Die Wutprobe

Vor ein paar Wochen hat ‚Mama on the Rocks‘ eine Blog-Parade zum Thema schlechtgelaunte, schmollende Kinder gestartet. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind aufgerufen, Tipps zu verraten, wie sie mit ihren trotzigen Kindern umgehen oder Trotzanfällen gänzlich vermeiden. Nun halte ich mich, trotz meiner beiden Kinder, nicht für einen ausgewiesenen Experten in Sachen Erziehungsfragen und verschone daher andere Eltern besser mit Ratschlägen jedweder Art. Ich kann lediglich eine kleine Geschichte aus unseren frühen Jahren zum Thema Trotzkind besteuern. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

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Unsere Tochter, die wir selbstverständlich abgöttisch lieben und über die wir nie auch nur ein schlechtes Wort denken, geschweige denn aussprechen, ist jetzt drei Jahre alt. Aber ab und an legt sie Verhaltensweisen an den Tag, die objektiv und mit einer gewissen Distanz betrachtet, nur schwerlich als „liebenswert“ oder gar „süß“ zu bezeichnen sind. Sie ist in die Phase des Trotzens eingetreten!

Bei ihr begann dieser Lebensabschnitt ungefähr vor drei Monaten, als ihr Bruder auf die Welt kam. Wahrscheinlich ist sie ein klein wenig eifersüchtig auf ihn. Gleichzeitig liebt sie ihn aber heiß und innig. Sie kuschelt mit ihm, herzt ihn, übersät ihn mit Küsschen und bedenkt ihn mit allerlei weiteren Gesten der Zuneigung.

Ihre Eifersucht und die Unzufriedenheit darüber, ihre Position als Alleinerbin verloren zu haben, lässt sie dagegen an ihren Eltern aus. In regelmäßigen Abständen beziehungsweise mehrmals täglich gibt sie uns zu verstehen, dass sie uns für die herzlosesten, ungerechtesten und hinterhältigsten Menschen der Welt hält. Für sie eignen wir uns bestenfalls als tyrannische Diktatoren zentralasiatischer Scheindemokratien, nicht aber als treusorgende Eltern, die sich liebevoll um ihre Erstgeborene kümmern und dieser jeden Wunsch erfüllen.

Da die Freundin die ersten vier Monate nach der Geburt des Sohnes Elternzeit genommen hat, bekommt sie zumeist die töchterlichen Trotzanfälle ab. Insbesondere beim Abholen aus der Kita spielen sich Tag für Tag Tragödien ab, wie man sie allenfalls im Theater des antiken Griechenlands erleben konnte.

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Eines Abends klagt die Freundin ihr Leid, wie anstrengend doch der tägliche Nachhauseweg mit der Tochter sei. Wende etwas leichtsinnig und in einem Tonfall, der möglicherweise als selbstgefällig missinterpretiert werden könnte, ein, sie müsse einfach ein wenig gelassener und entspannter sein, das wirke sich dann auch auf die Tochter aus.

Entnehme dem funkelnden Blick der Freundin, dass sie meine Äußerung in keinster Weise gelassen und entspannt aufnimmt. Es kommt in der Folge zu einem kurzen rationalen Austausch unserer Standpunkte – wie bei uns üblich, vollkommen ruhig, die Argumente sorgfältig abwägend und immer streng nach den Regeln der aristotelischen Diskursführung. Schließlich beendet die Freundin eine ihrer elaborierten Ausführungen damit, ich könne die Tochter ja mal abholen, wenn ich so gut Bescheid wüsste.

Eine Aufforderung, der ich mich nur schwerlich entziehen kann, nachdem ich mich in unserer Erziehungsdebatte wie ein pädagogisches Genie geriert habe, den der Erziehungsguru Jesper Juul regelmäßig um Rat fragt. Antworte folglich möglichst lässig, dies sei überhaupt kein Problem. Hoffe, dass meine Stimme nicht allzu sehr zittert.

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Sitze am nächsten Nachmittag in der U-Bahn und fahre zur Kita. Denke über meine bevorstehende Abholmission nach. Das A und O im Umgang mit Kindern besteht bekanntlicherweise darin, immer konsequent zu bleiben. Wenn man eine Ansage gemacht hat, muss man dazu stehen und darf auf keinen Fall nachgeben. Wie alle Eltern wissen, soll man mit kleinen Kindern und mit Terroristen nicht verhandeln.

Aber in Zeiten, in denen Menschen zum Mond fliegen können und Elementarteilchen auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden, sollte es wohl kein Problem sein, unbeschadet mit der dreijährigen Tochter nach Hause zu gehen. Bin mir allerdings unsicher, ob die meisten Astronauten und Kernphysiker Kinder im Trotzalter haben und falls ja, ob sie diese jemals auf dem Heimweg von der Kita begleiten müssen. Wahrscheinlich nicht.

Werde von meinem vibrierenden Handy aus meinen Gedanken gerissen. Die Freundin hat eine SMS geschickt und wünscht mir viel Spaß beim Abholen. Ein kleines Smiley grinst mich höhnisch an. Mich nicht provozieren lassend schicke ich ihr ein kleines Herzchen zurück.

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Betrete die Kita und finde nach kurzem Suchen die Tochter, die ins Spiel vertieft ist. Sie freut sich überschwänglich über mein Kommen. Ihre Begeisterung ist aber derart groß, dass sie nicht imstande ist, diese richtig zu zeigen. Stattdessen überkompensiert sie und ignoriert mich. Befolge mein Credo und bleibe ganz gelassen. Schließlich ist sie erst seit acht Stunden in der Kita, da ist es nur verständlich, dass sie unbedingt noch spielen muss. Nach knapp zwanzig Minuten ist sie zur Kontaktaufnahme bereit und ich kann sie überzeugen, dass wir jetzt aufbrechen.

Gehen zu ihrem Kleiderhaken. Sie weigert sich, ihre Jacke anzuziehen. Da es Dezember ist, die Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt liegen und draußen ein eisiger Wind weht, erkläre ich ihr vollkommen ruhig, dass sie aufgrund der widrigen Wetterbedingungen leider nicht ohne Jacke rausgehen könne.

Die Tochter erklärt, die Jacke sei doof, kratze und außerdem möge sie kein rot. Erwidere, dass sie sich die Jacke doch selbst ausgesucht habe und sie außerdem innen über ein ganz weiches Fell verfüge, das überhaupt nicht kratze. Die Tochter zeigt sich einer solch rationalen Argumentation gegenüber nicht sonderlich aufgeschlossen. Sie hält die Luft an und bekommt einen roten Kopf.

Rede mit Engelszungen aber ohne nennenswerten Erfolg auf sie ein. Zwänge sie schließlich mit sanfter Gewalt bei gleichzeitig größtmöglicher väterlicher Zuneigung in ihre Jacke. Singe dabei ganz entspannt und sehr laut das Lied vom Bi-Ba-Butzemann in der Hoffnung, das Weinen der Tochter zu übertönen.

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Knapp 80 Minuten nach meiner Ankunft in der Kita verlassen wir diese wieder. Die Tochter trottet hinter mir her und schaut lustloser als das Sanostol-Kind aus der Werbung vor der Einnahme des klebrigen überdosierten Vitaminsirups. Erst als wir an der Bäckerei vor der U-Bahn-Station vorbeikommen, hellt sich ihr Gesicht auf.

Sie gibt zu verstehen, dass es ihr ein großes Vergnügen wäre, ein Croissant verzehren zu dürfen. Allerdings erachtet sie dabei die Verwendung bürgerlicher Höflichkeitsfloskeln als unnötig. Auch ihren Satzbau könnte man euphemistisch eher als effizient bezeichnen. Eigentlich ist es viel mehr eine Art Befehl und zwar in einem Tonfall, mit dem sie sich auf der US-Militärakademie West Point gut behaupten könnte. „Wille ein Croissant!“, ruft die Tochter durch die Fußgängerzone.

Schaue sie leicht tadelnd an – aber immer noch mit äußerster Entspanntheit und pädagogisch voll auf der Höhe – und frage sie: „Wie sagt die Mama von Leo Lausemaus immer? ‚Wer ganz viel will, bekommt am Ende gar nichts.‘“

Die Tochter hält die Lausemaus-Mama mit ihren antiquierten Vorstellungen über akzeptable Umgangsformen anscheinend für eine reaktionäre Spießerin. Sie stampft mit dem Fuß auf und brüllt: „Wille aber!!!“

Entgegne ihr: „So schon gar nicht, mein kleines Fräulein.“ Menschen, die mich etwas besser kennen, könnten meinen, aus meiner Stimme eine leichte Gereiztheit zu hören. Das täuscht aber. Bin weiterhin gelassen wie ein Zen-Buddhist. Na gut, vielleicht wie ein Zen-Buddhist der gerne nach Hause möchte und außerdem ein bisschen friert, weil er vergessen hat, einen Schal anzuziehen.

Die Tochter will meine Aussage, die man so zuletzt wahrscheinlich in den 50er-Jahren benutzt hat, nicht akzeptieren. Sie beginnt lauthals zu weinen, als hätte ich verkündet, sie werde nie wieder in ihrem Leben etwas zu essen bekommen.

Erhalte eine weitere SMS der Freundin. Sie erkundigt sich, ob alles okay sei. Klicke den Text weg und stecke das Handy in die Jackentasche zurück. Dass man auch nicht einmal ungestört alleine Zeit mit der Tochter verbringen kann!

Widme mich wieder der Tochter und erkläre ihr, nachdem ich mir einen leichten Schweißfilm von der Nase gewischt habe, ganz ruhig, aber bestimmt, dass es daheim Abendbrot gäbe und wenn sie jetzt ein Croissant äße, gleich keinen Hunger mehr habe. Für die Tochter eine vollkommen inakzeptable Kausalerklärung.

Sie erhöht die Dezibelzahl und Tonart ihres Weinens deutlich. Befürchte, dass jeden Moment die Schaufensterscheiben der Bäckerei zerspringen. Der geschmückte Weihnachtsbaum neben dem Laden verliert bereits seine Nadeln. Die vorbeieilenden Passanten halten respektvollen Abstand zu uns, um sich bei der Tochter nicht mit Tollwut anzustecken.

Sehe aus den Augenwinkeln, wie ein Polizist mit skeptischem Blick auf uns zukommt. Gehe schnell mit der Tochter in die Bäckerei und kaufe ihr ein Croissant. Und weil wir schon einmal da sind, für mich eine Streuselschnecke. Wen kümmert schon, ob ich gleich etwas zum Abendbrot essen will, so lange meine innere Balance wieder hergestellt wird.

Unbeteiligte könnten meine Handlungsweise unter Umständen als inkonsequent und wankelmütig missbilligen. Ich dagegen möchte den Kauf des Croissants als Nachweis meiner Adaptionsfähigkeit verstanden wissen – eine Eigenschaft, durch die nach der Darwin’schen Evolutionstheorie überlegene Spezies ihr Überleben sicherstellen.

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Leicht erschöpft aber mit einer glücklichen, Croissant essenden Tochter erreichen wir den U-Bahnsteig. Nach fünfminütigem Warten kommt unsere Bahn. Als die Türen sich öffnen, zeigt sich, dass die Zufriedenheit der Tochter von fragiler Natur und nur kurzer Dauer war. Sie bringt ihre Abneigung gegenüber dem Berliner ÖPNV resolut zum Ausdruck: „Will nicht mit U-Bahn fahren.“ Um ihrer Aussage Nachdruck zu verleihen, beginnt sie zu heulen.

Erkläre ihr mit der Gelassenheit eines Mahatma Gandhi, der temporär an einer fürchterlichen Migräne leidet, dass der Heimweg zum Laufen zu weit sei und wir daher die U-Bahn nehmen müssten. Da bliebe uns gar nichts anderes übrig, wir könnten schließlich nicht fliegen. Die Tochter unterbricht ihr Heulen. Sie will jetzt fliegen. Mache ihr klar, dass dies nicht möglich sei. Die Tochter besteht aber darauf und brüllt wieder los.

Beuge mich sanftmütig wie ein Klingone zu ihr runter und raune mit latent drohendem Unterton, wir könnten entweder ganz gemütlich mit der U-Bahn fahren oder wir machten es auf die harte Tour. Ein Satz wie aus einem Cop-Film, der mit einer Goldenen Himbeere für die schlechtesten Dialoge bedacht wurde.

Überlege, was ich damit überhaupt meine, aber ich weiß es nicht. Die Tochter anscheinend auch nicht. Sie schreit weiter und wirft sich auf den Boden.

Nachdem bereits fünf Züge ohne uns abgefahren sind und ich aus den Unterhaltungen der Wartenden immer häufiger das Wort „Jugendamt“ höre, zerre ich die zeternde Tochter in die nächste Bahn. Versuche die Mitreisenden zu beruhigen und erkläre, sie müssten sich nicht sorgen, wir seien bereits auf dem Weg zum Exorzisten.

Ernte kollektives und missbilligendes Kopfschütteln. Werde hier wohl keine Freundschaften fürs Leben schließen. Glücklicherweise fahren wir nur drei Stationen.

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Passend zum sub-optimalen Verlauf unserer Heimreise muss ich nun feststellen, dass die Rolltreppe in der U-Bahn-Station defekt ist. Wir müssen die Treppe hoch laufen.

Dies entspricht allerdings nicht den Vorstellungen der Tochter. Sie tut kund, sie wolle nicht laufen und ich müsse sie tragen. Antworte ihr, sie sei groß genug, habe gesunde Beine und könne selber laufen. Als versöhnliches Angebot strecke ich ihr die Hand hin, damit wir gemeinsam gehen.

Sie will aber nicht und mit demonstrativ mangelndem Respekt gegenüber meiner väterlichen Autorität schlägt sie meine Hand weg. Erkläre ihr, dass ich dann schon mal ohne sie losginge und oben auf sie wartete. Sie beginnt in einer Lautstärke und Intensität zu kreischen, gegen die der Start eines Düsenjets wie ein zartes Glockenspiel anmutet.

Die Blicke der anderen Leute werden zunehmend feindseliger. Gehe also wieder runter zur Tochter, um sie zu beruhigen.

Da taucht ein älterer Herr auf, der die Tochter fragt, ob sie ein wenig Schokolade wolle. Herrsche ihn mit ein paar kehlig bellenden Lauten an, wir hätten hier alles im Griff und kämen auch sehr gut ohne seine Schokolade klar.

Ich möchte nicht ausschließen, im Eifer des Gefechts unter Umständen einige leicht abwertende Adjektive aus dem Bereich der Fäkalsprache im Zusammenhang mit dem Wort Schokolade verwendet zu haben. Aber ich weise es entschieden von mir, dem eingeschüchterten Senior vorgeschlagen zu haben, er könne sich die Schokolade in eine Körperöffnung unterhalb des Steißbeins schieben und ich wäre ihm dabei gerne behilflich. Zumindest erinnere ich mich nicht, eine solche Äußerung getätigt zu haben (möglicherweise eine partielle Amnesie).

Inzwischen hat die Zahl der Leute, die unser Schauspiel mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu beobachten, stark zugenommen. Höchstwahrscheinlich sind sie der Meinung, dass ich die Tochter mit Tollwut infiziert habe.

Da klingelt mein Handy. Die Freundin will wissen, wo wir denn blieben. Zische ins Telefon „Jetzt nicht!“. Schicke noch hinter her, dass ich es mir verbitte, zu jeder Minute jeden meiner Schritte rechtfertigen zu müssen. Lege ohne eine Antwort abzuwarten auf.

Klemme mir danach die Tochter wie ein französisches Stangenweißbrot unter den Arm und schleppe sie die Treppe hoch. Wobei der Vergleich nicht ganz zutreffend ist, da ein Baguette erheblich weniger zappelt und kreischt. Erwarte, dass jetzt jeden Moment die Supernanny auftaucht und mich auf die stille Treppe schickt. Wer könnte es ihr verdenken?

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Übergebe zuhause angekommen die Tochter in die Obhut der Freundin und gehe erstmal ins Badezimmer. Aus dem Spiegel starrt mich ein weißhaariger Greis mit fahlem Antlitz und blutunterlaufenen Augen an. Schütte ihm kaltes Wasser ins Gesicht.

Begebe mich danach ins Wohnzimmer, wo sich mir ein Bild der Idylle bietet, wie es in einer Elternzeitschrift nicht besser in Szene gesetzt werden könnte: Der Sohn wird gestillt und die Tochter kuschelt sich friedlich an ihre Mama, die ihr vorliest.

Die Freundin fragt mit leichter Ironie, ob alles entspannt gewesen sei. Ich nicke. Vielleicht ein wenig zu schnell und ein wenig zu heftig, um wirklich glaubhaft zu sein.

Sie meint daraufhin, dann könne ich das Abholen von der Kita ja häufiger übernehmen. Gebe mit einem Ausdruck des Bedauerns zu bedenken, dass es für Kinder außerordentlich wichtig sei, feste Abläufe zu haben und feste Bezugspersonen, die sie damit verbinden. Daher sei es leider, leider für die Entwicklung der Tochter und ihr seelisches Wohlbefinden unerlässlich, wenn ausschließlich die Freundin sie von der Kita abhole.

Die gerunzelte Stirn der Freundin deutet darauf hin, dass sie diese Sichtweise als wohl wenig progressiv betrachtet und über dieses Thema wohl noch nicht das letzte Wort gesprochen wurde. Entziehe mich der aufkommenden Diskussion, um noch ein paar meditative Atemübungen zu machen.


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