«Die DDR wurde zum Fraß vorgeworfen»

«Die DDR wurde zum Fraß vorgeworfen»

Herr Most, wenn Sie Bilanz ziehen: Ist die Wiedervereinigung gelungen?

Edgar Most: Nein. Politisch zwar schon, aber wirtschaftspolitisch nicht. Da die Wirtschaftspolitik das Entscheidende ist, was die Menschen befriedigt, weil sie den Lebensstandard beeinflusst, kann man nicht von einer gelungenen Wiedervereinigung sprechen. Auch nach 20 Jahren nicht. Und wir werden das auch nach 30 Jahren nicht sagen können.

Warum so pessimistisch?

Most: Wir haben zwar momentan eine gute Entwicklung in Deutschland und damit auch in den Neuen Ländern. Aber wenn man sich die Arbeitslosenzahlen anschaut, haben wir den Aufschwung im Osten nie geschafft. Wir liegen immer noch weit unter dem West-Niveau. Auch die Lohnentwicklung liegt durchschnittlich 20 Prozent niedriger. Das wird wesentlich beeinflusst durch die Teilzeit. Es gibt viele befristete Verträge und Leiharbeit. Das sind Faktoren, die das Gesamtniveau negativ beeinflussen. In Analysen zur Zufriedenheit liegt der Osten ganz hinten.

Woran liegt das? Wurden bei der Wiedervereinigung Fehler gemacht?

Most: Die D-Mark-Einführung erfolgte zu schnell und zu einem falschen Kurs. Helmut Kohl hat das einfach verkündet, ohne die Bundesbank zu fragen – eine unmögliche wirtschaftliche Fehlentscheidung. Außerdem sind die Wirtschaft und die Betriebe der DDR völlig falsch bewertet worden. Das eigentliche Treuhandgesetz, das vorsah, das DDR-Vermögen der Bevölkerung zukommen zu lassen, wurde nicht umgesetzt. Stattdessen wurde die Privatisierung in eine Richtung gelenkt, dass der Osten der Verlierer geblieben ist. Die Industrieproduktion wurde innerhalb von drei bis vier Jahren auf 30 Prozent zurückgefahren. Es wurde alles viel zu schnell gemacht, gute Ansätze nicht zu Ende diskutiert. Es wurde nicht darüber nachgedacht: Wie soll der Osten weiterleben?

Wie hätte man es besser machen können?

Most: Man hätte darüber nachdenken müssen, was erhaltbar ist und was nicht. Wenn ich einfach nur alles zum Verkauf anbiete, was soll da übrig bleiben? Ein Beispiel ist auch die Abwicklung der Polikliniken – heute nennt man sie Ärztehäuser, das ist nichts anderes. Oder bei der Schulbildung. Hier wurde so viel korrigiert und am Ende kommen wir auf die Strukturen, die es bereits in der DDR gab.

Sie haben mal gesagt, die Einheit wäre ein gewaltiges Konjunkturprogramm für den Westen gewesen.

Most: Mehr als 80 Prozent sind in die Hände von Westdeutschen gewandert. Die Fördermaßnahmen gingen alle zugunsten der Betriebe des Westens. Am Anfang habe ich mich gefragt, ob die Fehler der Wiedervereinigung Dummheit waren. Heute bin ich der Meinung, es war vieles gewollt. Es ist eindeutig auch eine Frage von Sieg oder Niederlage. Dass der Osten der Verlierer war, hat man ihn spüren lassen. Das Vermögen und das Wissen der DDR wurden dem Kapital zum Fraß vorgeworfen. Das, was man brauchte, hat man genommen, alles andere wurde erledigt. Das politische System wollte, dass alles, was in der DDR gedacht, entwickelt und erfunden wurde, keine Rolle mehr spielt.

In einem Interview sagten Sie, man hätte den Menschen ihr eigenes Ich lassen sollen.

Most: 50 Prozent der Menschen hatte keine Arbeit mehr, der Rest musste zum Teil neue Berufe erlernen. 40 Jahre Leben in der DDR hatten plötzliche keine Bedeutung mehr oder wurde sogar verunglimpft. In den Mittelpunkt wurden die Stasi-Geschichten gestellt. Bestimmte Schulabschlüsse wurden nicht mehr anerkannt. Bei mir waren zum Beispiel zwölf Jahre Studium an Hochschulen plötzlich hinfällig. So viele Menschen sind in den Hintern getreten worden und wurden für die deutsche Einheit gar nicht mehr berücksichtigt. Auch die, die alles mit aufgebaut hatten. So kann man mit Leistungen nicht umgehen. Heute sind die qualifizierten Arbeitskräfte alle weg.

Verarmt, vergreist und verdummt haben Sie Ostdeutschland genannt.

Most: Das hab ich vor zehn Jahren gesagt, um die Menschen aufzurütteln. Ich wollte sagen: Leute, wir können nicht so weitermachen. Das hat damals keiner ernst genommen. Inzwischen ist das durch wissenschaftliche Untersuchungen bewiesen worden. Nun stehen wir vor diesen Problemen. Bis auf wenige Ballungsgebiete wie Berlin und Dresden ist nichts mehr da. Es gibt Regionen, die richtig tot sind. Die jungen Leute sind hier fast alle abgewandert. Und die Generation, die damals abgewickelt wurde, geht jetzt in Rente. Damit ist die Altersarmut vorprogrammiert.

Lesen Sie auf Seite 2, wie dem Osten geholfen werden kann.

Es ist aber auch viel Geld in den Osten geflossen. Warum steht er heute nicht besser da?

Most: Die Produktivität ist nicht da. Wo sollen neu geschaffene Werte herkommen? Alle großen Betriebe, die wir haben, sind nur verlängerte Werkbänke des Westens oder des internationalen Kapitals. Die Wertschöpfung, die jeder Arbeitsplatz mit sich bringt, bleibt nicht hier. Es gibt zwar schöne Städte, schöne Straßen, alles wunderbar. Aber der Schuldenstand ist um das Doppelte gestiegen. Wir haben fünf neue Länder gegründet und können eigentlich nur zwei bezahlen. Aber jeder hält sich an seinem Stuhl, der geschaffen wurde, fest. Wir haben einen so hohen Verwaltungsaufwand. Das funktioniert nicht.

Der Solidarpakt läuft 2019 aus. Wird der Osten bis dahin aufgeholt haben?

Most: Das ist die Gretchenfrage, die man jetzt stellen muss: Haben wir dann in etwa das Niveau West erreicht? Wahrscheinlich nicht. Dann muss man sich fragen: Brauchen wir einen neuen Pakt? Dabei geht es nicht um den gleichen Lebensstandard, sondern um die Grundproportionen in der Entwicklung. Wir werden Schwierigkeiten haben, diese zu erreichen, auch in 40 Jahren. Vielleicht erreichen wir sie nie. Das ist, was mir Sorgen macht. Die Politik geht zu schnell zur Tagesordnung über. Aber die Grundprobleme sind nach wie vor nicht gelöst. Geldzahlungen reichen nicht.

Wie kann dem Osten dann geholfen werden?

Most: Man muss sich überlegen, wie man die Wertschöpfung im Osten lässt. Das Vermögen der Unternehmen muss für die Gesellschaft mehr Nutzen bringen. Man müsste Stiftungen gründen für Bildung, Sport oder Kultur, damit wir nicht nur die Erfüllungsgehilfen von Großkonzernen sind. Außerdem würden zwei Neue Länder reichen. Da werden wir auch noch hinkommen. Wenn der Solidarpakt ausläuft, haben sie kein Geld mehr, um ihre Haushalte zu finanzieren. Nachdem beschlossen wurde, dass die Länder keine Schulden mehr aufnehmen dürfen, wo sollen da die Mittel herkommen für das Nötigste wie Schuldbildung und Infrastruktur? Die Verwaltungsstruktur müsste neu gestaltet werden. Das haben wir schon vor zehn Jahren erkannt. Aber die Politik schweigt dazu, Probleme werden weggeschoben. Das macht mich wütend.

Sie haben beide Systeme kennen gelernt. Welches ist Ihr Favorit?

Most: Ich will nicht für das eine System sprechen oder das andere. Aber bei der deutschen Wiedervereinigung hat der Kapitalismus versagt. Generell sage ich, der Sozialismus ist kaputtgegangen, weil er alles regulieren wollte, der Kapitalismus geht vor die Hunde, weil er gar nichts mehr reguliert. Dazwischen muss man einen Weg finden. Man muss dem Kapital vorschreiben, was es darf und was nicht. Das sieht man auch bei der aktuellen Finanzkrise.


Edgar Most (Jahrgang 1940) arbeitete in der Zentrale der DDR-Staatsbank und wurde einer ihrer Direktoren. 1990 war er maßgeblicher Berater bei der Währungsunion und gründete mit der Kreditbank AG die erste Privatbank in Ostdeutschland. Seit Dezember 1990 ist er Mitglied der Geschäftsleitung der Deutschen Bank und zählte bis 2005 zum Beraterkreis der Bundesregierung für den Aufbau Ost.

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Deutsche Einheit – «Die DDR wurde zum Fraß vorgeworfen»

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