Für gewöhnlich nahm sich Georg’s Vater jeden Abend nach der Arbeit etwas Zeit, um mit seinem Sohn zu spielen. Heute allerdings war er durch die Haustür geeilt, hatte den Mantel im Flur einfach auf den Boden fallen lassen und sich vor den Fernseher gesetzt, wo er nun schon seit drei Stunden saß und ungeduldig mit den Füßen wippte. „Wann kommen endlich die verdammten Nachrichten?“, raunte er immer wieder und drückte auf der Fernbedienung rum.
Die Burg, die ihm Wohnzimmer stand, hatte er nicht mal bemerkt.
Georg presste den letzten Stein auf die Zinnen und trat einen Schritt zurück um sein Werk zu betrachten. Er hatte zwar länger gebraucht als geplant, aber seine Mutter deckte gerade erst den Tisch. Mit dem Abendessen konnte es also noch dauern und die Zeit seit dem Frühstück hatte er gut genutzt: Fünf Türme ragten von den Mauern der Festung empor. Der höchste in der Mitte reichte sogar bis auf die Höhe von Tante Erna’s antiker Kommode. Das war einen halben Kopf höher, als Georg überhaupt groß war. Um den Turm fertigstellen zu können, hatte er deshalb den Fußtritt aus der Werkstatt seines Vaters ausgeliehen. Anders wäre das gar nicht gegangen.
Das Herzstück der Burg jedoch war die Mauer. Ein Wall aus roten, gelben, grünen und blauen Duplos, so dick wie seine Faust, sollte die Menschen in der Festung vor den Gefahren der Wohnzimmerwildnis schützen.
Da ging so schnell nichts durch oder drüber.
Suchend sah sich Georg im Raum um. Er brauchte jemanden, mit dem er seinen Triumph teilen konnte:
„Guck mal, Papa. Ich hab eine Burg gebaut!“
Horst Angler saß nach vorne gebeugt neben seinem Sohn in einem Sessel, ein Rotweinglas zu seinen Füßen und starrte auf den Fernseher. Die Tagesthemen hatten endlich begonnen. Ein fahler grauer Mann las Wörter von einem Zettel ab und sagte sie in die Kamera auf, während Georg’s Vater mit den Füßen auf dem Teppich scharte. Das Rufen seines Sohnes nahm er mit einem Murren zur Kenntnis, guckte aber nicht hin. Sein Blick klebte am Fernseher fest. Er blinzelte nicht mal. Was der Nachrichtensprecher erzählte, musste schrecklich spannend sein! Dann wechselte das Bild zu einer Menschenmenge, die lustigerweise nicht nur vor, sondern auch auf einer großen Betonmauer stand und klatschte.
„Was ist denn?“
„Guck mal!“, wiederholte Georg ungeduldig. Sein Vater schüttelte den Kopf, schob seine Brille auf der Nase nach oben und murmelte mit Blick zum Fernseher: „Na, hoffentlich geht das alles gut.“
Dem Vierjährigen reichte es. Er stand auf, ging zum Sessel seines Vaters und zupfte ihn am Ärmel. „Guck, wie hoch sie ist!“
Wieder zeigte er auf seine Burg.
„Georg, geh mal spielen grad, das hier ist wichtig. Renate? Komm mal schnell!“
Aus der Küche eilte Georgs Mutter herbei, noch in Schürze und mit Topfhandschuhen. Kaum sah sie die Bilder im Fernsehen, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und rief: „Oh Gott, ich muss Onkel Hermann anrufen!“
So schnell wie sie gekommen war, verschwand Renate Angler wieder und nahm in der Diele das Telefon von der Wand. Georg verstand nicht, was sein Onkel aus Berlin mit den tanzend Menschen auf der Mauer da zu schaffen hatte. Aber was immer es sein mochte – für seine Burg konnte es ja einen Moment warten, oder? Die war schließlich riesig, fast so hoch wie die Decke! Und er hatte sie selbst gebaut.
„Papa, was machen die Leute da?“
„Sie freuen sich.“
„Worüber?“
Horst Angler drehte sich zu seinem Sohn und sah ihm in die Augen. „Über die Mauer, Georg. Die Mauer ist weg.“
Kaum hatte sein Vater das gesagt, kam Bewegung in das Nachrichtengeschehen. Georgs Augen wurden groß, als sich ein knallgelber Schaufelbagger seinen Weg durch das Meer aus Menschen bahnte, um mit trägen Hieben Löcher in den Beton zu schlagen.
Was für eine Maschine!, staunte Georg. So eine wollte er auch zu Weihnachten haben. Da sprang sein Vater aus dem Sessel auf und jubelte mit über den Kopf erhobenen Armen.
Die Menschen im Fernseher jubelten mit ihm mit.
„Renate! Renate! Die Mauer ist weg, oh Renate!“
Georgs Mutter stürzte aus dem Flur zurück ins Wohnzimmer, mit dem Telefonhörer am Ohr und kreischte vor Aufregung, als wäre ihr eine Geburtstagstorte ins Gesicht geklatscht. Am Telefon war immer noch Onkel Hermann aus Berlin, wie Georg bemerkte.
„Dürft ihr wirklich raus, Hermann? Haben Sie das gesagt? Geht es euch denn gut?“
„Junge, du ahnst es vielleicht noch nicht“, sagte Horst Angler auf einmal zu seinem Sohn und zog ihn zu sich ran, um ihm den Kopf zu streicheln. „Aber wir leben in wirklich aufregenden Zeiten.“
Da sah Georg seinen Vater zum ersten Mal weinen.
„Sekt! Renate, wir brauchen Sekt zum Feiern!“
Horst packte seine Frau bei der Hüfte, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und tanzte mit ihr zusammen in die Küche. Georg wartete derweil geduldig an seiner Burg, fest überzeugt, dass es gleich weiter gehen würde. Das Abendessen stand schließlich noch an. Da mussten sie die Burg ja sehen.
Doch sie kamen nicht.
Aus der Küche dröhnte das Radio, es knallten Korken und Vater Angler lachte laut durch den Flur. Georgs Mutter sprach pausenlos in den Telefonhörer hinein, während sie die Tanzaufforderungen ihres Mannes im Zaum hielt. Ungerührt davon las derweil der fahle Nachrichtenmann seine Worte in die Kamera ab und sah nach jedem zweiten Satz auf, um Georg in die Augen zu starren.
Fünf Türme, eine Festung und eine Mauer, die es in sich hatte, dachte Georg. Später kamen noch Bogenschützen auf die Zinnen, das war fest eingeplant.
Fünf Türme. Und die Mauer! Seit heute morgen arbeitete er daran, fast ohne Pausen. Zwischendurch hatte er alles wieder hinschmeißen wollen, als ihm mittags der Festungswall unter den Fingern eingestürzt war. Doch er hatte den Traum nicht aufgegeben.
Nun kam nicht mal einer, um das Ganze zu bewundern?
„Die Mauer ist gefallen! Die Mauer ist gefallen! Die Mauer ist…„
Georg seufzte tief und durchdringend. Es schien ihm alles ganz merkwürdig verquer: Offenbar fanden seine Eltern kaputte Mauern total klasse, obwohl das keinen Sinn ergab. Aber was wusste er schon? Er war ja bloß vier Jahre alt. Sein Vater dagegen hatte einen Doktor in Physik, seine Mutter war „wer Wichtiges bei der Stadt“. Sie werden schon wissen, was sie gut finden.
„…gefallen. Die Mauer ist gefallen!“
In der Küche hörten Herr und Frau Angler plötzlich einen stumpfen Knall.
Sie ließen auf der Stelle alles stehen und liegen und eilten zu ihrem Kind in die Stube. Horst Angler hatte seine Lippen aufeinander gepresst und seine buschigen Augenbrauen zum Angriff ausgefahren; Renate Angler hingegen schaffte es gerade noch, sich den letzten Schluck Sekt in den Hals zu kippen.
Im Wohnzimmer fanden sie die antike Stehlampe der kürzlich verstorbenen Tante Julia vor; gebettet auf einem Schlachtfeld bunter Plastiksteine.
Ihr Sohn Georg stand daneben, drückte die Brust nach vorn und zeigte stolz auf das Chaos.
„Guck!“
Es handelte sich bei dem Chaos anscheinend um den Nachbau einer mittelalterlichen Burg mit fünf Türmen auf den Festungsmauern. Der Bau hatte eine beachtliche Größe; im Vergleich überragte er den Jungen um mindestens eine Handbreit.
Das offensichtliche Herzstück der Burg, die Mauer, hingegen lag in Trümmen. Unter der Wucht von Tante Julias antiker Stehlampe war sogar der faustdicke Festungswall in die Knie gegangen.
„Um Himmelswillen, Georg!“, jaulte Renate Angler auf und kniete neben dem Erbstück ihrer verstorbene Schwester. „Was hast du nur gemacht?“
Georg konnte die Aufregung seiner Mutter nicht verstehen. „Ich dachte, so gefällt sie euch besser!“, antwortete er und deutete auf den Fernseher, wo der Nachrichtensprecher gerade stolz verkündete, was für ein historischer Tag heute für das ganze Land sei.
Wenigstens einer hatte es verstanden, freute sich Georg.