Seit einiger Zeit hörte Paul Stimmen, wenn es dunkel wurde und er fragte sich, wem sie gehörten, ob hinter der Dunkelheit etwas auf ihn wartete. Streckte er dann vorsichtig seine Hand aus, versperrte ihm eine dünne Wand den Weg. Sie dehnte sich unter seiner Berührung, doch selbst nach stundenlangem Tasten fand er kein Schlupfloch in dem Vorhang. Müde und verärgert gab er auf.
Was soll’s?, dachte Paul und verschränkte die Arme. Wenigstens bin ich sicher.
Eine Blase umhüllte ihn wie ein Kokon. Viel Spielraum für Bewegungen ließ sie ihm nicht. Er schwamm in ihr wie in einem See und konnte sich um die eigene Achse drehen, wenn er wollte. Doch wenn er seine Arme zu weit reckte oder zu heftig mit den Beinen strampelte, stieß er schnell an die Grenzen. Er gab es nicht gerne zu – er mochte die Dunkelheit trotzdem. Sie kümmerte sich um ihn.
Wenn Paul Hunger bekam, brauchte er nicht lange zu warten. Ein dünner Schlauch, der mit ihm in der Blase schwamm, versorgte ihn mit Nahrung. Spürte er Durst, gluckerte es und sein Verlangen wurde gestillt. In der Schwärze fiel es schwer zu schätzen, wie viel Zeit vergangen war, seit er seine Umgebung das erste Mal bewusst erlebt hatte. Doch was spielte das für eine Rolle?
Er führte ein Leben im Überfluss. Wenn es nach ihm ging, konnte es ewig so bleiben. Nur die Stimmen hatten ihn neugierig gemacht.
Fasziniert beobachtete Paul, wie sein Körper sich veränderte. Er wuchs jeden Tag ein kleines Stückchen mehr und wurde ein kleines bisschen schwerer. Seine Arme und Beine hatten sich zu Händen und Füßen verlängert, aus denen zehn Finger und Zehen gewachsen waren. Erfolglos versuchte er damit, Löcher in die Blase zu bohren. Er vertrieb sich die Zeit, indem er mit den Zehen wackelte und sich die Finger in den Mund schob. Vielleicht fand er eines Tages noch eine sinnvolle Verwendung für sie. Bis dahin gab er sich damit zufrieden, wie es war.
Dann begann die Dunkelheit eines Tages, in regelmäßigen Stößen zu atmen. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich das Nichts um ihn herum bewegte. So aufgeregt wie heute hatte er es aber noch nie erlebt. Während Paul sich noch fragte, was wohl passieren würde, wenn sein Körper einmal zu groß für seine Umgebung wurde, knallte es und sein Universum explodierte.
Paul zuckte vor Schreck zusammen. Seine Hand schlug ihm vor die Stirn und er spürte einen Sog an der Haut, als das Wasser um ihn herum abfloss. Die Blase hatte einen Riss bekommen. Er tastete nach Halt, nur erschlafften die Wände der Blase unter seinen Fingerspitzen.
Hatte Paul sie kaputt gemacht?
Plötzlich erzitterte die Dunkelheit unter einem dröhnenden Schrei. Paul hielt sich die Ohren zu. Die Stimme kam ihm bekannt vor, es war die Stimme seiner Dunkelheit und sie schreien zu hören fühlte sich an, als brülle ein Gorilla in seinem Gehörgang.
Paul fasste durch den Riss in der Blase. In der Schwärze stieß er auf Widerstand und zog erschrocken die Hand zurück. Die Dunkelheit pumpte. Die Panik krabbelte wie ein Schwarm Käfer durch seinen Körper, denn der Schrei hatte wütend geklungen. Was hatte er getan, um sie so zu erzürnen? Da zuckte ein Blitz durch sein Universum und das große Dunkel wurde schlagartig klein.
Er wurde gequetscht. Etwas drückte gegen seine Füße und stieß Paul vorwärts. Sein Kopf wurde gegen den Rand der Dunkelheit gepresst und sein Nacken gestaucht. Er rollte sich zu einer Kugel zusammen, als ein zweiter Blitz kam und ihn nach oben drückte. Da ahnte er, was vor sich ging.
Die Dunkelheit wollte ihn loswerden!
Aber warum? Paul konnte sich keinen Grund vorstellen, bisher hatte sie ihn immer willkommen geheißen. Manchmal sang sie ihm Lieder vor und wiegte ihn in den Schlaf. Dann vibrierte sein Kosmos in einem wohligen Rhythmus, der ihn von einer schönen Göttin träumen ließ, die ihre schützende Hand über ihn legte.
War sie wegen der kaputten Blase so wütend?
Paul ballte seine Hände zu kleinen Fäusten und fasste einen Entschluss. Es spielte keine Rolle, weshalb die Dunkelheit ihn loswerden wollte. Er würde sich nicht vertreiben lassen! Sie war sein Zuhause und er würde kämpfen, um auf ewig in ihrer Wärme wohnen zu können. Grimmig stemmte er sich gegen das Dunkel. Er drückte mit aller Kraft die würgende Schwärze fort, als er ein Schmatzen über sich hörte und erschrocken den Kopf hob.
Er brauchte nicht zu sehen, wie sich der Spalt öffnete. Er konnte ihn spüren. Ein Loch so groß wie seine Faust klaffte in der Dunkelheit über ihm.
Das Tor in ein neues Universum.
„Muttermund auf acht Zentimeter. Soweit sieht alles gut aus.“
In der Dunkelheit hatte Paul nie Gelegenheit gehabt, seine Augen zu benutzen. Er erforschte seine Umgebung durch Tasten und Fühlen. Als seine Netzhaut zum ersten Mal die Existenz von etwas bestätigte, das außerhalb der Dunkelheit lag, brannten seine Nerven wie Feuer:
Licht.
Ein schmaler Strahl bohrte sich durch die Schwärze. Paul hielt die Hände vor sein Gesicht, um seine Augen zu schützen. Wo der Strahl seinen Kopf berührte, fühlte er sich die Haut auflösen. Er musste weg aus dem Licht! Aber wohin? Er konnte sich nicht tiefer verkriechen, hinter ihm endete das Dunkel. Unermüdlich pumpte sie und drückte ihn hin zum Loch. Man wollte ihn nicht bloß loswerden – die Dunkelheit plante, ihn in dem grellen Weiß verbrennen zu lassen!
Nein, das würde Paul nicht zulassen. Seine atemlose Panik raubte ihm die Kräfte, die Glieder schmerzten und er wurde müde. Er sammelte die letzten Reserven in seinem Körper und krallte sich in der Dunkelheit fest. Zufrieden nahm er den schrillen Schrei zur Kenntnis, der folgte. Das geschah der Dunkelheit nur recht, dachte er . Hinter dem Loch hatte er neue fremdartige Stimmen vernommen. Er verstand nicht, was sie sprachen, doch sie gehörten nicht zu seiner Dunkelheit. Sie klangen wie Signale und mussten der Dunkelheit zur Hilfe geeilt sein.
„Ich glaube, er steckt fest. Wir müssen ihn drehen.“
„Alles in Ordnung, Frau Kling. Das ist ganz normal.“
„Achtung, vorsichtig jetzt!“
Etwas bewegte sich. Paul registrierte es nur am Rande seines Bewusstseins, er war zu beschäftigt, gegen das Pressen anzukämpfen. Da berührte ihn etwas am Rücken und er spürte, wie etwas nach ihm tastete. Sie suchten nach ihm. Von jenseits seines Universums formten die fremden Stimmen Beulen aus dem Nichts, die ihn vorwärts schieben sollten. Paul war schleierhaft, warum man ihn so quälte. Er hatte die Blase doch gar nicht absichtlich zerstört! Oder etwa doch?
Egal. Er musste sich etwas einfallen lassen. Seine Arme wurden immer schwerer und bald würde er gegen das Pumpen nicht mehr ankommen. Ihm fiel ein, dass er sich schon immer gewundert hatte, wofür seine beiden Beine eigentlich nützlich sein sollten und freute sich, als er endlich eine Verwendung für sie fand.
Paul drehte sich. Er passte den richtigen Moment zwischen zwei Presswellen ab und ließ die Dunkelheit los. Er griff nach dem dünnen Versorgungsschlauch und zog daran wie an einem Seil. Gleichzeitig machte er sich klein und kugelrund. Mit einem Ruck drehte er sich um die eigene Achse und klammerte sich wieder fest, als der schimmernde Spalt unter ihm war. Er streckte alle Gliedmaßen von sich weg und verankerte sich in der Dunkelheit, als wäre er eine Zecke. Das Dunkel jammert vor Schmerzen. „Bitte“, rief es verzweifelt, „holt in da raus!“ Das Universum erzitterte unter dem verzweifelten Flehen der Stimme, als könne es jeden Moment zerspringen.
Paul verzog sein faltiges kleines Gesicht zu einer triumphierenden Grimasse. Er wusste, dass er die Dunkelheit in die Knie gezwungen hatte. Niemand konnte ihn aus dieser Position lösen, nicht mal die Fremden, die von jenseits drückten. Er hatte sich selbst im Nichts verkantet. Keine Kraft im Universum – diesem oder einem anderen – würde ihn aus seinem Zuhause vertreiben.
„Etwas stimmt nicht, er steckt fest.“
„Sie verliert Blut. Wir brauchen Konserven.“
„Sollen wir öffnen?“
Auf einmal kam Paul ein Gedanke: Warum so plötzlich? Die ganze Zeit über kitzelte ihn die Frage in seinem Hinterkopf. Von einem Mal aufs andere war seine ganze Welt auf den Kopf gestellt worden, ohne Grund oder Ankündigung. Nur, weil er neugierig geworden war und versucht hatte, Löcher in seine Blase zu pieksen? Das ergab keinen Sinn.
„Ihr Puls wird schwächer.“
„Frau Kling, sie müssen stark bleiben.“
„Frau Kling?“
Langsam schien die Dunkelheit ihre Niederlage eingesehen zu haben. Das Pumpen wurde schwächer, so dass Paul seine müden Arme für einem Moment lösen und ausschütteln konnte. Herrje, wie seine Muskeln brannten! Er wollte nicht lügen, sehr viel länger noch und er hätte ernsthafte Probleme bekommen. Aber im Prinzip hatte die Dunkelheit nie eine Chance gehabt. Er saß einfach am längeren Hebel, das schien sie endlich begriffen zu haben. Doch die fremden Stimmen, die von außen an sein Ohr drangen, klangen besorgt. Paul ertappte sich dabei, dass er sich das Brüllen und Schreien zurücksehnte. Nicht, weil es ihm Freude bereitete. Im Gegenteil. Jeder Schmerzensschrei verursachte ein merkwürdiges Unwohlsein in der Magengegend. Nein, er sehnte sich einfach den Klang der Stimme zurück. Irgendwie gehörte sie ja zum ihm.
Moment mal – die Stimme! Warum konnte er sie nicht mehr hören?
Als Paul realisierte, was vor sich ging, verfluchte er sich dafür, dass er so dumm gewesen war.
„Frau Kling?“
„Sie reagiert nicht.“
„Frau Kling?“
„Adrenalin vorbereiten!“
Die Erkenntnis schoss Paul durch den Kopf, wie die Blitze durch die Dunkelheit gezuckt waren. Natürlich wollte die Dunkelheit ihn nicht vertreiben – sie wollte ihm helfen! Wie hatte er das nicht früher sehen können? Eine halbe Ewigkeit hatte er sich gefragt, was wohl jenseits der Dunkelheit auf ihn wartete und selbstverständlich hatte die Dunkelheit das gespürt! Wie konnte sie auch nicht? Sie bekam doch sonst alles mit, was er sich wünschte und erträumte!
Paul machte eine Rolle vorwärts und stürmte auf das Licht zu. Die fremden Stimmen waren nicht gekommen, um ihn aus seinem Zuhause zu verscheuchen, sie halfen der Dunkelheit, Paul zu helfen. Er stellte sich vor, sein Kopf sei ein Rammbock und hielt auf das Loch zu. Die Dunkelheit zuckte zusammen, als er mit der Stirn in den Spalt stieß. Gut, wenigstens bewegte sie sich noch. Paul machte sich so klein es ging und schob sich mit den Beinen vorwärts. Er würde es schaffen, das fühlte er. Hätte er mehr Platz gehabt, er hätte sich mit den Armen durch das Loch gezogen und das Licht umarmt. Es brannte auch nicht länger auf der Haut, das musste er sich eingebildet haben, aus Angst vor dem, was auf ihn lauerte.
Allen Schaden würde er wieder gut machen, das schwor er sich. Dass sich der Versorgungsschlauch um seinen Hals wickelte, merkte Paul erst, als ihm die Kehle zugeschnürt wurde.
„Ich sehe den Kopf.“
„Er kommt nicht.“
„Adrenalin ist bereit.“
Paul zerrte an der Schlinge um seinen Hals. Seine kleinen Finger gruben sich in den Spalt zwischen Schlauch und Haut, doch immer wenn er ihn zu fassen bekam, rutschte er ab. Er strampelte wild mit den Beinen. Statt sich zu befreien, verhedderten sich auch noch seine Füße in dem Lasso. Da spürte er, wie ihm die Luft wegblieb. Der Schlauch hatte einen Knick bekommen. Nichts, mit dem die Dunkelheit ihn versorgte, erreichte seinen Körper. Auch kein Sauerstoff.
Blut staute sich in seinen Schläfen. Paul schnappte nach Luft, verschluckte sich aber und würgte breiigen Schleim. Sein Schädel hämmerte und er spürte, dass die Energie aus seinem Körper floss, wie das Wasser aus der Blase geflossen war. „Jetzt!“, rief eine der fremden Stimmen und Paul verstand bloß den scharfen schneidenden Ton. Ein schwarzer Schleier legte sich über seine Sinne. Alle Eindrücke verblassten und fühlten sich auf einmal weit entfernt an. Er schämte sich. Es war das letzte Gefühl, das ihm blieb. Es nagte sich durch seine Eingeweide, als wolle es ihn von innen heraus auffressen. Am liebsten hätte er geschrien, doch dazu fehlte ihm der Atem. Die Schlinge verschnürte die Scham in ihm, wie in einem nassen Sack.
Der Schlag des Adrenalins traf ihn völlig unvorbereitet.
Es war, als rausche das Blut mit doppelter Geschwindigkeit durch seine Adern. Paul riss die Augen auf, den Mund, die Nase und zappelte und zerrte und zankte mit der Schlinge um seinen Hals. Irgendwie gelang es ihm, den strengen Griff des Lassos zu lockern und sich zu befreien. Der schwarze Schleier wurde fortgerissen und für den Bruchteil eines Augenblicks schien die Dunkelheit um ihn herum erwartungsvoll die Luft anzuhalten. Dann wurde Paul klar, dass Dunkel überhaupt nicht mehr atmete.
Er dagegen lebte.
„Seine Herztöne werden wieder lauter.“
„Ich setze das Skalpell an.“
Direkt vor seinem Gesicht öffnete sich ein schmaler Riss in der Dunkelheit. Er war so schmal, dass man ihn kaum sah. Erst als er größer wurde, begriff Paul was geschah und streckte seine Hände aus. Aus dem Riss wurde ein Abgrund, aus dem ihm grelles Licht anstrahlte. Zwei gigantische weiße Hände, die so groß wie er waren, griffen nach ihm. Sie packten ihn und zogen ihn aus der Dunkelheit. Paul klammerte sich an den Fingern fest wie an einem Rettungsanker. Er wurde in Licht gebadet. Eine der Hände gab ihm einen Klaps auf den Rücken. Er protestierte mit einem lauten Schrei, was die Stimmen erleichtert aufseufzen ließ. Die gnadenlose Helligkeit schmerzte seine Augen. Er hörte nicht mehr auf zu schreien. Paul bekam mit, dass er von einem Händepaar zum nächsten gereicht wurde, doch das kümmerte ihn im Moment nicht.
Er wollte zur Stimme. Über seine eigenen Schreie weg lauschte er, ob er sie orten konnten. Aber er hörte sie nicht.
„Auf die Station mit ihm.“
„Wo bleiben denn die Konserven?“
„Das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Uhrzeit?“
Die fremden Stimmen klangen nicht mehr hektisch; auch nicht erleichtert oder in Panik, sondern nur müde und flach. Paul bewegte sich, das konnte er fühlen. Eine fremde Stimme summte ein Lied. Sie war sanft und klang fürsorglich. Aber Paul hasste sie. Es war nicht seine Stimme.
Es war nicht die Stimme der Dunkelheit.
Man hüllte ihn in etwas weiches, dass nach Fremde stank und in seiner Nase biss. Er ahnte, dass man ihn beruhigen wollte, aber sein Schreien konnten sie damit nicht ersticken. Paul brüllte sich die Seele aus dem Leib, soweit er noch eine besaß, denn am Rande seines kleinen Verstandes begriff er, was er getan hatte.
Als man ihn vorsichtig in ein neues Universum schob, das nur aus fauchendem Leuchten bestand, hörte er schließlich auf zu brüllen. Seine Lungen brannten wie das Licht. Er traute sich nicht, seine Augen zu öffnen, aus Angst, dass das Licht die Dunkelheit abgelöst haben könnte. Und er weinte weil er wusste, dass er nie wieder dorthin zurückkehren würde.