Die Getriebenen: Lehrstück zur Etablierung eines Narrativs

Gestern lief in der ARD "Die Getriebenen", eine Art Mix aus Doku und Spielfilm, der die entscheidenden Wochen der Flüchtlingskrise 2015 aufarbeitet. Das Dokudrama basiert auf dem Buch eines nicht eben Merkel-freundlichen "Welt"-Autoren mit demselben Titel, nutzt dieses aber eher als Steinbruch. Die Beschäftigung mit dem zweistündigen Film lohnt sich gleich aus mehreren Gründen. Zum einen ist es kompetent gefilmt, mit ordentlichen bis guten schauspielerischen Leistungen, ordentlich Zug und brauchbaren Dialogen (nicht gerade Sorkin, aber besser als so oft). Zum anderen ist es grundsätzlich erhellend und daher auch, um den sperrigen Begriff zu gebrauchen, eine Lektion in Staatsbürgerkunde. Zuletzt aber ist es auch ein Lehrstück darüber, wie man ein Narrativ etabliert. Denn "Die Getrieben" springt mit beiden Füßen in die Interpretation und vermischt dokumentierte Ereignisse (Stichwort #MerkelStreichelt) mit der Interpretation von Personen. Und dabei sind die Produzierenden des Films nicht eben scheu, die Rollen von gut und böse recht klar zu verteilen. Aber der Reihe nach.

Das Technische

Fangen wir mit dem Filmischen Teil an. Die Rollen aller Akteure sind von SchauspielerInnen besetzt, die mit wechselndem Erfolg ihre realen Vorbilder nachstellen. Material aus Nachrichtensendungen wird ständig als Einspieler benutzt, um den Ernst der Lage deutlich zu machen, Pressekonferenzen und Interviews aber mit den SchauspielerInnen nachgestellt. Es handelt sich dezidiert um keine Doku - kein(e) SprecherIn aus dem Off, keine Zusammenschnitte von Archivmaterial über die Personen selbst. Ähnlich etwa solchen Dokudramen wie "Game Change" wird der Dramenaspekt durchaus ernst genommen.
Technisch geschieht dies durch einen klaren Spannungsbogen, der vor allem darauf beruht, dass der Zuschauer weiß, wohin die Reise geht. So wie allen bekannt ist, dass am Ende die Titanic sinken wird, so weiß jeder, dass wir am Ende beim unkontrollierten Grenzübertritt aus Ungarn und "Wir schaffen das" landen werden. Die Spannung entsteht also dadurch, dass wir die Reise dorthin sehen, die Entscheidungen nachvollziehen, nicht, dass wir uns fragen, wo wir am Ende landen.
Die Konventionen des Genres werden eingehalten: Viel Walk-And-Talk, erschöpftes in-Sessel-fallen, intensives Anstarren der Gesprächspartner, das entsprechende Programm. Das ist gar nicht so negativ gemeint, wie es vielleicht klingt - bei einer deutschen Produktion muss man leider Gottes vielmehr betonen, dass die technische Umsetzung gut ist. Ein kleiner handwerklicher Farbtupfer ist der häufige Nutzen von Splitscreen: So sieht man etwa bei Telefongesprächen sieht man beide Gesprächspartner parallel oder werden die Auswirkungen des Handelns von Personen gleichzeitig durch eingeschnittene Konsequenzen gezeigt, wenn etwa Merkel über Heidenau gebrieft wird und in der anderen Hälfte des Bildschirms die schreienden Neonazis zu sehen sind.
Daher das Urteil hier insgesamt: Technisch und handwerklich gut gemacht und alleine dafür bereits sehenswert.

Das Pädagogische

Das Dokudrama ist aber auch eine lehrreiche Erfahrung. Trotz aller Dramatisierungen ermöglicht es einen guten Einblick ins Regierungshandeln. Wie arbeitet die Bundeskanzlerin eigentlich? Oder die Opposition?
Das Dokudrama leistet hier einen sehr ordentlichen Beitrag, wenngleich der Blick auf die Exekutive im Krisenmodus beschränkt bleibt. Sehr anschaulich wird vor allem, wie ungeheuer stressig und fordernd dieser Job ist. Man muss es den MacherInnen auch hoch anrechnen dass sie darauf verzichtet haben, das über einen Dialog deutlich zu machen ("Du, Angela, bist du auch so müde?" "Ja, Horst, dauernd") sondern stattdessen auf die Macht ihrer Bilder zu vertrauen, etwa, wenn Thomas de Mazières Wecker trotz seiner angeschlagenen Gesundheit jeden Morgen um 4.30 Uhr klingelt (allein die Vorstellung...!) oder wenn Merkels Büroleiterin ihr Tag für Tag im strammen Lauf durchs Kanzleramt die kommenden Termine herunterrasselt. Auch in Kleinigkeiten wie Merkels Frage, wann sie denn genau in Brasilien sei ("Mittwoch bis Samstag") erkennt man die Außerordentlichkeit dieses Lebensstils; ich wüsste ziemlich genau, wann ich nach Brasilien fliege.
Abgesehen von dieser dauerhaften Stresssituation aber ist besonders instruktiv, wie das Regierungshandeln in den jeweiligen Sitzungen abläuft. Zwar sehen wir die internationalen Konferenzen nie selbst; das Bild schneidet immer weg, wenn Merkel den Raum betritt. Ich bin etwas unsicher, ob das wegen Budget-Beschränkungen oder der Schwierigkeit der Dramatisierung von Simultanübersetzungen der Fall ist, aber es ist auffällig, denn Kabinettssitzungen auf der einen und die Präsidentensitzungen auf der anderen Seite sind ein Fixpunkt des Dokudramas.
Die Kabinettssitzungen sind auch deswegen interessant, weil man hier koalitionäre Politik in Deutschland bei der Arbeit sehen kann. Auf der einen Seite ist Sigmar Gabriel nämlich Merkels Gegner, weil er versucht, seine Partei für den Wahlkampf in Stellung zu bringen; gleichzeitig ist er aber am Kabinettstisch ein Kollege, der ein Land mitregieren muss. Das ist ein schwieriger Spagat.
Ebenfalls sehr spannend ist zu sehen, wie de Maizière und Altmaier mit den Präsidenten der Polizeibehörden und des Verfassungsschutzes agieren. Obwohl an und für sich die beiden Politiker die ranghöheren Spieler sind, sitzen die fünf (!) Behördenchefs ihnen mit großer Selbstsicherheit gegenüber und verfolgen ihre eigene Agenda, die offensichtlich der der Regierung völlig konträr läuft - und beide Seiten sind miteinander ungeheuer frustriert, ohne groß etwas dagegen tun zu können. Weder können die Behördenchefs die Politik in ihrem Sinne beeinflussen, noch sind Altmaier und de Maizière in der Lage, sie auf ihre Seite zu ziehen.
Ganz prosaisch werden dem interessierten Publikum, so es die Zusammenhänge nicht bereits kennt (etwa durch die Lektüre exzellenter Serien über das politische System Deutschlands), durch die Dialoge deutlich gemacht. Es ist zwar etwas albern, wenn Merkel und ihre Büroleiterin sich gegenseitig erklären, dass der Innenminister für das BAMF zuständig ist oder dass Viktor Orban der ungarische Präsident ist, aber solche Vehikel sind in diesem Format unvermeidbar, wenn man ein Modikum an Zugänglichkeit bewahren will. Die entsprechenden Dialoge sind unaufdringlich und pflegen sich gut ins Ganze ein, vermeiden den in deutschen Produktionen allzu häufigen gestelzten, schulmeisterlichen Ton.
Am instruktivsten insgesamt aber sind die Dynamiken innerhalb der Koalition selbst. Seehofer arbeitet offen gegen die Kanzlerin, genauso wie Gabriel. Söder arbeitet offen gegen Seehofer. Alle wissen es. Und keiner kann etwas dagegen tun. In mehreren Szenen fällt Merkel verzweifelt in ihren Sessel, wenn Seehofer wieder einmal ein Statement abgibt, und mehrmals wütet Seehofer impotent gegen den "Intriganten" Söder, ohne diesem ans Leder zu können. Die Vorstellung allmächtiger Politiker, die einfach ihren Willen durchdrücken können, sie wird effektiv demontiert. Demokratie ist ein chaotischer Prozess, auch das wird (dankenswerterweise ohne Holzhammer-Dialoge) klar.

Das narrative Lehrstück - Merkel

Am relevantesten für unsere Diskussion aber ist sicherlich, wie das Dokudrama Narrative setzt. Angela Merkel dürfte sich über die Produktion insgesamt freuen; sie erscheint als Heldin der Affäre und durchweg gut, wenngleich ein wenig überfordert (Heribert Prantl nennt den Film "Fast eine Heiligsprechung"). Nie wird jedoch ein Zweifel daran gelassen, dass Angela Merkel ein guter Mensch ist, der aus ehrlichen moralischen Überzeugungen handelt - nicht unbedingt eine Seite, die die echte Merkel in ihrer politischen Alltagskommunikation herausstellen würde.
Das berühmte über den Dingen schweben, das Merkel von ihren Kritikern oft genug vorgeworfen wurde, wird hier ebenfalls zu einer Tugend. Wir sehen eine Merkel, die geradezu Unverständnis darüber äußert, wie jemand ihrer wohlmeinenden Politik nicht nur nicht zustimmen, sondern sie gar behindern könnte. Man darf unterstellen, dass die reale Merkel zwar sicherlich ebenso genervt von ihren innerkoalitionären Gegnern ist, die Lage etwas zynischer betrachtet.
Man kann sich darüber streiten, ob die Szenen, in denen Merkel mit ihrem Ehemann Joachim Sauer heimelige Gemütlichkeit praktiziert, einfach nur die menschlichen Seiten einer den Mechanismen der Homestory der Boulevardpresse nicht eben aufgeschlossenen Kanzlerin zeigt oder Verklärung betreibt. Ich habe die meisten dieser Szenen als durchaus angenehm empfunden, aber die Schlussszene in Merkels Wohnung, in der ausgerechnet Joachim Sauer als Stand-In für alle Merkel-Kritiker hergenommen und sie für ihren "Wir schaffen das"-Satz zur Rechenschaft zieht, schien mir beiden Personen Unrecht zu tun. Sauer ist keine Person des öffentlichen Lebens, und ihn derart als Publikums-Surrogat aufzubauen scheint mir mehr eine holprige Übertragung dieser ohnehin überkommenen narrativen Konventionen zum "Ehefrauen-Plot" in Biopics zu sein als eine irgendwie an der Realität ausgerichtete Vorlage.
Ebenfalls in den Kreis der Heiligen wird Peter Altmaier erhoben, der als zusammen mit Merkels Büroleiterin, ihrer Spindokterin und ihrem außenpolitischen Berater die ehrliche Sorge um Menschen und Land umtreibt und der loyal und treu ihre Politik umzusetzen versucht. Der Kernkonflikt zwischen ihm und Merkel im Film ist de Maizière. Die These des Films ist, dass de Maizière zwar wohlmeinend, aber überfordert ist und dass Merkels Treue zu ihm zwar menschlich lobenswert, aber politisch falsch ist. Ich habe dazu keine Meinung, aber dieses Narrativ wird ziemlich deutlich ausbuchstabiert.
Merkels politischer Ansatz ist ebenso nicht misszuverstehen. Mehrmals hämmert der Dialog es explizit in die ZuschauerInnen hinein: Sie sucht nach Lösungen, wo anwendbar: gemeinsame Lösungen. Die Kapitulation Alexis Zipras' im Frühsommer 2015 wird als Triumph einer an die Vernunft appellierenden, ehrlich um die Griechen besorgten Kanzlerin gezeichnet (gemeinsame Lösung gefunden!), und der Versuch, die europäischen Staaten für eine gemeinsame Lösung der Flüchtlingsfrage an einen Tisch zu bekommen ist der rote Faden des ganzen Films. Es bleibt zaghaft angesprochen, inwieweit diese Hoffnung von Anfang an schädliche Naivität oder bewundernswerte Prinzipientreue war; Fakt ist, dass die Schließung der Grenzen im nationalen Alleingang nicht in Erwägung gezogen wurde.
Hierfür gibt der Film drei komplementäre Erklärungen. Das eine ist die Unsicherheit der rechtlichen Lage; mehrmals lässt Merkel (großartig wieder für das pädagogische Moment!) Rechtsgutachten in Auftrag geben, inwieweit eine Grenzschließung oder ein Abrücken von Dublin überhaupt mit den EU-Verträgen vereinbar wäre. Diese Betonung ist besonders angesichts des immer noch virulenten wie behämmerten Narrativs von der Gesetzeswidrigkeit von Merkels Maßnahmen wichtig. Zum zweiten wird Merkels ehrliche Sorge um die Flüchtlinge eins ums andere Mal in Szene gesetzt, eine Sorge, die sie deutlich von allen anderen Akteuren unterscheidet, denen das Schicksal der hunderttausenden von Menschen kaum mehr egal sein kann. Und zuletzt sorgt sich Merkel um die praktische Machbarkeit; wieder und wieder steht die Frage im Raum, wie eine Grenzschließung praktisch machbar sei. Sowohl an Horst Seehofer als auch an die Behördenchefs wird explizit die Frage gestellt: Wenn 500 Frauen mit Kindern auf dem Arm auf die Bundespolizisten zulaufen und Anweisungen nicht Folge leisten - was dann? Schlagstöcke? Schießbefehl? Die Frage wird nie beantwortet, und wurde es von Kritikern Merkels bis heute nicht (mit Ausnahme von Madame Schießbefehl Beatrix von Storch, selbstverständlich).
Vor dieser Kontrastfolie steht Merkel als einsame Heldin. Nicht, weil sie immer die korrekten Entscheidungen getroffen hat - an der konkreten Umsetzung gibt, wenngleich verhaltene, Kritik - sondern weil ihre Handlung alternativlos ist. Das ist sicherlich die Sichtweise, die Merkel gefallen dürfte; ihre Rede von der Alternativlosigkeit ihrer Politik dient ihr schließlich seit vielen Jahren als Ultima Ratio und erfährt in "Die Getriebenen" ihren moralischen Ritterschlag.

Das narrative Lehrstück - Antagonisten

Seehofer kommt dabei noch relativ gut weg. Er ist zwar ein harter Gegner Merkels, fungiert aber nur als Antagonist: nicht zufällig ist in vielen Szenen mit ihm ein Kreuz an der Wand prominent im Hintergrund platziert. Seehofer verkörpert die konservative Seele der Partei, er vertritt fundamental andere Ansichten als Merkel. Zwar stellt der Film ihn als ultimativ fehlgeleitet dar, weil er im (sehr eindringlich gefilmten und geschauspielerten) Telefongespräch mit Merkel die oben diskutierte konkrete Frage nicht beantworten kann. Aber er bleibt letztlich jemand, der ein Hindernis ist. Ein Hindernis übrigens, das Merkel nie überwinden kann; auch hier wieder ein angenehmer polit-pädagogischer Aspekt.
Nur marginal schlechter kommt Markus Söder weg. Er intrigiert meisterlich gegen Seehofer. Matthias Kupfer spielt den bayrischen Erbprinzen mit einer selbstsicheren Note. Sein Söder weiß, dass seine Zeit gekommen ist. Er nutzt die Flüchtlingskrise als Vehikel, um Seehofer zu beerben - ein Plan, der, wie wir wissen, mittlerweile aufgegangen ist. Höhepunkt dieses Konflikts ist eine direkte Konfrontation, in der Söder Seehofer erklärt, dass sie sich einfach zu ähnlich seien, als dass Söder sich bescheiden könne ("Alter Löwe, junger Löwe - ich bin du, nur 18 Jahre jünger", lässt Söder seinen Parteivorsitzenden wissen).
Eher gesichtslos bleiben die meisten anderen EU-Außenminister und Regierungschefs; diese blockieren mit schöner Regelmäßigkeit Merkels Suche nach gemeinsamen Lösungen, bleiben aber hinter den Kulissen und nur am Rande erwähnt. Das hat sicher mit der Zuspitzung auf Orban als zentralem Bösewicht des Dramas zu tun, zu der wir gleich kommen, verwischt das Bild hier aber etwas und geht zulasten der Komplexität und Tiefe.
Eine Figur, die ebenfalls sehr positiv gezeichnet wird, ist Frank-Walter Steinmeier. Er scheint stets in der falschen Partei zu sein und würde wohl am liebsten Merkel helfen, muss aber quasi aus Parteiräson seinem Vorsitzenden Gabriel zur Seite stehen. Zumindest bekomme ich aus den Szenen mit Steinmeier diesen Eindruck; er redet nur sehr wenig, so dass wir weitgehend auf Mimik und Gestik angewiesen sind. Blicke sagen aber oft mehr als tausend Worte; "Die Getriebenen" inszeniert Steinmeier recht klar als Antagonisten wider Willen, der Merkel soweit wie möglich aus dem Weg geht.

Das narrative Lehrstück - Die Bösen

Wenn reale Geschehnisse dramatisiert werden, braucht es neben Helden immer auch Schurken. Ist die Heldenrolle in "Die Getriebenen" recht klar Merkel auf den Leib geschneidert, so dürfen gleich mehrere Charaktere sich die Rolle der Bösen teilen.
In der Innenpolitik ist Sigmar Gabriel die Rolle des zentralen Bösewichts auf den Leib geschrieben worden. Er wird mit einer leicht diabolischen Note gespielt, eine Art Mephisto. In seiner ersten Szene freut er sich über die Krise, weil sie ihm den Weg ins Kanzleramt zu ebnen verspricht (ho ho ho). In einem späteren Monolog erklärt er, wie toll er sich als sympathischer Kümmerer inszenieren und von Merkels Schwäche in diesem Bereich profitieren kann. Umso jämmerlicher ist das Ergebnis. "Die Getriebenen" versucht, Gabriel als Nemesis Merkels aufzubauen, indem die Kanzlerin mit sorgenzerfurchter Stirn die Selbsteinschätzung Gabriels bestätigt, aber das Einzige, was dann tatsächlich folgt, ist Gabriels Rede in Heidenau über das "Pack". In einer Kabinettssitzung später beschämt Merkel ihn dann mit einem Appell zu seiner Verantwortung als Minister, ihre Politik mitzutragen. Nicht, dass Gabriel die Schurkenrolle nicht verdient hätte. Sie fällt nur dramaturgisch ziemlich flach und bildet einen der schwächsten weil auch plakativsten und platten, Teile des Films ohne echten Payoff.
Wesentlich relevanter sind da schon Hans-Georg Maaßen und Dieter Romann, der Chef der Bundespolizei. Von Anfang an verfolgen diese das Ziel, Grenzschließungen durchzuführen. Ominös werden Vergleiche zur Niederschlagung der G7-Proteste gezogen (die nicht zu Unrecht von den Helden des Stücks Altmaier und de Maizière als Blödsinn abgetan werden) und Druck in Richtung Polizeiaktion gemacht. In der ersten Hälfte des Films schrammen die Behördenchefs immer hart an der Grenze der Subordination vorbei; in der zweiten Hälfte erscheinen sie dann als konkrete Saboteure mit Agenda, die in einem Film über das Ende der Weimarer Republik nicht fehl am Platz wären und in Affekt und Wortwahl die entsprechenden Präkonzepte bedienen. Auch das ist sicherlich nicht falsch; sieht man den weiteren Verlauf von Hans-Georg Maaßens Karriere an, so ist der Film wohl noch zu freundlich zu dieser wandelnden Fehlbesetzung. In der Darstellung Michael Benthins könnte Maaßen jedenfalls die Plakette "Rechtsradikal" direkt auf den Anzug nähen. Berechtigt genug ist es.
Die Rolle des Oberschurken aber gebührt Viktor Orban. "Die Getriebenen" versucht nicht einmal, die Illusion einer kritischen Distanz zu wahren. Orban und sein Büroleiter bekommen Dialoge, wie sie Darth Vader und dem Imperator zu Gesicht stehen würden, lachen teuflisch wenn sie Flüchtlingen das Wasser abstellen und grinsen höhnisch über Merkels verzweifelte Appelle an ihre Menschlichkeit. Das Narrativ des Films ist, dass Orban a) aus Bösartigkeit die Flüchtlinge leiden lässt und b) aus Bösartigkeit die Krise eskalieren lässt.
Letzteres ist der politisch relevantere Punkt, weil sie Schuld und Unschuld klar verteilt. In der Erzählung von "Die Getriebenen" ist es so, dass Orban (zu einem für Merkel maximal schädlichen Zeitpunkt) die Flüchtlingen nach Österreich und Deutschland weiterreisen lässt (was die FilmemacherInnen übrigens ironischerweise dazu zwingt, Sebastian Kurz in recht positivem Licht erscheinen zu lassen). Erst dadurch wird Merkel die "Getriebene" aus dem Titel, die die Grenzen im Namen der Menschlichkeit offen lässt und die (rechtlich vorher abgesicherte!) Aussetzung der Dublin-Regeln verkünden lässt. Im Gegenzug nimmt sie Orban das Versprechen ab, dass dieser sich dann an seine Verpflichtungen hält, was der (mit dem erwähnten teuflischen Lachen) dann nicht tut.
In anderen Szenen wird Orban permanent rechtsextrem geframet; wenn etwa nationalistische Lieder bei einem Länderspiel gesungen werden filmt ihn die Kamera von unten im Halbdunkel (höhnisch grinsend natürlich), während ominöse Musik über die Geschehnisse gelegt wird.

Fazit

Ich habe ehrlich gesagt nicht genug Detailkenntnis, um beurteilen zu können, wie zutreffend die Schilderungen aus "Die Getriebenen" sind. Ich habe mich deswegen hier im Artikel auf die Beschreibung verlegt. Das Narrativ, das hier entworfen wird, ist deutlich. Orban böse, Gabriel böse, Merkel gut. Mit Sicherheit wird der Film für Merkel hilfreich sein, sie als kümmernde, menschliche, fehlbare Person inszenieren.
Auch wenn die FilmemacherInnen das sicherlich nicht geplant haben, so ist der Film doch gerade in höchstem Maße aktuell. Anstatt eine Art Nachwort auf ihre Kanzlerschaft zu sein, ist mittlerweile durchaus vorstellbar, dass er der Begleitsound für eine Merkel-Renaissance wird. Angesichts der Blamagen Laschets und Merz' in der Corona-Krise hat sich das Feld ihrer potenziellen Nachfolger sehr ausgedünnt, und sowohl Spahn als auch Söder kommen in diesem Film nicht sonderlich gut weg.
Relevant ist er aber über die Frage der Einordnung der Flüchtlingskrise so oder so, weil er zeigt, wie Regierungshandeln in der Krise funktioniert. Unsicherheiten und Entwicklungen, die sich von Moment zu Moment drastisch ändern und die unvorhersehbar sind; eine unüberschaubare Vielzahl von Akteuren, die alle ihren eigenen Willen haben; kleine Schritte, Unsicherheiten und eine wankelmütige Öffentlichkeit.
Denn es sollte nicht vergessen werden, dass Merkel in ihrer Flüchtlingspolitik auf genauso hohe Zustimmungsraten bauen konnte wie aktuell mit Corona. Die Meinungsumfragen vom September 2015, als die schicksalhaften Entscheidungen fielen, zeigten eine Mehrheit von zwei Dritteln der Deutschen, die Merkels Kurs stützten. Die Veröffentlichung dieser Zahlen und der Refugees-Welcome-Bewegung werden als emotionaler Triumph gehandelt, und es steht allen Beteiligten an nicht zu vergessen, dass die Regierung 2015 im Einklang mit vox populi handelte - und zwar einer überwältigenden Mehrheit.
Die wichtigste Frage, die eine sichtlich erschütterte Merkel nach ihrem Besuch in Heidenau formuliert, bleibt im Film genauso unbeantwortet wie in der Realität: "Woher kommt dieser Hass?" Der Film weist in einige Richtungen. Aber eine Antwort müssen wir weiterhin selbst suchen. Diese Ambiguität aber ist sicherlich kein Manko.

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