Die Psychologie des Spendens. Der Zauber der Nächstenliebe (Teil 3)

Die Psychologie des Spendens. Der Zauber der Nächstenliebe (Teil 3)

„Und diejenigen, die in der Wohnstätte und im Glauben vor ihnen zu Hause waren, lieben (all die,) wer zu ihnen ausgewandert ist, und empfinden in ihren Brüsten kein Bedürfnis nach dem, was (diesen) gegeben worden ist, und sie ziehen (sie) sich selbst vor, auch wenn sie selbst Mangel erlitten. Und diejenigen, die vor ihrer eigenen Habsucht bewahrt bleiben, das sind diejenigen, denen es wohl ergeht.“ [Sure 59:9]

Dieser Vers aus dem Koran ist Teil einer Geschichte, die von selbstlosem Einsatz erzählt. Die Rede ist von den Ansar, den „Helfern“, die den Muhajirun, also den „Auswanderern“, treue Befolger des Islam zur Zeit des Gesandten Muhammad (Friede sei mit ihm), ein neues Zuhause gaben. Die Auswanderer begangen die Hijra (die Auswanderung), weil ihnen ein  friedliches Leben und Befolgen der Lebensweise des Islam in Mekka versagt war. Der Gesandte und seine Anhänger wurden mit größtmöglicher Gastfreundschaft empfangen und schnell schlossen sich erstaunliche Bruderschaften, in denen die Helfer die Gebenden waren und die Auswanderer die Nehmenden. Die Ansar „empfanden es als Privileg, den Auswanderern zu helfen, und selbst die Armen wetteiferten mit den Reichen in der Selbstaufopferung.“ (Jusuf Ali, 1996) Selbst wenn mit „…, und sie ziehen (sie) sich selbst vor, auch wenn sie selbst Mangel erlitten.“ (oder auch in einer anderen Übertragung ins Deutsche „…, sie geben ihnen den Vorzug vor sich selbst, auch wenn sie selbst unter Entbehrungen leiden.“), die Ansar angesprochen werden, gilt dieser Teil des Verses doch für alle Zeiten und Menschen, denn jeder von uns war schon einmal in einer Situation, in der er der Gebende war und seinem Gegenüber Vorzug vor sich selbst gab. Im Falle der Helfer in Medina, hatte die Entscheidung einem Auswanderer zu helfen, Auswirkungen, nicht nur auf sein eigenes Leben, sondern auch auf das Leben seiner Familie.

Und nochmal die Frage: Warum tun wir das? Objektiv und materiell gesehen, haben wir nicht das Geringste von einer solchen aufopfernden Haltung. Aus welchem Grund haben die Ansar den Muhajirun unter die Arme gegriffen, ihr Hab und Gut mit ihnen geteilt, in einigen Fällen sogar überlassen? Was bringt einen Menschen dazu, so etwas zu tun, sein Ego zurückzunehmen, seine Zeit, seine Energie, sein Vermögen und viel mehr zu opfern, um anderen Menschen zu helfen. Der Mensch tut es aus demselben Grund, aus dem eine Mutter ihr Kind stillt, aus demselben Grund, warum Eltern ihre Kinder erziehen und sie mit dem Notwendigen ausstatten, aus demselben Grund, warum jemand entscheidet, sich neben seinem Beruf und Familienleben, ehrenamtlich in einem Verein, einer Organisation oder einer anderen Einrichtung zu engagieren. Wir alle hoffen, dass wenn wir prosozial (vergleiche Artikel letzte Woche) handeln, früher oder später etwas zurück zu bekommen.

Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Menschen. Manche sind vollkommen egoistisch, andere sind mehr als selbstlos. Wie so oft, sind Extreme nicht unbedingt förderlich, aber auch selten. Wie ich bereits im letzten Artikel erwähnt habe, konnte bisher keine altruistische Persönlichkeit nachgewiesen, noch ein Gen entschlüsselt werden, das einen Menschen zu einem Altruisten macht. Eine Forschergruppe aus Zürich konnte zeigen, dass das graue Substanz-Volumen im rechten temporo-parietalen Knotenpunkt des Gehirns einen Zusammenhang zum altruistischen Verhalten von einzelnen Personen hat. Dieser Bereich des Gehirns scheint aktiv zu werden, wenn Menschen vor der Wahl stehen, egoistisch oder selbstlos zu handeln und Menschen, die ein großes Volumen an grauen Zellen haben, scheinen altruistischer als andere (Morishima et al., 2012) zu sein.

Die Forschung auf diesem Gebiet steckt zwar nicht mehr in den Kinderschuhen, muss aber noch einiges liefern, bevor grundlegende Annahmen getroffen werden können. Deshalb bleibe ich im Folgenden bei dem Modell der Reziprozität. Was bedeutet dieses Wort? Im Grunde genommen habe ich es schon erwähnt; der Mensch erhofft sich eine „Wiedergutmachung“ für seine Taten. Umgangssprachlich würde man es so formulieren: Wie du mir, so ich dir. Oder im Englischen bekannt als „tit for tat“. Eine wechselseitige Beziehung ist für den Einzelnen, wie für eine Gemeinschaft essenziell wichtig, auf lange Sicht sogar lebensnotwendig für eine Gesellschaft. Wenn alle Menschen egoistisch handeln, wäre zwar für jeden gesorgt, aber ein gemeinschaftliches Leben undenkbar. Jeder wäre sich selbst der Nächste und die Nächstenliebe hätte dann eine ganz andere Bedeutung. Indem jeder seinen Nächsten ihr Recht zuspricht, sie unterstützt und sich um sie kümmert, ist auch für jeden gesorgt, aber ein Leben in Gemeinschaft wird damit möglich.

Unsere Eltern investieren bis in unser spätes Jugendalter intensiv in unsere Erziehung, Versorgung, Bildung, etc. und damit hört es nicht auf. Eltern bleiben immer Eltern und das ist auch gut so. Wir dürfen nicht vergessen, von wem wir abstammen, wer uns im Namen Gottes über viele Jahre unterstützte und weiterhin unterstützt. Natürlich ist es die Verantwortung und Pflicht der Eltern ihre elterlichen Aufgaben zu erfüllen. Aber dem geht die selbstlose Entscheidung voraus, Vater oder Mutter zu werden. In der heutigen Zeit, gibt es viele Menschen, die sich bewusst gegen die Gründung einer Familie entscheiden, aus welchen Gründen auch immer, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein bestimmter Anteil der Menschen diese Entscheidung sicher aus egoistischen Motiven trifft. Was erhoffen sich unsere Eltern? Dass wir ihnen zur Seite stehen und sie unterstützen, wenn der Tag kommt an dem sie es selbst nicht mehr können, aber auch davor schon. Und der selbstlose Ehrenamtliche, der sich für seine Gemeinde aufopfert und beispielsweise Spenden sammelt oder an örtlichen Umweltprojekten teilnimmt? Natürlich erhofft auch er sich, dass die Menschen sich ihn zum Beispiel nehmen und gleiches tun, sich in gleicher Weise für die Gemeinde einsetzen.

Nun könnte man sagen: Moment mal, sie tun das alles, um Ansehen zu genießen, respektiert zu werden oder um Gottes Gunst zu erlangen. Plötzlich klingt das nicht mehr ganz so selbstlos. Was erhofften sich die Helfer in Medina von ihrem selbstlosen Einsatz. Natürlich erhofften Sie sich auch die Belohnung Gottes im Diesseits und im Jenseits, aber die Gastfreundschaft und die Hilfsbereitschaft dieser Menschen lässt sich trotzdem nicht abstreiten. Nun liegt der Gedanke nahe, dass es kein altruistisches Verhalten im eigentlichen Sinne gibt, denn psychologisch gesehen, begehe ich eine selbstlose Tat nicht für umsonst, geschweige denn kostenlos. Während ich spende, beruhige ich mich mit dem Gedanken, dass ich jemandem helfe und damit etwas Gutes tue, für das ich, so Gott will, in naher oder ferner Zukunft eine Belohnung erhalte. Zudem habe ich ein gutes Gefühl und fühle mich in gewisser Weise erleichtert (im wahrsten Sinne des Wortes) und freue mich darüber, einem anderen Menschen mit meiner Spende geholfen zu haben. Aber wie ist das in Gefahrensituationen, in denen Menschen schnell reagieren müssen, oft auch unter Einsatz ihres eigenen Lebens? Sie haben nicht die Zeit in aller Ruhe über die Konsequenzen ihres selbstlosen Handelns nachzudenken, sie handeln einfach. Letztendlich kann nur der Handelnde selbst im Nachhinein erklären, warum er so handelte und was ihn dazu bewegte. Sollte dieselbe Person wieder in eine solche Situation kommen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass er wieder selbstlos handelt oder sich doch lieber zurück nimmt.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch den Bystander-Effekt erwähnen. Dieser Effekt wurde in vielen Studien untersucht und beschreibt den Umstand, dass je mehr Menschen während einer Gefahrensituation anwesend sind, die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass der Einzelne dem Opfer zur Hilfe eilt. Der auch als Genovese-Syndrom bekannte Effekt, wurde auf Grund eines Mordanschlags auf die US-Amerikanerin Kitty Genovese (1964) in den Folgejahren bis heute untersucht. Der Mordanschlag, bei dem mindestens 38 Augenzeugen aus der Nachbarschaft die Tat beobachtet hatten, begann in der Wohnung des Opfers und trug sich über eine Stunde an verschiedenen Orten zu. Niemand eilte der Frau zur Hilfe. In diesem Zuge, entwickelten Sozialpsychologen verschiedene Erklärungen. Eine Erklärung ist die unterschiedliche Einschätzung der Notwendigkeit der Hilfeleistung in einer solchen Situation und die Angst sich zu blamieren, wenn man hilft. Eine weitere Erklärung ist, dass je mehr Augenzeugen anwesend sind, der Einzelne dazu neigt, die Situation nicht als sehr bedrohlich einzuschätzen, da alle anderen auch noch nicht eingegriffen haben. Dieses Phänomen nennt man pluralistische Ignoranz. Ein weiteres Merkmal, das in solchen Fällen eintritt, ist die sogenannte Verantwortungsdiffusion, was bedeutet, dass der Anteil an Verantwortung sinkt, je mehr Bystander an der Situation beteiligt sind. Jeder wartet darauf, dass der andere handelt. Last but not least, noch die Reaktanz-Theorie, die davon ausgeht, dass sich eine um Hilfe gebetene Person in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt fühlt und daraufhin die Hilfe verweigert.

Ob jemand hilft oder nicht, hängt wie schon im letzten Artikel erörtert, nicht nur von der Person, aber auch von der Situation und anderen Faktoren ab. Das sollten wir immer im Hinterkopf behalten, ob wir nun selbst helfen, anderen raten Hilfe zu leisten oder uns an die Ansar erinnern, die die Muhajirun im Sinne der Geschwisterlichkeit zur Seite standen und ihr Hab und Gut mit ihnen teilten. Die Motive für unser Hilfeverhalten sind individuell unterschiedlich und es bedarf mehr als nur einer Analyse der Umstände der Bedürftigen. Aber es ist bemerkenswert, wie wir Menschen trotz all den auftretenden „Hürden“ den Entschluss fassen können: Ich helfe.

Vor allem mit unserem Hab und Gut, sind wir Menschen in der Lage großzügig umzugehen. Das Spenden bzw. die Entrichtung der Zakah wird nach dem Verrichten des Gebets und dem Fasten als wichtigste Tat an vielen Stellen des Korans erwähnt. Auch diese Woche möchte ich den Artikel mit einer Frage beenden. Warum ist es wichtig (Hilfe) zu spenden? Im vierten und letzten Artikel dieser Reihe werden wir, so Gott will, alle eine Antwort darauf gefunden haben und ich hoffe, ich kann einen Beitrag dazu leisten, dieses Verhalten psychologisch und religiös zu begründen.

Bis dahin, wünsche ich uns allen eine wundervolle verbleibende Fastenzeit und dass Gott unser Fasten annimmt und unsere Taten belohnt. Amin.

„Nicht gleich sind diejenigen unter den Gläubigen, die sitzen bleiben – außer denjenigen, die eine Schädigung haben -, den sich auf Allahs Weg mit ihrem Besitz und ihrer eigenen Person Abmühenden. Allah hat den sich mit ihrem Besitz und ihrer eigenen Person Abmühenden einen Vorzug gegeben vor denen, die sitzen bleiben. Aber allen hat Allah das Beste versprochen. Doch hat Allah die sich Abmühenden vor denen, die sitzen bleiben, mit großartigem Lohn bevorzugt, mit Rangstufen von Ihm und Vergebung und Erbarmen. Allah ist Allvergebend und Barmherzig.“ [Sure 4:95, 96]

Herzliche Grüße und Salam, Aaroun

Die Psychologie des Spendens. Der Zauber der Nächstenliebe (Teil 3)


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