Schwarzseher! nannte man mich schon oft. Manchmal gelte ich aber auch als berüchtigter Optimist. Dann unterstellt man mir, ich würde ein zu positives Menschenbild haben oder - wie kürzlich erst an dieser Stelle -, an irgendwelche Kräfte, beispielsweise an die Kraft des realen Sozialismus glauben. Aber das ist Unsinn! Ich bin nicht inbrünstig pessimistisch und schon überhaupt nicht optimistisch. Der abgedroschene Spruch, den man jetzt normalerweise anbringen müsste: ich bin nichts von beidem, ich bin schlicht Realist - aber dass meine Gedanken oft schwermütig klingen, sodass sie mit einem kultivierten Pessimismus verwechselt werden könnten, kann ich dabei gar nicht leugnen. Ich lese mich manchmal so - ja, das ist wahr. Aber das ist nicht Ausdruck davon, dass ich besonders negativ wäre, schwarzseherisch oder so - es ist der Realismus, wie er sich zeigt, wenn man ihn gewissenhaft als Schule verfolgt und wenn er einem ein Leben lang gnadenlos ins Gesicht schlug.
Es ist die Einsicht, dass sich Sehnsüchte als Unerfüllbarkeiten outen, dass sie vergängliches Wunschdenken sind. Auch und vorallem dann, wenn sich aus der Sehnsucht ein greifbares Szenario entwickeln könnte oder sogar schon entwickelt hat. Strebt der Mensch eine neue, bessere Gesellschaft an, so endet das fast schon statistisch bewiesen dennoch dort, wo es anfing. Der menschliche Makel läßt sich nicht wegerziehen - die Menschheit ist ein Fiasko, daran läßt sich nicht rütteln. Die Unzulänglichkeit des Menschen kennt keinen Halt und wartet nicht "vor den Toren der besseren Gesellschaft" unter Berücksichtigung von Schildchen, auf denen steht "Ich muß draußen bleiben!" Oder wie ist es, wenn man sich als Einzelperson ein anderes Leben wünscht, in dem es anders, vielleicht ruhiger, vielleicht erfolgreicher zugehen soll? Wie oft wird aus Aufbruch Enttäuschung? Nicht nur Gesellschaften gelangen vom Regen in die Traufe...
Das klingt nach Defätismus, ich gebe es ja zu. Man kann das auch gerne so nennen, so wie man jedes Gefühl, jede Regung mit vielerlei Namen taufen kann, wenn man nur genug Namen dafür eingelagert hat. Ich nenne es einerseits Realismus, andererseits Weltschmerz - was letztlich vielleicht auf dasselbe hinauskommt. Natürlich hege ich Sehnsüchte, aber gleichwohl weiß ich auch, dass diese Sehnsüchte - wie alle Sehnsüchte auf dieser Welt, ganz egal, wie privat, wie nichtig oder trivial sie sind - an Unerfüllbarkeit leiden. Auf der einen Seite lehne ich aus tiefsten Herzen das ab, was man die Wirklichkeit nennt. Und auf der anderen Seite weiß ich jedoch auch - und ich wüsste es lieber nicht -, dass es aus dieser Wirklichkeit kein Entrinnen gibt. Sehnsucht hie, Weltschmerz da. Die Unvereinbarkeit der Sehnsucht mit der Welt, sie erzeugt etwas wie Wehmut in mir, sanfte Melancholie, Vergänglichkeitsbewusstsein. Diese Einsicht, dass man letztlich unerfüllbare Vorstellungen mit sich trägt, sie liest sich durchaus pessimistisch in meinen Texten - aber das bin ich nicht; ich bin eher wehmütig. Ja vielleicht habe ich auch ein klein wenig resigniert - schon gut, schon gut, ich geb' es ja zu!
Das heißt nicht, dass man keine Sehnsüchte haben darf. Was man im amerkanischen Raum den "Blues" nennt, wird in Portugal als "Saudade" bezeichnet. Der Fado atmet diese Saudade. Er kündet von Weltschmerz und Enttäuschung - aber auch vom Aufstehen, neu Anpacken, vom Aufbrechen neuer Sehnsüchte. Im Grunde inszeniert Camus für uns einen Fado, wenn er seinen Sisyphos dessen Steinbrocken wieder und wieder hinaufwalzen läßt. Fado ist Wehmut und Traurigkeit, die Erkenntnis, dass die Vergänglichkeit das Wesen der Welt ausmacht; er ist leichte Resignation, die aber stets von Neuem zum Antrieb wird. Zwar verstehe ich etwas Portugiesisch, einen Fado aber natürlich nicht, dazu bin ich zu ungeübt, habe ich zu wenig Kenntnisse. Aber die Musik, der Ton, das melancholische Kolorit, das man zynisch gesagt, als jämmerliches Geheule abtun könnte, das verstehe ich auch "sprachlos", denn all das zeichnet mein eigenes Weltbild nach. Saudade ist kein Pessimismus, dazu ist er zu kultiviert. Der Pessimist hakt alles mit "Alles Scheiße!" oder "Leckt mich doch alle!" ab - er ist nicht mal mehr zynisch in seiner Ablehnung.
Der an Weltschmerz Infizierte ist jedoch zynischer. Das rührt daher, weil er mit der Realität abwägend verfährt, er will nicht einfach hinter alles "Alles Scheiße!" notieren. Er erkennt in seiner Tristesse sehr genau, dass jede Sehnsucht Enttäuschung birgt. Das liegt in der Natur des sehnsüchtigen Schmachtens. Dafür gibt es große Beispiele. Nehmen wir nur die Oktoberrevolution, die in einem Terrorstaat mündete; oder die Französische Revolution, die mehr rollende Köpfe fabrizierte als das Ancien Régime in all seinen Jahren, und die überdies zum ersten zentralisierten Gesinnungsstaatswesen großer Schule mutierte. Kleine Beispiele kennt jeder selbst aus seiner Vita. Aber es gibt auch genug, die das nicht bedenken - und erfüllt sich dann irgendwann deren Sehnsucht, so ist der Jammer manchmal groß. Und dann ist der Schritt zur Verzweiflung nicht mehr weit. Wer Saudade lebt, der verzweifelt nicht plötzlich, denn der trägt die Verzweiflung schon immer subkutan bei sich, der hat das Destillat des Verzweifelns unter die Haut gepflanzt. Als kleine Dosis. So wie eine kleine Gabe von Morphium lindert, während eine Überdosis tötet, so verabreicht sich der Wehmütige beständig kleine lindernde Stöße von Verzweiflung. Diese beständig dezent anhaltende Verzweiflung schützt und erlaubt einem nicht, übermütig zu frohlocken, wo andere sich einer haltlosen Freude an den Hals werfen.
Die Welt jubilierte, als ein Schwarzer US-Präsident wurde - nun staunt Deutschland über den ersten grünen Ministerpräsidenten. Beides Hoffnungsträger, beide als Wegweiser zu besseren Zeiten! Und dann kommt die Enttäuschung, eine Sinnkrise, weil man verzweifelt feststellt: "Oh je, nichts ist so gekommen, wie wir es uns erhofft haben! Wenig oder nichts hat sich verändert!" Wo Saudade herrscht, da gibt es kein "Oh je!" mehr, oder anders: da ist das "Oh je!" schon in den Anfang hineinprogrammiert - Enttäuschung ist ihr fremd. Der süße Weltschmerz à la Saudade birgt eine Portion Skepsis. Sie ist die bittere Erfahrung des an der Welt leidenden Menschen. Sei skeptisch, weil die Welt, so wie sie ist, immer enttäuschen kann - sie muß es nicht immer, aber sie tut es dennoch oft genug. Das ist nicht Pessimismus, das ist Erfahrung. Sei wachsam, sei unterkühlt, habe deine Hoffnungen im Griff - hoffe, aber hoffe nicht blindlings; Hoffnungen sind lebenswichtig, aber wenn die maßlos sind, dann morden sie langsam und heimtückisch, denn die zur Enttäuschung gewordene Hoffnung bohrt zu viele Löcher in die Befindlichkeit, als dass man darüber hinwegfühlen könnte. Das klingt wie eine einfach gestrickte Form der Bauernschläue? Kann sogar sein, ich will es gar nicht abwiegeln.
Dieser Weltschmerz ist allerdings mehr, aber natürlich auch Selbstschutz, das gebe ich ja unumwunden zu. Doch dies mindert ja nicht ihren Wert. Als Überlebensstrategie hat sich Saudade bewährt. Für mich jedenfalls! Sprechen wir von mir! Für jedermann mag dieser Weltschmerz nichts Verlockendes an sich haben - und das ist auch vernünftig, dass Lebensphilosophien nicht für jeden Menschen kompatibel sind. Das naive "Laßt uns Revolutionen machen!" gibt mir wenig Halt - auch in der Revolution liegt die Enttäuschung begraben, das sehen viele Westentaschen-Revoluzzer nicht. Sie eifern, sie schüren, sie hören "Revolution!" und sind Feuer und Flamme und legen sich dabei unwissentlich und unbemerkt eine gelbe Binde mit drei schwarzen Punkten um den Oberarm. Natürlich heißt das nicht, Demonstrationen per se zu unterlassen, weil die sinnlos wären - das Gegenteil ist der Fall, sie sind nötiger denn je. Aber wir sollten uns nicht zu viel davon versprechen. Seien wir ruhig mal ganz realistisch und fordern einfach das Unmögliche! Che Guevara machte diesen famosen Ausspruch - aber der steht gemeinhin für den optimistischen, anpackenden Revolutionär, der ein, zwei, viele Vietnams schaffen wollte. Dieses Zitat macht mich aber stutzig. Das Unmögliche anpacken? Das kann heißen, nur in der Revolution gründet der Umsturz und die Umwertung aller Werte - oder es kann bedeuten: seien wir revolutionär, aber bitte laßt uns nicht vergessen, eigentlich ist es unmöglich, was wir da wollen. Guevaras Schriften strotzen nicht nur vor lebensbejahendem Selbstbewusstsein - ihn schmerzte die Welt, er war kein Pessimist, aber realistisch genug, süße Melancholie in seine olivgrüne Uniform zu wickeln.
Ist das nicht das Leitmotiv revolutionären Denkens? Wo die Anpacker und Hemdsärmelaufstülper an die Revolution gehen, da ist es mit dem Grundkonsens einer gesellschaftlichen Veränderung nicht weit her. Siehe 1918. Siehe 1789. Deren erhoffte bessere Gesellschaft wurde zu einer "Gesellschaft wie gehabt" - ein wenig modifiziert, ein wenig frisch organisiert, aber endlich doch so, wie der Vorgänger. Aus Ochrana wurde Tscheka; aus Gottesgnadentum die Allherrlichkeit des Wohlfahrtsausschuss! Der Melancholiker weiß das, er ahnt es zumindest; er kennt die Gefahren, die der Mensch und die menschliche Gesellschaft in sich trägt. Die besten Absichten sind Gülle, wenn man mit dem Schwert der Unfehlbarkeit ans Werk geht, wenn man die eigenen Sehnsüchte zu einem Ziel erklärt, zu dem man auch mit Repression oder Gewalt gelangen darf. Die Aufgabe des "Saudadista" ist weniger, sich zum Anführer oder maximo líder einer Bewegung zu machen. Seine Skepsis, seine weltschmerzliche Erfahrung, die er in den Diskurs wirft, das ist sein Metier. Damit tut er seinen Dienst. Che Guevara war vielmehr das, als alles andere. Er war Revoluzzer, aber er hat Bedenken gehabt, er war der Melancholiker, der ahnte, dass die neue, die bessere Gesellschaft auch Makel haben kann - und haben wird.
Spanische Wurzeln sind die meinen. Teilweise jedenfalls. In diesen Tagen toman los españoles la calle, ergreifen die Spanier die Straße. Wie soll ich mich dazu äußern? Das frage ich mich seither. Was kann ich sagen? Der Optimismus, der nun auf diesen Kundgebungen ruht, er beschämt mich. Gleich vorweg, ich finde es richtig, notwendig - aber dieser schnöde Optimismus! Gleichwohl der Pessimismus anderer Leute, das alles würde eh nichts bringen. Weiß man das vorher? Und wenn ja, wofür in dieser Welt immer einiges spricht, soll man dann stillhalten? Eine Ökonomie der Sehnsüchte einführen? Sehnsucht nur dann, wenn sie sich rentiert? Mich erfüllen die spanischen Verhältnisse dennoch mit Melancholie, denn die Hoffnungen zerschlagen sich vermutlich - vermutlich sogar besonders schnell. Gewehrläufe sind immer in Diensten der Herren, nie den Demonstranten unterstellt - das darf man nie vergessen. Die Empirie der Menschheit zeigt, am Ende sind Sündenböcke notwendig. Ach, Migranten in Spanien, nehmt euch in Acht! Euch kann man gerade so leiden, wenn ihr für Wasser und Brot in der flirrenden Hitze Südspaniens malocht - aber Rechte? Bessere Behandlung? Geht doch heim!, rufen sie dann - schreien das auch Familienmitglieder von mir? Familienmitglieder, deren Onkel oder Bruder oder Cousin, mein Vater also, selbst mit solchen verbalen Frechheiten übergossen wurde, als er in einem fernen Lande gastarbeitete?
Der Saudadista mag das Bukett des Umsturzes herrlich finden - ich tue es jedenfalls, ich halte es für notwendig. Aber der Stein, der da sisyphosgleich hinaufgewälzt wird, er muß erstmal vom Zurückrollen bewahrt, er muß gesichert werden. Ich bin kein Pessimist, wenn ich erkläre, dass ich genau daran zweifle - Felsbrocken lassen sich manchmal nur sehr schwer sichern. Der Schmerz, den diese Welt uns antut, die Diskrepanz zwischen Sehnsucht und der Wirklichkeit, auch der Wirklichkeit nach Erfüllung der Sehnsucht, die oftmals unzureichend ist, wie die Zeit davor - dieser Schmerz, er macht mich zum Realisten...
Es ist die Einsicht, dass sich Sehnsüchte als Unerfüllbarkeiten outen, dass sie vergängliches Wunschdenken sind. Auch und vorallem dann, wenn sich aus der Sehnsucht ein greifbares Szenario entwickeln könnte oder sogar schon entwickelt hat. Strebt der Mensch eine neue, bessere Gesellschaft an, so endet das fast schon statistisch bewiesen dennoch dort, wo es anfing. Der menschliche Makel läßt sich nicht wegerziehen - die Menschheit ist ein Fiasko, daran läßt sich nicht rütteln. Die Unzulänglichkeit des Menschen kennt keinen Halt und wartet nicht "vor den Toren der besseren Gesellschaft" unter Berücksichtigung von Schildchen, auf denen steht "Ich muß draußen bleiben!" Oder wie ist es, wenn man sich als Einzelperson ein anderes Leben wünscht, in dem es anders, vielleicht ruhiger, vielleicht erfolgreicher zugehen soll? Wie oft wird aus Aufbruch Enttäuschung? Nicht nur Gesellschaften gelangen vom Regen in die Traufe...
Das klingt nach Defätismus, ich gebe es ja zu. Man kann das auch gerne so nennen, so wie man jedes Gefühl, jede Regung mit vielerlei Namen taufen kann, wenn man nur genug Namen dafür eingelagert hat. Ich nenne es einerseits Realismus, andererseits Weltschmerz - was letztlich vielleicht auf dasselbe hinauskommt. Natürlich hege ich Sehnsüchte, aber gleichwohl weiß ich auch, dass diese Sehnsüchte - wie alle Sehnsüchte auf dieser Welt, ganz egal, wie privat, wie nichtig oder trivial sie sind - an Unerfüllbarkeit leiden. Auf der einen Seite lehne ich aus tiefsten Herzen das ab, was man die Wirklichkeit nennt. Und auf der anderen Seite weiß ich jedoch auch - und ich wüsste es lieber nicht -, dass es aus dieser Wirklichkeit kein Entrinnen gibt. Sehnsucht hie, Weltschmerz da. Die Unvereinbarkeit der Sehnsucht mit der Welt, sie erzeugt etwas wie Wehmut in mir, sanfte Melancholie, Vergänglichkeitsbewusstsein. Diese Einsicht, dass man letztlich unerfüllbare Vorstellungen mit sich trägt, sie liest sich durchaus pessimistisch in meinen Texten - aber das bin ich nicht; ich bin eher wehmütig. Ja vielleicht habe ich auch ein klein wenig resigniert - schon gut, schon gut, ich geb' es ja zu!
Das heißt nicht, dass man keine Sehnsüchte haben darf. Was man im amerkanischen Raum den "Blues" nennt, wird in Portugal als "Saudade" bezeichnet. Der Fado atmet diese Saudade. Er kündet von Weltschmerz und Enttäuschung - aber auch vom Aufstehen, neu Anpacken, vom Aufbrechen neuer Sehnsüchte. Im Grunde inszeniert Camus für uns einen Fado, wenn er seinen Sisyphos dessen Steinbrocken wieder und wieder hinaufwalzen läßt. Fado ist Wehmut und Traurigkeit, die Erkenntnis, dass die Vergänglichkeit das Wesen der Welt ausmacht; er ist leichte Resignation, die aber stets von Neuem zum Antrieb wird. Zwar verstehe ich etwas Portugiesisch, einen Fado aber natürlich nicht, dazu bin ich zu ungeübt, habe ich zu wenig Kenntnisse. Aber die Musik, der Ton, das melancholische Kolorit, das man zynisch gesagt, als jämmerliches Geheule abtun könnte, das verstehe ich auch "sprachlos", denn all das zeichnet mein eigenes Weltbild nach. Saudade ist kein Pessimismus, dazu ist er zu kultiviert. Der Pessimist hakt alles mit "Alles Scheiße!" oder "Leckt mich doch alle!" ab - er ist nicht mal mehr zynisch in seiner Ablehnung.
Der an Weltschmerz Infizierte ist jedoch zynischer. Das rührt daher, weil er mit der Realität abwägend verfährt, er will nicht einfach hinter alles "Alles Scheiße!" notieren. Er erkennt in seiner Tristesse sehr genau, dass jede Sehnsucht Enttäuschung birgt. Das liegt in der Natur des sehnsüchtigen Schmachtens. Dafür gibt es große Beispiele. Nehmen wir nur die Oktoberrevolution, die in einem Terrorstaat mündete; oder die Französische Revolution, die mehr rollende Köpfe fabrizierte als das Ancien Régime in all seinen Jahren, und die überdies zum ersten zentralisierten Gesinnungsstaatswesen großer Schule mutierte. Kleine Beispiele kennt jeder selbst aus seiner Vita. Aber es gibt auch genug, die das nicht bedenken - und erfüllt sich dann irgendwann deren Sehnsucht, so ist der Jammer manchmal groß. Und dann ist der Schritt zur Verzweiflung nicht mehr weit. Wer Saudade lebt, der verzweifelt nicht plötzlich, denn der trägt die Verzweiflung schon immer subkutan bei sich, der hat das Destillat des Verzweifelns unter die Haut gepflanzt. Als kleine Dosis. So wie eine kleine Gabe von Morphium lindert, während eine Überdosis tötet, so verabreicht sich der Wehmütige beständig kleine lindernde Stöße von Verzweiflung. Diese beständig dezent anhaltende Verzweiflung schützt und erlaubt einem nicht, übermütig zu frohlocken, wo andere sich einer haltlosen Freude an den Hals werfen.
Die Welt jubilierte, als ein Schwarzer US-Präsident wurde - nun staunt Deutschland über den ersten grünen Ministerpräsidenten. Beides Hoffnungsträger, beide als Wegweiser zu besseren Zeiten! Und dann kommt die Enttäuschung, eine Sinnkrise, weil man verzweifelt feststellt: "Oh je, nichts ist so gekommen, wie wir es uns erhofft haben! Wenig oder nichts hat sich verändert!" Wo Saudade herrscht, da gibt es kein "Oh je!" mehr, oder anders: da ist das "Oh je!" schon in den Anfang hineinprogrammiert - Enttäuschung ist ihr fremd. Der süße Weltschmerz à la Saudade birgt eine Portion Skepsis. Sie ist die bittere Erfahrung des an der Welt leidenden Menschen. Sei skeptisch, weil die Welt, so wie sie ist, immer enttäuschen kann - sie muß es nicht immer, aber sie tut es dennoch oft genug. Das ist nicht Pessimismus, das ist Erfahrung. Sei wachsam, sei unterkühlt, habe deine Hoffnungen im Griff - hoffe, aber hoffe nicht blindlings; Hoffnungen sind lebenswichtig, aber wenn die maßlos sind, dann morden sie langsam und heimtückisch, denn die zur Enttäuschung gewordene Hoffnung bohrt zu viele Löcher in die Befindlichkeit, als dass man darüber hinwegfühlen könnte. Das klingt wie eine einfach gestrickte Form der Bauernschläue? Kann sogar sein, ich will es gar nicht abwiegeln.
Dieser Weltschmerz ist allerdings mehr, aber natürlich auch Selbstschutz, das gebe ich ja unumwunden zu. Doch dies mindert ja nicht ihren Wert. Als Überlebensstrategie hat sich Saudade bewährt. Für mich jedenfalls! Sprechen wir von mir! Für jedermann mag dieser Weltschmerz nichts Verlockendes an sich haben - und das ist auch vernünftig, dass Lebensphilosophien nicht für jeden Menschen kompatibel sind. Das naive "Laßt uns Revolutionen machen!" gibt mir wenig Halt - auch in der Revolution liegt die Enttäuschung begraben, das sehen viele Westentaschen-Revoluzzer nicht. Sie eifern, sie schüren, sie hören "Revolution!" und sind Feuer und Flamme und legen sich dabei unwissentlich und unbemerkt eine gelbe Binde mit drei schwarzen Punkten um den Oberarm. Natürlich heißt das nicht, Demonstrationen per se zu unterlassen, weil die sinnlos wären - das Gegenteil ist der Fall, sie sind nötiger denn je. Aber wir sollten uns nicht zu viel davon versprechen. Seien wir ruhig mal ganz realistisch und fordern einfach das Unmögliche! Che Guevara machte diesen famosen Ausspruch - aber der steht gemeinhin für den optimistischen, anpackenden Revolutionär, der ein, zwei, viele Vietnams schaffen wollte. Dieses Zitat macht mich aber stutzig. Das Unmögliche anpacken? Das kann heißen, nur in der Revolution gründet der Umsturz und die Umwertung aller Werte - oder es kann bedeuten: seien wir revolutionär, aber bitte laßt uns nicht vergessen, eigentlich ist es unmöglich, was wir da wollen. Guevaras Schriften strotzen nicht nur vor lebensbejahendem Selbstbewusstsein - ihn schmerzte die Welt, er war kein Pessimist, aber realistisch genug, süße Melancholie in seine olivgrüne Uniform zu wickeln.
Ist das nicht das Leitmotiv revolutionären Denkens? Wo die Anpacker und Hemdsärmelaufstülper an die Revolution gehen, da ist es mit dem Grundkonsens einer gesellschaftlichen Veränderung nicht weit her. Siehe 1918. Siehe 1789. Deren erhoffte bessere Gesellschaft wurde zu einer "Gesellschaft wie gehabt" - ein wenig modifiziert, ein wenig frisch organisiert, aber endlich doch so, wie der Vorgänger. Aus Ochrana wurde Tscheka; aus Gottesgnadentum die Allherrlichkeit des Wohlfahrtsausschuss! Der Melancholiker weiß das, er ahnt es zumindest; er kennt die Gefahren, die der Mensch und die menschliche Gesellschaft in sich trägt. Die besten Absichten sind Gülle, wenn man mit dem Schwert der Unfehlbarkeit ans Werk geht, wenn man die eigenen Sehnsüchte zu einem Ziel erklärt, zu dem man auch mit Repression oder Gewalt gelangen darf. Die Aufgabe des "Saudadista" ist weniger, sich zum Anführer oder maximo líder einer Bewegung zu machen. Seine Skepsis, seine weltschmerzliche Erfahrung, die er in den Diskurs wirft, das ist sein Metier. Damit tut er seinen Dienst. Che Guevara war vielmehr das, als alles andere. Er war Revoluzzer, aber er hat Bedenken gehabt, er war der Melancholiker, der ahnte, dass die neue, die bessere Gesellschaft auch Makel haben kann - und haben wird.
Spanische Wurzeln sind die meinen. Teilweise jedenfalls. In diesen Tagen toman los españoles la calle, ergreifen die Spanier die Straße. Wie soll ich mich dazu äußern? Das frage ich mich seither. Was kann ich sagen? Der Optimismus, der nun auf diesen Kundgebungen ruht, er beschämt mich. Gleich vorweg, ich finde es richtig, notwendig - aber dieser schnöde Optimismus! Gleichwohl der Pessimismus anderer Leute, das alles würde eh nichts bringen. Weiß man das vorher? Und wenn ja, wofür in dieser Welt immer einiges spricht, soll man dann stillhalten? Eine Ökonomie der Sehnsüchte einführen? Sehnsucht nur dann, wenn sie sich rentiert? Mich erfüllen die spanischen Verhältnisse dennoch mit Melancholie, denn die Hoffnungen zerschlagen sich vermutlich - vermutlich sogar besonders schnell. Gewehrläufe sind immer in Diensten der Herren, nie den Demonstranten unterstellt - das darf man nie vergessen. Die Empirie der Menschheit zeigt, am Ende sind Sündenböcke notwendig. Ach, Migranten in Spanien, nehmt euch in Acht! Euch kann man gerade so leiden, wenn ihr für Wasser und Brot in der flirrenden Hitze Südspaniens malocht - aber Rechte? Bessere Behandlung? Geht doch heim!, rufen sie dann - schreien das auch Familienmitglieder von mir? Familienmitglieder, deren Onkel oder Bruder oder Cousin, mein Vater also, selbst mit solchen verbalen Frechheiten übergossen wurde, als er in einem fernen Lande gastarbeitete?
Der Saudadista mag das Bukett des Umsturzes herrlich finden - ich tue es jedenfalls, ich halte es für notwendig. Aber der Stein, der da sisyphosgleich hinaufgewälzt wird, er muß erstmal vom Zurückrollen bewahrt, er muß gesichert werden. Ich bin kein Pessimist, wenn ich erkläre, dass ich genau daran zweifle - Felsbrocken lassen sich manchmal nur sehr schwer sichern. Der Schmerz, den diese Welt uns antut, die Diskrepanz zwischen Sehnsucht und der Wirklichkeit, auch der Wirklichkeit nach Erfüllung der Sehnsucht, die oftmals unzureichend ist, wie die Zeit davor - dieser Schmerz, er macht mich zum Realisten...