Ein renommierter Journalist aus Berlin meinte vor ein paar Monaten mal zu mir, dass es ein stilistischer Fauxpas sei, einen Text mit dem Wetter zu beginnen…
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Im Frankfurter Westend treffen die Sonnen-Strahlen auf Materie unterschiedlicher Art. Auf Köpfe, die Mützen tragen, auf denen jemand Polo spielt, auf verspiegelte Pilotenbrillen, deren Träger ihr Haar aggressiv mit Schmierfett domestiziert haben, aber auch auf monumentale Beton-Rechtecke mit Marmorverkleidung, in denen sich eine avanciert dreinblickende akademische Spezies tummelt, die in letzter Minute die Vorlesung eines der denkerischsten Intellektuellen Deutschlands erreicht. Der riesige Hörsaal, oder besser: das römische Theater, ist mit 1200 Anwesenden gefüllt. Sitzplätze sind rar, Viele hocken schicksalsergeben auf den Treppen. Am Pult steht er, der Gast-Dozent der Frankfurter Poetik-Vorlesungen: Alexander Kluge. Viele kennen ihn, ohne ihn zu kennen. Denn mit seinen unabhängigen TV- Kulturmagazinen dtcp, Prime Time oder News & Stories, die auf RTL, VOX und SAT1 liefen, hat der Schriftsteller und Regisseur es geschafft, seine kettensprengenden Gedanken auf die Welt einem größeren Publikum zugänglich zu machen.
Titel der Veranstaltung: Die Unabweisbarkeit des Erzählens. Kluge muss erzählen, denn es ist ein Ventil für das „Nadelöhr der Wahrnehmung“. Als Anhänger der Kritischen Theorie geht es ihm immer um Politik. Politik sei nicht das, was uns die Welt verstehen machen will, sondern das Politische ist ein besonderer Intensitätsgrad alltäglicher Gefühle. Die DNA des Politischen steckt in unseren Leben, in unseren Alltagen, in unseren Beziehungen. Es versteckt sich im Privaten und Intimen und ist daher eigentlich nicht-öffentlich. Das erinnert an die Perspektive Adornos, mit dem Kluge bis zu seinem Tod befreundet war.
Bis hierhin kann man noch folgen, doch dann beginnen seine Gedanken exzessiv durch den Raum zu springen. Er zitiert Kant, der mal meinte, dass der Begriff des Hundes deutlicher umrissener sei als der des Menschenrechts. Ein Gedanke, bei dem ich gerne kurz innehalten würde, doch Kluge sprintet weiter. Das Wort Poesie stamme wie Politik aus dem Griechischen, doch im Gegensatz zu ihr müsse sie kein Allgemeinwissen bilden und auch keine Gesellschaft verwalten, deshalb sei sie sehr frei. Doch genauso wie Politik ist Poesie nichts Elitäres, sondern das täglich von Menschen gestaltete Leben sowie die Beziehungen zwischen Menschen.
Es gibt eine Politik der Wörter. Leute wie Schwitters oder Joyce hätten das Wort von seinem Joch befreit. Dabei war das gar nicht nötig, denn Wörter waren eigentlich nie die Sklaven der Menschheit, daher sei ihre Revolte auch eine Dauer-Revolte.
Wörter sind das Parlament der Geister im menschlichen Gehirn. Nach der kurzen Einblendung eines berühmten Interviews von Kluge, in dem Helge Schneider in Gestalt eines Kuss-Experten über die professionelle Praxis des Küssens spricht, liest der Poet seine letzte Geschichte.
Sie spielt im 18. Jahrhundert im Hafen von Edingburgh, wo David Hume sich maßlos aus einem Sack Zucker bedient, der frisch aus der Kolonie Haiti per Handelsschiff eingetroffen ist. Später hält Hume eine Rede. Die anderen Anwesenden, die Hume zuvor noch angewidert beobachteten, konsumieren seine Rede mit derselben Hingabe wie der Philosoph zuvor die begehrten Objekte verzehrte. Dies sei nicht möglich gewesen ohne die größte Tugend der Aufklärung, die Einfühlung (Lessing). Denn Hume widerspricht in seiner Ansprache der These Hobbes, nach der der Mensch des Menschen Wolfes ist.
Im Gegenteil sei der Mensch nämlich grundlegend verschieden von den Tieren, denn er verfügt über zwei zentrale Fähigkeiten. Er ist einerseits in der Lage, mit sich selbst auf Distanz zu gehen und zu beobachten und andererseits dazu, sich zwingend in andere einzufühlen. Empathie ist unabweisbar (Fontane). Der Antipode von Empathie sei Sachlichkeit.
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Nach der Vorlesung im Frankfurter Westend begleitet mich die U-Bahn in den Südosten der Stadt, wo Kluge im Literaturhaus eine Abschluss-Lesung hält. Der Kontrast zur Vorlesung ist obskur. Die Spreu scheint sich vom Weizen getrennt zu haben. Statt Bildung scheint es um Unterhaltung zu gehen. Dabei hat Kluge beides nie voneinander getrennt. Das Publikum jedenfalls ist nun alles andere als heterogen, man sitzt auf gepolsterten Stühlen in einem ehrwürdig-quadratischen Saal und schlägt rotweintrinkend die Beine übereinander. Eine routiniert-entspannte Feier-Abend-Haltung der Literaturkenner, die hier ein Abo haben.
79 leuchtende Glühbirnen verteilen sich auf mehrere Kronleuchter und verprassen verschwenderisch jede Menge Energie. Doch trotz ihrer Effizienz können sie der Denkleistung Kluges nicht das Wasser reichen. Dieser liest jetzt aus unveröffentlichten Geschichten, die sich erzählerisch der absoluten Zäsur der Geschichte zu nähern versuchen. Denn die deutsche Geschichte schriftstellerisch zu verarbeiten, sei die wichtigste und größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts, sagt Kluge und erntet damit wisserisches Kopfnicken aus allen Richtungen. Da wird auch mal spontan der Kopf auf die Seite legt.
„Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter“, zitiert Kluge Fritz Bauer, den er im Weit-Feld der Kritischen Theorie verortet. Kluge´s Prosa nähert sich der Wirklichkeit mithilfe von Fiktion. Dabei lässt er reale Figuren wie Karl May oder Immanuel Kant miteinander sprechen, obwohl sie sich nie begegnet sind. Dabei verbindet Kant und May vor allem eine Sache: Sie seien beide Fernbeobachter und haben sich die Welt imaginiert, statt sie wirklich zu erleben. Denn: „Die Wirklichkeit ordnet sich nur unter, wenn man sie sich ausdenkt.“
In der Erzählung „Kant und der rote Mann“ nimmt Kant das Treffen mit einem Indianer zum Anlass, Beweise für seine Ansichten über das Naturrecht des Menschen zu erhalten. Denn für Kant war die Kategorie des Eigentums, wozu auch die Natur gehört, universal. Dies würde nach Kant, so Kluge, Höhlenbewohner (Städter) mit Nomaden verbinden.
Kluge erfindet neue Vergangenheiten, die wiederum neue Zukünfte produzieren. Ein zentraler Unterschied zur bloßen Dokumentation. Sein Anspruch besteht darin, die Kritische Theorie nicht wissenschaftlich, sondern erzählend fortzusetzen. Deshalb sind auch Emotionen zentral, denn sie sind, erinnern wir uns an seinen Auftritt im römischen Theater, ein genuiner Teil von Politik.
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Zum Schluss drängt sich dann doch noch diejenige Wirklichkeit auf, die sich nicht unterordnen lässt. Es gibt eine kurze Fragerunde. Kluge versucht die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu formulieren. Kürzlich sei der 7. Milliardste Erdenbürger geboren worden (wobei sich 123 Krankenhäuser um die genaue Person stritten), weshalb uns vor allem ein Problem der Masse bevorstünde. Was wäre geschehen, wenn beispielsweise beim Fukushima-Super-GAU der Wind Richtung Süden gedreht hätte. Wie hätte man Tokio, eine Stadt mit 35 Millionen Einwohnern, evakuieren können? Zurzeit gebe es 19 Krisenherde auf der Welt, bei denen ein Krieg bevorstünde.
Schließlich fragt jemand, wie er, Kluge, die Ereignisse des Arabischen Frühlings einschätzen würde. Kluge holt weit aus. Er sei sich nicht sicher, wie es ausginge. Immerhin seien wir alle nur Fernbeobachter der Prozesse in Tunis und Kairo, aber eines sei eindeutig: Irgendetwas wird auf jeden Fall emanzipiert, denn das sei immer der Fall bei Revolutionen. Jede Form der Beschäftigung mit ihr lohne sich also.
1720 wurde Frankreich von einer schweren Wirtschaftskrise eingeholt, die ein Staatsbankrott nach sich zog. Die Hoffnung der Menschen wurde Kluge zufolge einfach verpfändet. 1789 verlor der französische König seinen Kopf. Die Verbindung läge also auf der Hand. Fehlendes Geld führe zu einer Vertrauenskrise und diese mündet schließlich in eine Revolution. Die Anwesenden lachen. Worüber eigentlich? Über die scheinbare Banalität der Argumentation? Nein, das Gelächter ist ein unbewusster Impuls. Der verzweifelte Zynismus gegenüber einer unabwendbaren Entwicklung…
Text und Fotos: Phire