Die Macht der Gefühle

Die Macht der Gefühle

Foto copyright by Dieter Schütz / pixelio.de

Das Telefon klingelte und klingelte. Eigentlich wollte ich den Hörer gar nicht abheben. Ich wollte mit niemandem sprechen.
Doch es klingelte penetrant immer weiter und hörte einfach nicht auf.
"Ja?" meldete ich mich irgendwann also etwas unfreundlich und genervt. Selbst meinen Namen sagte ich nicht wie sonst immer.
"Ich bin es, Dreju."
Mir wäre fast der Hörer aus der Hand gefallen.
"Was willst Du?" bekam ich gerade noch  heraus, ich war so überrascht, dass er eine halbe Stunde, nachdem er meine Wohnung mit Sack und Pack verlassen hatte, den Mut hatte, hier anzurufen.
"Noch nie in meinem ganzen Leben ist jemand so mit mir umgegangen wie Du! Ich bin Dreju, der Sohn eines Stammesältesten, eine Respektsperson! Niemand hat bis jetzt gewagt, mich raus zu werfen. Auch Dir erlaube ich das nicht!"
"Und was willst Du dagegen tun? Wie Deiner Aufmerksamkeit nicht entgangen sein dürfte, ist der Rausschmiss bereits erfolgt!"
Der Rotwein tat langsam seine Wirkung, ich wurde mutiger und fügte noch hinzu:"Außerdem hat mich auch noch nie jemand so behandelt wie Du! Du hast ein falsches Spiel gespielt mit mir, mit Deiner Frau! Nicht nur Du, auch ich habe meine Prinzipien. Eines davon lautet: Lasse Dich nie mit einem verheirateten Mann ein!"
"Du weißt nicht, was Du da tust! Ich liebe Dich, wie ich noch nie eine Frau geliebt habe! Doch Du machst alles kaputt!" war seine Antwort.
"Was gibt es da kaputt zu machen? Wir hatten nie eine Chance. Wie soll eine Beziehung funktionieren, wenn sie auf Lügen aufgebaut ist? Wenn eine andere Frau, Deine Ehefrau, die größte Rolle spielt? Wie würdest Du an meiner Stelle reagieren?"
Nach kurzem Zögern antwortete Dreju leise:"Ich würde sowas nicht mitmachen."
Es entstand eine Pause, keiner von uns redete mehr und hing seinen Gedanken nach.
Dann sagte Dreju mit ruhig gewordener Stimme:"Ich möchte mit Dir in aller Ruhe nochmals reden. Nicht in Deiner Wohnung, an einem neutralen Platz. Lass uns in der Kneipe bei Dir am Eck treffen, sagen wir in einer halben Stunde. Bitte Cherie, sag ja. So können wir doch nicht auseinander gehen!"
Mein Herz drängte danach, ihn zu treffen, mit ihm zu reden, sich mit ihm auszusöhnen. Mein Verstand hingegen sagte nein zu diesem Vorhaben. Was sollte das Treffen bringen? Es würde nichts an den Tatsachen ändern können. Ich war hin und her gerissen. Dann sagte ich:" Ok. In einer halben Stunde in der Kneipe." und legte auf.
Ich fragte mich, was mich dazu bewogen hatte, diesem Treffen zuzustimmen. Es waren eindeutig meine Gefühle für ihn, die ja nach wie vor da waren. Ich liebte ihn, trotz seines Geständnisses. Ich war unfähig, diese Gefühle von einem Moment auf den anderen abzustellen. Ich konnte mir immer wieder vor Augen halten, dass er mich belogen hatte, dass er eine Ehefrau hatte, die von mir nichts wusste, die Gefühle für ihn waren trotzdem noch da, ich fand einfach den Knopf nicht, sie abzuschalten.
Bis zu diesem Zeitpunkt gehörte ich zu den Frauen, die den moralischen Zeigefinger erhoben, wenn es um die Rolle einer Geliebten ging. Warum machen Frauen so etwas? Warum lassen sie sich auf einen verheirateten Mann ein? Haben diese Frauen denn gar kein Gewissen? Gar keine Moral? Nehmen wissentlich in Kauf eine Ehe zu zerstören und denken allen Ernstes, man kann sein eigenes Glück auf dem Unglück anderer aufbauen?
Auf ein Mal war ich selbst in so eine Situation hineingerutscht und hatte meine liebe Not, damit zurecht zu kommen. Auf der einen Seite war alles klar: wir hatten uns getrennt! Das war richtig so.
Auf der anderen Seite würden wir uns treffen und nochmals miteinander reden. Plötzlich bekam ich es mit der Angst zu tun.Was wäre, wenn er versuchen würde, mich zurück zu gewinnen? Wenn ich nicht stark genug wäre, meine Gefühle für ihn unter Kontrolle zu halten? Nein. Das durfte einfach nicht passieren!
Mit dem festen Vorhaben, mich in aller Ruhe mit Dreju zu unterhalten und in Gutem als getrenntes Pärchen,  vielleicht als Freunde, wieder auseinander zu gehen, wollte ich mich kurze Zeit später auf den Weg zu unserem vereinbarten Treffpunkt machen.
Die Kinder hatten von all dem Gott sei Dank kaum etwas mitbekommen, sie waren bei Freunden zum Spielen gewesen und erst nach Hause gekommen, als Dreju mit seinen Sachen schon wieder weg war. Doch sie hatten natürlich bemerkt, dass es mir seit dem vorigen Abend nicht gut ging. Ich konnte ihnen jedoch nicht erzählen, was wirklich los war und eierte ein bisschen rum, dass wir uns das erste Mal gestritten hätten, dass so etwas in den besten Beziehungen mal vorkommt... von der Trennung erzählt ich ihnen noch nichts. An diesem Abend waren sie das erste Mal nicht damit einverstanden, dass ich ausging. Ich versuchte sie zu beruhigen und versprach, nicht lange zu bleiben. Es blieb ihnen nichts anderes übrig. Bianca und Marco ließen mich gehen und blieben bedrückt zurück.

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