Der Weg nach Woanders

Der Weg nach Woanders

„Der Weg nach Woanders führt durch den endlosen Ring“, erklärte der Wicht in den grünen Hosen und dem gefiederten Wams. „Aber du könntest auch über die Jammerbrücke gehen, das ist eine Abkürzung, allerdings eine gefährliche. Du kannst da leicht im Nirgendwo landen.“

„Ich will sicher nach Woanders gelangen“, entgegnete ich. „Mein Bedarf an Irrträumen ist gedeckt. Kannst du mich zum endlosen Ring führen?“

„Wieso möchtest du überhaupt nach Woanders? Gefällt es dir hier nicht?“

„Doch, doch, ich liebe die Wurzelhäuser und den Klang der Glasnadeln im Wind, aber ich muss nach Woanders.“

„Niemand muss müssen, schon gar nicht nach Woanders.“ Er drehte sich um und rief in Richtung Theke: „Noch drei Bier, bitteschön – vom stark riechenden.“ Der Wirt nickte mit dem Kopf.

„Wieso drei?“, fragte ich verwundert.

„Wieso nicht vier, fünf oder ein Dutzend?“, fragte der Wicht im Federwams zurück. „Doch kommen wir zur Sache. Du bist dir hoffentlich bewusst, dass Woanders drüben liegt?“

„Drüben auf der anderen Seite, ja, ich weiß. Normalerweise gelangt man nur dorthin, wenn man gestorben ist.“

„Gestorben ja, im Traum nicht. Du bist ein Träumer, möchtest du sterben?“

„Nicht wenn es sich vermeiden lässt.“

„Ich sehe, du bist entschlossen, auch wenn mir die Gründe für deine Hartnäckigkeit verborgen bleiben.“

Der Wirt brachte drei Gläser und stellte sie auf den Tisch. Sie waren leer.

„Wo ist das Bier?“, wollte der Wicht wissen und machte ein saures Gesicht.

„Es wird nachgeliefert, sobald du deine Schulden beglichen hast.“

„Schon gut“, mischte ich mich ein, „das Bier geht auf meine Rechnung.“

„Mit was wollen Sie denn bezahlen“, fragte der Wirt und kniff die Augen zusammen als er mich musterte.

„Mit Traumsalz“, sagte ich. Es war mir gerade in den Sinn gekommen, als hätte es mir jemand eingeflüstert. Ich hatte noch nie von Traumsalz gehört.

„In Ordnung.“ Er wischte mit der flachen Hand rasch über die Gläser und sie füllten sich wie unter dem Zapfhahn. Ich staunte.

„Es gibt kein Traumsalz“, raunte mir der Wicht zu, als der Wirt zur Theke zurück kehrte.

Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht nicht hier, aber Woanders.“

„Ich sehe, du weißt Bescheid. Trotzdem muss ich dich warnen. Woanders ist nicht Irgendwo.

„Das weiß ich, ich war schon in Irgendwo.“

Als wir vor dem endlosen Ring standen, wurde mir doch ein wenig flau im Magen. Meine gespielte Selbstsicherheit half auch nicht mehr. Der Ring mit dem Durchmesser von zehn Wagenrädern stand mitten im Wald. In seinem Innern war es dunkel wie in einem Kuhmagen. „Dort müssen wir rein?“

„Nicht wir, du musst dort rein, wenn du nach Woanders willst.“ Der Wicht grinste.

„Und dann komm ich auf der anderen Seite in Woanders raus?“

„Ja, das heißt, vermutlich.“

„Was?“ rief ich. „Du weißt es nicht mit Sicherheit?“

„Wie auch, ich bin diesen Weg noch nie gegangen.“

Ich schluckte leer. „Wie bist du dann nach Woanders gekommen?“

„Ich war noch nie in Woanders. Dort würde ich nie hingehen.“

„Wie weißt du denn, dass der Weg durch diesen Ring führt?“

„Es wird gesagt, dass…“

„…also vom Hörensagen. Ist überhaupt schon mal jemand durch diesen verdammten Ring gegangen?“

„Ja, natürlich. Gerade vor zwei Monden hat eine kleine Frau diesen Weg genommen. Sie sagte, es sei bloß ein Spiel und lachte dabei. Vermutlich hat sie den Ring gar nicht richtig gesehen, sie hatte eine Brille mit Gläsern so dick wie Flaschenböden.“

„Ist sie zurück gekommen?“

„Bisher nicht. Aber das ist nicht weiter verwunderlich. Durch den Ring kam noch niemand zurück.“

„Was?“, schrie ich. „Aus Woanders ist noch nie jemand zurück gekommen?“

„Mindestens nicht durch den Ring. Darum heißt er auch der endlose Ring.“

„Weil man darin endlos unterwegs ist?“

Der Wicht zuckte bloß die Schultern.

Als ich den endlosen Ring entgegen meinen Bedenken betrat, erwartete ich, dass mich die Dunkelheit verschlucken würde. Doch kaum hatte ich einen Schritt getan, verließ ich den Ring schon wieder auf der anderen Seite. Das heißt, ich glaubte, auf der anderen Seite zu sein. Ich stand in einer riesigen Halle mit blauen Säulen und einem blauen Himmel. Mitten drin saß ein dunkel gekleideter Mann an einem weiß gedeckten Tisch und aß ein Hähnchen.

„Willkommen in der Zwischenstation“, sagte der Mann zwischen zwei Bissen. „Setzen Sie sich, Sie haben Zeit.“

„Ich träume“, murmelte ich zu mir selbst.

„Ja, das sagen sie alle. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie mir Ihre Geschichte.“ Er deutete an das andere Ende der langen Tafel. Dort war der Tisch gedeckt. Ob ich auch ein Hähnchen bekam?

„Ich möchte nach Woanders“, sagte ich, als ich mich gesetzt hatte.

Der Mann winkte mit einem Knochen. Sein kurz geschorener Bart glänzte vor Fett. „Ja, natürlich. Doch Woanders ist zurzeit besetzt, Sie müssen warten.“

Er will mich wohl auf den Arm nehmen, fuhr es mir durch den Kopf. Woanders war ein großes, ja unendlich großes Land. Da war ich mir sicher.

„Ist hier nicht kürzlich eine kleine Frau durchgekommen, mit einer dicken Brille“, wollte ich wissen.

„Nein, aber wir sind auch nicht die einzige Zwischenstation, müssen Sie wissen. Es gibt Tausende.

„Tausende?“, ich staunte. „Sind diese Zwischenstationen so etwas wie Wartesäle?“

„Wartesäle!“ Der Mann prustete vor Lachen. Beinahe hätte er sich verschluckt. Rasch griff er nach einem gläsernen Kelch mit Wasser.

Ich war irritiert. „Wie lange muss ich denn warten, bis ich nach Woanders gehen kann?“

„Ein Leben, zwei Leben, ein Dutzend Leben. Das kommt drauf an. Aber möchten Sie jetzt nicht etwas essen?“

„Danke, ich bin nicht hungrig. Auf was kommt es denn an, wie lange man warten muss?“

„So lange, bis drüben Ihr Platz frei wird. Woanders ist gefragt in diesen Zeiten. Jeder will dorthin.“

Hatte ich mich verhört, oder hatte er tatsächlich von „meinem Platz drüben“ gesprochen?

„Habe ich denn in Woanders einen Platz und wer hält ihn an meiner Stelle besetzt?

„Natürlich haben Sie einen Platz in Woanders. Jeder hat dort drüben einen Platz. Aber zurzeit ist Ihr Platz von einem ihrer Doppelgänger besetzt. Sie müssen warten.“

„Ich habe einen Doppelgänger?“

„Nicht nur einen, tausende.“

„Aber um Himmelswillen, wo kommen die denn alle her?“

„Aus allen möglichen Zeiten und von allen möglichen Orten.“

„Und wann räumt der Doppelgänger, der jetzt in Woanders ist, meinen Platz?“

„Wenn er Sie ist und Sie er.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Das wird noch, machen Sie sich keine Sorgen. Aber jetzt sollten Sie unbedingt etwas essen. Die Zeit ist lang hier.“ Er klatschte in die Hände und rief, den Blick auf den Hallenhimmel gerichtet: „Ein Hähnchen für unseren Gast. Und etwas Traumsalz dazu.“

Träume muss man nicht immer verstehen, es reicht, wenn man sie begreift. Euer Traumperlentaucher.



wallpaper-1019588
[Manga] Jujutsu Kaisen [3]
wallpaper-1019588
BLUE LOCK – EPISODE NAGI: Deutscher Kinotermin bekannt
wallpaper-1019588
Code Geass: Rozé of the Recapture: Neuer Trailer veröffentlicht
wallpaper-1019588
Suicide Squad ISEKAI: Neuer Teaser veröffentlicht