„Mami, bringst du mir was mit? Was Spannendes, was zum Spielen und Schokolade!“ So lauteten in den 80er Jahren in einem Fernsehspot die drei Wünsche eines blonden Dreikäsehochs an seine Mutter, die gerade dabei war, mit dem Cabrio zum Einkaufen abzubrausen. Ganz dem Bild der heilen Familie entsprechend, setzte sich sofort der Bruder der Kleinen neben die Mama ins Auto, um dieser bei der „schwierigen“ Aufgabe der Suche nach den drei Wünschen behilflich zu sein. Wenn man die Bitte nach der Schokolade weglässt und „was zum Staunen“ dagegen einsetzt, so hat man eine schöne Zusammenfassung, die den jenen Abend unter der Fifoo-Federführung charakterisiert, der im Palais Kabelwerk am 13. August Erstaunliches bot. Unter dem Namen „project pinwheel“ waren Esther Balfe, Frey Faust und Young Doo Jung eingeladen worden, ihren Gedanken zum Thema „Family of Artist“ freien, tänzerischen Lauf zu lassen.
Klicke, um die Slideshow anzusehen.Die Soloperformerin und ihre beiden männlichen Kollegen interpretierten diese Grobvorgabe auf unterschiedliche Art und Weise, wobei die Übergänge zu ihren jeweiligen Auftritten fließend vonstattengingen und sich so immer wieder auch gemeinsame Anknüpfungspunkte ergaben.
Mit Esther Balfe aus Großbritannien stand ein ehemaliges Mitglied und eine derzeitige Gasttänzerin der Forsythe Company auf der Bühne, die auch am Konservatorium in Wien eine Tanzprofessur innehat. Mit nur drei Requisiten – einem Scheinwerfer und zwei unterschiedlich großen Würfeln – schuf sie eine Bedeutungsebene, die als sichtbarer Hinweis auf jene Fragilität gedeutet werden kann, die jeder Familie innewohnt. Der kleinere Würfel war dabei so auf den großen aufgesetzt worden, dass er einen sehr Absturz gefährdenden Moment kennzeichnete. Man konnte sich gut vorstellen, dass er – hätte Balfe den Schwerpunkt auch nur ein klein wenig anders gesetzt – vom großen Würfel herunterfallen hätte können – was er aber bis zum Ende der Vorstellung nicht tat. Ihr Tanz selbst war zeitweise von einer musikalischen Untermalung begleitet, die Klänge wie aus einer längst vergangenen Zeit einspielte. War es ein altes Grammophon oder ein schlecht eingestelltes Radio, das auf Vergangenes verwies, das von Ferne andeutungsweise in die Gegenwart geweht wurde? Die Interpretation, dass Familie viel stärker auf uns wirkt, uns gefangen hält, als wir es uns eingestehen wollen, liegt dabei auf der Hand. Das breite tänzerische Spektrum Balfes war von kantigen und ruckartigen Bewegungen charakterisiert, die sich in ihren Mikroanlagen gerne wiederholten. Dabei agiert sie so außerhalb des körperlichen Erfahrungsschatzes eines durchschnittlich motorisch begabten Menschen, dass man gar nicht anders kann, als ihrem Ideenreichtum gehörig Respekt zu zollen. Immer wieder musste sie sich während ihrer Vorstellung die Aufmerksamkeit des Publikums von Neuem erobern, da Faust und Young Doo Jung durch ihre Bühnenpräsenz ihr den Status der Soloperformerin abspenstig machten. Ein Kampf, den viele auch innerhalb Ihrer Familie kennen – bei dem es um Anerkennung und Aufmerksamkeit geht, die oft auf der Strecke bleiben.
Die Revanche kam umgehend, als sie ihrem Tanzkollegen Frey Faust kurz nach seinem Bühnenauftritt einen Kübel Wasser über den Kopf laufen ließ. Was als Racheakt begann, war in der Konsequenz nichts anderes als eine logische Ergänzung seiner Familieninterpretation. Minutenlang so am Boden so agierend, dass keiner seiner Füße diesen berührte, machte er seinen Körperzustand deutlich. Durchtrainiert bis in jede Faser, imitierte er verschiedene Entwicklungsstadien, angefangen von primitiven Lebewesen bis hin zu höher Entwickelten, die im Wasser ihren Ursprung haben. Die Dunkelheit, die ihn umgab und die spannende Beleuchtung seines Körpers, die mehr im Diffusen denn im Erhellenden angesiedelt war, erweckten die Aura eines unwegsamen Ortes unter Wasser. Der nasse Boden – Trauma eines und einer jedenTanzenden – war ihm ein willkommenes Element, in dem er sich nicht nur wohlfühlte, sondern das er sichtlich kreativ in seine Performance einbaute. Fausts wesentlich erweiterter Familienbegriff – bis zum logischen Hinweis unserer engen Verwandtschaft mit den Primaten – spielt auch in seinem Lehrprogramm „Axis Syllabus“ eine Rolle. Darin macht er klar, dass so manches tänzerische Trainingsprogramm sich nach einiger Zeit als krankmachend herausstellt, weil es nicht den physischen Gegebenheiten unseres Körpers angepasst ist. Als Weiterentwicklung im evolutionären System vom Tier zum Menschen sind diesem eben gewissen Bewegungen als natürlich gegeben und andere wiederum völlig kontraproduktiv – auch wenn das sowohl im klassischen als auch im zeitgenössischen Tanz oft negiert wird. Das Aufstehen auf seine zwei Beine am Ende seiner Performance markierte den Schlusspunkt der menschlichen Entwicklung und zugleich die Geburt des Individuums.
Der Koreaner Young Doo Jung, Begründer des Doo Dance Theaters, machte als Einziger seine Familienverhältnisse klar. Er zeigte mit einer kleinen, gestisch untermalten Aufzählung auf, wie viele Kinder seine Großeltern und Eltern hatten, um auf das bisherige Ende dieser Familienlinie, seine Tochter, hinzuweisen. Seine unglaublich harmonischen Bewegungen, wohl stark vom asiatischen Tai Chi beeinflusst, erfüllten den gesamten Raum. Nichts schien seine „Erzählung“ aufzuhalten, kein Schwung blieb ohne Gegenschwung, keine seiner Bewegungsenergien wurde nicht in eine neue umtransformiert. Da war die Überraschung groß, als er anmerkte, dass er gerne anders wäre, als die Menschen in seiner Familie. Die kleine Choreografie seiner rechten Hand hob sich auch merklich vom zuvor gezeigten Repertoire ab, um aber doch wieder in jene Bewegungsströme zu enden, mit denen der sympathische Tänzer zuvor schon so beeindruckte. Ein kleiner Kuss, einem imaginären Gegenüber gewidmet, versöhnte ihn am Ende mit seiner Abstammung und verwies zugleich auf liebevolle Gesten im Umgang mit der nächsten, noch so jungen Generation.
Eine kleiner, gemeinsamer Abspann ermöglichte allen Dreien noch einmal, die jeweils individuelle Körpersprache kurz aufzuzeigen. Mit der Abschlussaktion von Frey Faust, in welcher er das Publikum animierte, im Stehen mitzutanzen, endete der Abend allseits schweißtreibend. Dabei durfte man durch die eigene Bewegungserfahrung noch im Nachhinein nicht nur die Leistung der drei Profis bewundernd und mitfühlend würdigen, sondern sich auch als große Familie verstehen, deren Liebe zum Tanz zumindest an diesem Abend und in diesem Raum alle harmonisch vereinte. Wir waren alle „Family of Artist“ – zumindest für diesen einen Abend.