Vom Osten keine Ahnung

Vom Osten keine Ahnung

Es gab diesen einen Moment. Ein Spaziergang führte mich rund einen Monat nach meinem Umzug von Niedersachsen nach Leipzig in eine kleine Straße. Rechts von mir waren Baracken, ein rostiger Draht aus Stacheldraht begrenzte das Gelände: die ehemalige Kaserne der Sowjetunion. Während Vögel in den Bäumen an der Seite sangen, die Sonne hell vom Himmel schien, lief ich an den Relikten einer vergangenen Zeit vorbei. Ich begann zu ahnen, dass ich über die DDR nichts wusste.

Auf RTL gab es vor einigen Jahren die DDR-Show. Kati Witt, einst «das schönste Gesicht des Sozialismus», erinnerte sich an ihre Kindheit in der DDR, dazu wurden die typischen Ost-Produkte präsentiert. Die Knusperflocken, Vita-Cola. Es klang weniger nach einer Diktatur, es klang nach einem gemütlichen Samstag auf dem Sofa.

Und auch wenn ich, 30 Jahre alt, in der Schule viel von Honecker, der DDR gelernt habe: begriffen, was DDR bedeutet, das habe ich nie. Nicht einmal das Geschichtsstudium brachte da weiter. Stalin-Note: Ja, die kannte ich. Als mein Kollege aus Dresden mir irgendwann erzählte, dass er in seiner Kindheit nicht wusste, dass man als ganz normaler Bürger auch zu Hause ein Telefon haben konnte: Das wusste ich nicht.

Die DDR bleibt nur eine wage Ahnung

Es gibt einen Unterschied zwischen Wissen und Begreifen. Wir Westdeutsche wissen, dass es eine Diktatur in Ostdeutschland gab. Aber für die meisten ist dies eben nur Wissen, es sind Zahlen, Fakten, Daten. Wenn ich an der Nikolaikirche in Leipzig stehe, dem Platz von dem ab den frühen 1980ern Jahren die Montagsdemonstrationen mit zehntausenden Demonstranten ausgingen, dann versuche ich zu verstehen, was DDR und Unfreiheit bedeutet. Es bleibt nur eine wage Ahnung.

Eines Abends stand ich auf meinem Balkon. Die Nachbarin sprach mich an. Woher ich komme, was ich tue. Die normalen Fragen. 85 Jahre ist sie mittlerweile alt. Mit ihrem Mann gemeinsam war sie Inhaberin der Fleischerei in unserer Straße. Heute befindet sich in den Räumen eine Versicherung, dort wo früher das Milchlädchen der Straße war, da ist meine Wohnung.

Die Nachbarin erzählte. Wie sie früher morgens die Tür des Geschäfts öffnete und die Kunden bis um die Straßenecke standen. Wie ihr Mann im Keller das Fleisch verarbeitete, wie er nach Feierabend davon träumte, einmal rauszukommen. Wieder einmal die Nordsee zu sehen. «Er war im Krieg an der See stationiert», erklärte sie. Ihr Mann kam aus der Wohnung und schwieg. Er ist ein knorriger, hagerer Mann, 89 Jahre alt. Als die Mauer fiel, er die Nordsee wieder sehen konnte, da ging er schon schlecht, die Schritte schmerzten. Einmal war er danach an der Küste, mit dem kaputten Knie konnte er kaum laufen. Er musste den Spaziergang abbrechen. Als junger Mann wäre er an das Wasser gerannt. Aber die Möglichkeit hatte er nicht. 1961 wurde die Mauer gebaut.

Der Solidaritätszuschlag gibt verpasste Chancen nicht zurück

«Je besser wir Diktatur begreifen, desto besser können wir Demokratie gestalten», hat Roland Jahn, der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, zu seiner Amtseinführung gesagt. So klar und so logisch, und doch so schwer. Wie soll meine Generation, geboren nach 1980 im Westen, verstehen, was eine Diktatur mit den Menschen macht, begreifen, was die DDR war? Wir sind mit Witzen über den «dummen Ossi» groß geworden, mit dem Glauben, dass «drüben» alle zur Stasi gehörten und der Diskussion um den Solidaritätszuschlag, und die falschen Versprechungen des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl.

Es wäre einfach zu sagen, dass nun, 21 Jahre nach dem Mauerfall, alles seinen geregelten Gang gehen könnte. Wir leben hier in Deutschland gemeinsam, Ost- und Westdeutschland sind normale Beschreibungen wie auch Süd- und Norddeutschland. Aber das ist irgendwie nicht so. Weil eben doch etwas anders ist.

Im Osten leben Menschen, die haben erfahren, was eine Diktatur ist. Und wenn sie dafür zu jung sind, dann erfahren sie es von ihren Eltern. Es ist Teil der Familiengeschichte. Im Westen hingegen wird mit hochgezogener Augenbraue in Richtung Osten geschielt, «ihr habt doch alle mitgemacht» gesagt und damit vergessen, dass ein paar Euro Solidaritätszuschlag den für immer verpassten Ausflug an die Nordsee nicht aufwiegen können.

Quelle:
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Gesellschaft News -
Deutsche Einheit – Vom Osten keine Ahnung

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Tags: DDR, Kati Witt

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