollen Jungen im Kopf, als hinter jedem Tag ein Abenteuer gewartet hat, als ich noch dachte, die beste Freundin könnte sich niemals abwenden.
Als meine Füße wund getanzt waren und das Leben ewiglich erschien. Leben war etwas Wunderbares, etwas Besonderes und Kostbares und ich kann sagen, dass ich es in allen Maßen genossen und wertgeschätzt habe.
Alles roch danach, gut zu sein. 


Bis ich irgendwann einmal alles aufgeben musste. Rückblickend ging alles sehr schnell, mit dem Tag, an dem ich nicht mehr all das Essen konnte, was ich wollte bis zu dem Tag als ich nicht mehr alleine rausgehen konnte und auf Hilfe angewiesen war und bis zu dem Tag als die ersten wichtigen Freunde sich nicht mehr gemeldet haben.
Heute dauert es für mich 10 min. all das zu erzählen, aber in Wirklichkeit sind mehr als 3 Jahre vergangen.


Wie oft saß ich eng umschlungen in meiner Decke und hab mir ausgemalt, was ich alles tun würde, sobald ich nur könnte.


Von den kleinsten Dingen bis hin zu den größten. Eine neue Kuchensorte probieren in meinem Lieblingscafé. Einen langen Spaziergang im Wald im Herbst, der schwerer zu erreichen ist. Endlich zu diesem großen Bastelladen fahren, zu dem ich schon so lange wollte und kaufen, was immer ich wollte. An einem Tag so viel zu essen, egal wie fettig oder süß das Ganze wäre, dass ich platze. Meinen Geburtstag endlich in Amsterdam verbringen. Einen kleine Städtetrip machen.
Ein ganzes halbes JahrWie viele Liste habe ich angefangen, mit Dinge, die ich tun wollte? Und wie überzeugt war ich, dass ich das alles tun würde.


Als es endlich soweit war, dass ich Schritt für Schritt meine Pläne erfüllen konnte, wurde ich zu Lou.
Wie oft tun wir die Dinge nicht, die wir tun könnten, weil wir gerade keine Lust haben? Alles wieder von uns schieben, weil es gerade so anstrengend ist?


Kann ich mich jetzt noch daran erinnern, wie entschlossen ich damals war, wie überzeugt ich war?
Ich kann dieses Gefühl nicht mehr heraufbeschwören, aber wenn ich mich daran erinnere, weiß ich, wie groß und stark meine Entschlossenheit war. Ich weiß, wie fest ich daran geglaubt habe, all das zu tun, egal wie klein die Pläne waren; ich weiß, dass ich das Gefühl hatte, allein mit meinem Glauben hätte ich Berge versetzen können und umso trauriger ist es, wenn sie doch nicht getan wurden. 
Ich hatte vorher keine Bewertung zu dem Buch durchgelesen und wusste überhaupt nicht, was auf mich zu kam.


Ich hab mit dieser schonungslosen Ehrlichkeit nicht gerechnet, die mich treffen würde.
Das ist einer der Punkte, die mich sogar noch mehr berührt haben als den Rest der Geschichte, weil es so nah an meinem eigenen Leben liegt. 
Das Buch hat noch viel mehr zu bieten als Will und Lou als Liebesgeschichte, viel wichtiger ist es doch, dass es uns darauf aufmerksam macht, ob wir uns im Leben auf die wichtigen Dinge konzentrieren.

Was macht unser Leben aus, was macht es lebenswert und was würde uns brechen?

Was will unser Geist und was verwehren wir ihm?
Wo hört für uns ein lebenswertes Leben auf?
Ich muss gestehen, dass ich mich nie näher damit befasst habe, was Rollstuhlfahrer für ein Leben haben.


Es war mir klar, dass die Infrastruktur mehr als zu Wünschen übrig lässt. Wie oft stand ich auf einem so kleinen Gehweg, dass ich dachte, wenn selbst ich hier kaum darauf gehen kann, wie soll das ein Rollstuhlfahrer können? Aber für mich war ein Rollstuhlfahrer einfach jemand, der im Rollstuhl sitzt. Punkt, mit nichts dahinter.


Ich wusste nichts von den immer wiederkehrenden Schmerzen und Infektionen, die unzähligen Probleme im Alltag und was sie tatsächlich alles aufgeben müssen. Dass sie nicht ins Kino können, unkontrolliert zittern, einen Flug buchen, wenn die Quote schon erreicht war, ohne bestimmte Reifen an den Strand zu fahren, spontan irgendwohin zu gehen...
Auch das hat dazugeführt mich viel mehr mit dem Thema auseinanderzusetzen.Ich konnte Will verstehen, dass sein Entschluss derselbe geblieben ist, auch wenn er eine Frau getroffen hat, die ihm so viel Liebe entgegenbringt.


Aber sein Entschluss bleibt bestehen und nichts anderes habe ich von ihm erwartet.
Ich kann verstehen, dass Will nicht dieser Mann im Rollstuhl sein kann, von dem alle hoffen, dass es wird und sich damit abfindet. Er möchte der Mann sein, der Lou ausführt und ihr die Autotür öffnen kann, der sie halten und beschützen kann und mit ihr tun kann, was er möchte. Und dieser Mann ist er eben nicht mehr.


Es ist unerträglich, denn für mich ist es verständlich, dass es für ihn untragbar ist, zu akzeptieren all das nicht mehr tun zu können und sich Tag ein, Tag aus damit auseinanderzusetzen und das akzeptieren müssen. Jeder Tag ein Kampf.
Eben aus diesem Grund kommt es für ihn auch nicht in Frage, mit Lou in Paris in diesem Café zu sitzen, denn das würde bedeuten, dass er diesen neuen Will akzeptiert, ein neues Leben einschlägt.


Ob es Will schwach oder stark erscheinen lässt, weiß ich nicht.
Schwach, weil er nicht den Mut hat, diesen neuen Weg zu gehen, und das Leben so zu nehmen, wie es kommt und vor allem nicht aufzugeben oder stark, weil er keine Angst hat, das Leben zu beenden, dass er führt und weil keine anderen Umstände, selbst Liebe nicht, ihn an seiner Entschlossenheit zweifeln lassen, weil er genau weiß, was er will und was nicht.
Zu seinem Leben sollte mehr gehören, als die vorbereiten Abenteuer von Lou und dass er von A nach B von jemanden geschoben wird, nicht mehr in der Lage ist, alleine zu essen und von ihr den Darm entleert zu bekommen.
Und wenn ich Lou wäre, würde ich nicht auch alles für Will tun? Natürlich. Ich würde alles versuchen, was in meiner Macht steht, aber in Wahrheit würde ich es nur scheinbar für Will tun, denn eigentlich tue ich es für mich. Weil ICH Will nicht loslassen kann, weil ICH nicht akzeptieren kann, wie endgültig alles ist, weil ICH glauben würde, was gut für Will ist, und das einzige was Will sich wirklich wünscht, verwehre ich ihm: sein Recht auf Selbstbestimmung.
Es ist schwer, hart und unerträglich, aber wenn es nichts mehr zu sagen gibt, ist es Zeit los zulassen.


Und genau wie Lou braucht man Mut und Stärke auch den letzten Schritt mitzugehen und nicht davor zurück zu schrecken. Schlimmer ist, es immer zu bereuen ihn  nicht gegangen zu sein.
Am Ende kann man nur das bereuen, was man nicht getan hat.
Ein ganzes halbes JahrLou hat 6 Monate Zeit Will davon zu überzeugen, wie lebenswert und wertvoll sein Leben ist, aber es ist genau anderes herum. Will hatte 6 Monate Zeit Lou zu überzeugen, ihren Horizont zu erweitern und ihr Leben zu nehmen und etwas daraus zu machen. Man sieht, dass er all die Dinge nur noch für Lou tut, und nicht für sich selbst. Was sind schon 6 Monate, um jemanden aus seiner Depression und Lethargie zu reißen? Gar nichts.
Wenn man so einen schweren Schicksalsschlag einstecken muss, ist es klar, dass man nicht weiter leben möchte.


Wills Leben wäre lebenswert. Man kann es auf jeden Fall lebenswerter machen.
Ich finde, man sollte Will davor schützen, so eine vorschnelle Entscheidung zu treffen und den richtigen Menschen engagieren, der aufzeigt, was noch alles möglich ist.
Denn genau das würde ich mir wünschen selbst zu tun: nicht aufgeben, lernen, was noch alles möglich ist, meinem Partner anzutreiben, eine völlig neue Welt zu entdecken. Eine völlig andere Welt, als wir sie bisher kannten, aber eine Welt, in der leben möglich ist für ihn, ohne damit sein Stimme und seine Selbstbestimmung dafür einzubüßen.
Denn egal wie schwer das ist, das schulde ich ihm. Das darf ich niemandem wegnehmen. Und sollte es dann immer noch so ein Wunsch sein, den Freitod zu wählen, darf ich mich auch davor nicht verschließen.


Man darf sich nicht davor verschließen, der Wahrheit ins Auge zu blicken, wie die Realität für diesen Menschen aussieht. 
Denn wie Will auch sagt, niemand möchte hören, wie schlimm es für ihn ist.
Jeder denkt dabei nur an sich und glaubt zu wissen, was "gut" ist, und einem Menschen, der nicht mehr selbst für sich stehen kann, da ist es schon fast grausam, ihn auszuschließen und über seinen Kopf weg zu entscheiden.
Ein ganzes halbes JahrKeine Frage, man stolpert über mehrere Dinge im Buch, die einfach nicht passen ( sie ist betrunken und vergisst, seinen Katheter zu wechseln, wodurch er krank wird, sie lässt ihn einfach am Strand stehen ohne das er sich von da aus bewegen kann), und vielleicht ist es auch nicht besonders gut recherchiert,  aber doch ist es bemerkenswert und emotionsgeladen wie ehrlich Jojo Moyes die Dinge ausspricht. Und durch diese tiefgründigen Dialoge glaube ich tatsächlich, dass der ein oder andere sein Leben überdenkt. 


Für mich war dieses Buch keine Liebesgeschichte, es ging mir nicht um die romantischen Momente, oder darum, dass Lou ganz kitschig sein Geld vererbt bekommt, um das Leben zu genießen. Nein- dieses Buch hat mich aufgewühlt und geschüttelt, wie ich es nicht erwartet habe.
Es hat mich auf eine Art und Weise berührt, die nichts damit zu tun hat, wie zart die Liebe zwischen Will und Lou war.Von den Tränen am Ende, bin ich mir nicht sicher, ob sie aus Freude oder Leid entstanden sind. Vielleicht beides.Ich bewundere den Mut von Lou und auch den von Will. Zum Schluss wollte ich mich selbst stoppen, nach jedem Absatz habe ich eine Pause gemacht, wollte nicht schneller lesen, um Will zumindest gefühlt noch am Leben zu erhalten.Ich wollte nicht, dass es so schnell vorbei ist, so schnell vorbei geht und ich glaube, das ist genau das, was auch Lou sicherlich gefühlt hat. Aber genau wie Lou hab ich mich an den letzten Moment geklammert und mich doch getraut, weiter zu lesen. Das klingt unheimlich kitschig, aber tatsächlich waren das meine echten Gefühle. Ich weiß nicht mehr, wann ich mich das letzte Mal beim Lesen so verletzlich gefühlt habe und wie hautnah ich das Ganze erlebt habe. Schade fand ich, dass wir von allen einmal die Sicht lesen durften, nur nicht von Will. Und so bleibt er wieder stumm und ihm wird auch in dieser Hinsicht wieder die Stimme genommen.Aber letztendlich ist es, denke ich, auch unheimlich schwer als gesunder Mensch, in diesem Falle Jojo Moyes, aus dieser Sicht zu schreiben und es wäre vielleicht auch einfach zu viel von der Autorin verlangt. Ein ganzes halbes Jahr


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