Die Jagd

Thomas Vinterberg ist ein Name, den erstaunlicherweise wenige Menschen kennen. Er ist ein Filmemacher aus Dänemark und das reicht, um ihn in eine Schublade zu schieben. Sein Mentor war Lars von Trier und zusammen mit vielen anderen Kollegen haben sie die Dogma-Reihe etabliert, die in den 90er Jahren so viel diskutiert wurde, wie kaum eine andere Reihe. Eine neue Stilrichtung wurde geschaffen. Manche mochten diesen rohen und unverfälschten Stil mit Shakey-Cam, nicht abgemischten Sound und groben Schnitten. Es gäbe ein Filmerlebnis, welches man sonst nicht hätte. Man bekäme den Eindruck, dabei zu sein. Andere konnten weniger damit anfangen und sahen in den Dogma-Filmen nur einen weiteren Beweis, dass Film als Kunst einfach nicht funktionierte. Einer der wenigen Vertreter, die als „der Dogma-Film“ in Erinnerung geblieben ist, ist „Das Fest“, von dem viele Menschen fälschlicherweise denken, er sei von Lars von Trier und nicht von Vinterberg. Das liegt unter anderem daran, dass dem Film sowohl Vor-, als auch Abspann fehlt. Nun gibt es einen neuen Film von ihm. Nach 15 Jahren, in denen er auf der internationalen Filmbühne beinahe gar nicht aufgetreten ist, kommt nun Vinterbergs „Die Jagd“
Lucas ist Lehrer an einer kleinen Dorfschule. Diese wurde allerdings geschlossen und Lucas wurde entlassen. Außerdem ließ seine Frau sich scheiden und erhielt auch noch das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn. Auch, wenn er viel Pech hatte, genießt Lucas die Unterstützung und das Vertrauen seiner Freunde im Dorf. Besonders Theo hat er es zu verdanken, dass er diese schwere Zeit überstanden hat. Nun scheint es langsam wieder bergauf zu gehen. Lucas hat eine Stelle im Kindergarten bekommen und fühlt sich hier eigentlich ganz wohl. Eine Kollegin dort scheint ein Auge auf ihn geworfen zu haben und sein Sohn stellt fest, dass er lieber bei seinem Vater leben möchte. Doch dann erzählt die kleine Klara im Kindergarten etwas gleichermaßen Merkwürdiges, wie auch Ungeheuerliches. Es hat ganz den Anschein, Lucas hätte sich an der Tochter seines besten Freundes sexuell vergangen.
Ein herbei gerufener Kinderpsychologe bestätigt den Verdacht und Lucas wird umgehend beurlaubt. Schnell macht das Gerücht die Runde im Dorf und Lucas sieht sich plötzlich dem unbändigen Hass all derer gegenüber, die vor kurzem noch seine Freunde gewesen sind. Alle Menschen im Dorf sind absolut von seiner Schuld überzeugt.
Vor lauter Entsetzen und Hass hört niemand mehr auf die kleine Klara, als die berichtet, sie hätte nur etwas Dummes erzählt, um Lucas zu ärgern.
Thomas Vinterberg lässt hier gleich mehrere starke Motive einfließen. Auf der einen Seite sehen wir die Dorfgemeinschaft, die ohne jeden Zweifel und Vorbehalt zusammen hält. Obwohl wir im 21. Jahrhundert leben, und obwohl sie alle so tolerant und mit einer sympathisch, lockeren Lebensart daher kommen, vergehen nur wenige Minuten, bis sie sich regelrecht zusammen rotten und eine standesgemäße Hexenjagd vom Zaun brechen. Plötzlich sind wir wieder im Mittelalter. Das zweite, wesentlich stärkere Motiv, ist die Perspektive des Opfers, aus der der Zuschauer die ganzen Ereignisse hautnah mit erlebt. Wir fühlen die Ratlosigkeit und auch völlige Machtlosigkeit Lucas' und er sieht sich plötzlich in einer fast schon lebensbedrohlichen Umgebung. Am meisten erschreckt einen die Klarheit der Situation. Die Kette der Ereignisse und Umstände, die zu dieser Situation führen, sind völlig klar und nachvollziehbar und an keinem Punkt der Geschichte könnte man sagen: „Hier hätte Lucas etwas anderes machen müssen, damit das alles nicht passiert“. Es geschieht einfach und er hat absolut keine Chance. Es ist auch niemandem so richtig ein Vorwurf zu machen. Selbst bei drastischen Gewaltausbrüchen der Dorfbewohner denkt man sich immer: „Wie würde ich wohl auf so etwas reagieren?“
Eine Szene gibt es, an der die Geschichte noch hätte umschwingen können. Man hofft regelrecht, dass der Besuch des Kinderpsychologen Klarheit bringt, und das Schlimmste verhindert, obwohl wir noch in den ersten zwanzig Minuten des Films sind. Dieser Psychologe ist entweder total inkompetent in seiner Funktion, oder er ist selbst vollkommen aus der Bahn geworfen, angesichts der Vorwürfe. Wie dem auch sei; das Gespräch zwischen dem Psychologen und Klara läuft denkbar schlecht. Er setzt das Mädchen stark unter Druck. Das Kind, welches sechs Jahre alt ist, denkt vielleicht, es bekäme Ärger, wenn es etwas Falsches sagt und bestätigt all die ungeheuerlichen Vorwürfe mit einem simplen Nicken. Das reicht den Erwachsenen und sie blasen zur Jagd.
Vinterberg nimmt großen Abstand von der rohen und wackeligen Ästhetik, die er noch bei „Das Fest“ verwendet hat. Er nimmt sich viel Zeit, um romantische, aber auch beklemmende Bilder zu zeichnen. Irgendwie bringt er die totale Ruhe in den Film. Mads Mikkelsen spielt einen unfassbar guten Lucas. In anderen Rollen war er oft sehr extrovertiert und stand immer einen Tick neben seiner Rolle. Hier ist er total natürlich, aber eben nicht durch aufgesetzte Natürlichkeit, wie sie oft in Dogma-Filmen auftaucht. Hier scheint es nicht so zu sein, als hätte der Regisseur ihm die Anweisung gegeben, jetzt mal ganz natürlich zu sein, das Wesen seiner Figur kommt aus seinem Inneren und wirkt deshalb so überzeugend. Mikkelsen erhielt für diesen Auftritt in Cannes den Preis für die beste männliche Hauptrolle.
„Die Jagd“ ist harter Tobak und schafft es mit einer verblüffenden, aber auch erschreckenden Leichtigkeit, dieses Thema von der anderen Seite aufzurollen. Aus der Perspektive des Opfers hat man eine vermeintliche Missbrauchs-Geschichte noch nie erlebt und irgendwie macht diese Perspektive ein bisschen Angst. Die Möglichkeit, dass man selbst jederzeit mit derartigen Vorwürfen konfrontiert werden könnte, wirkt noch sehr lange nach und lässt den Zuschauer noch länger grübeln.
Jagten (DK, 2012): R.: Thomas Vinterberg; D.: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Annika Wedderkopp, u.a.; M.: Nikolaj Egelund; Offizielle Homepage
Kineast im Radio: Jeden Sonntag, 14:00 bis 15:00 Uhr auf Radio Lotte Weimar.

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