Der Wagen, den es nie gab

DER KOMMUNISMUS. DAS UNGEHEUER, DAS SEINE EIGENEN KINDER FRISST.
(Vincent Deeg)
Es war immer der gleiche schreckliche Film, der vor Michaels Augen ablief. Der Film, der ihn seit Wochen nicht mehr los ließ, der ihn am Tag fast in den Wahnsinn trieb und ihm in der Nacht, wenn man Michael zwischen den zahl und endlos erscheinenden, vor allem aber brutalen Verhören und zwischen den immer wieder kehrenden Lichtkontrollen eine kurze Ruhepause gönnte, er also, wie jede Nacht weinend auf seinem stählernen Bett seiner dunklen und kalten Einzelzelle lag den Schlaf raubte.
*
Der schönste Tag ihres Lebens sollte es werden. Der Tag, an dem der einzwanzigjährige Michael und seine ein Jahr jüngere und im siebten Monat schwangere Katrin sich nach einer zweijährigen Beziehung endlich das Ja-Wort geben wollten. Ein Tag, der mit einem warmen Sonnenstrahl begann, dessen Ende jedoch in eine Katastrophe, in eine bitterere und eisig kalte Dunkelheit führte.
Es geschah, als das frisch vermählte Paar das Standesamt verließen. Als sie sich in das für sie bestellte Taxi setzten, um, von den anderen Hochzeitsgästen gefolgt zu dem auf sie  wartende und festlich geschmückte Restaurant zu fahren. Dort, wo die beiden mit all ihren Verwandten, Freunden und Kollegen ihr neues Glück feiern wollten. Das Glück, von dem sie glaubten, dass es eine Ewigkeit anhalten würde. Eine Ewigkeit, die jedoch nur wenige Augenblicke dauern sollte.
*
„Verdammter Idiot“ Hörten sie den Fahrer noch laut schreien, während der Mann hektisch auf die Bremse trat und ruckartig das Lenkrad seines Taxis herum riss. Das war alles, an das sich Michael, bevor es um ihn herum dunkel wurde, noch erinnerte. Das und der Wagen, den er in seinem linken Augenwinkel hatte heran schießen sehen.
Ein grauer Wartburg 353, der, obwohl dessen Ampel rot zeigte, obwohl er, wie die anderen Fahrzeuge neben ihm, hätte anhalten müssen, ohne abzubremsen und ohne sich in irgendeiner Weise bemerkbar zu machen mit hoher Geschwindigkeit über die Kreuzung schoss und den Fahrzeugen, deren Ampeln grün zeigten, die also fahren durften, die Vorfahrt nahm.
Fahrzeuge, zu denen auch das Taxi gehörte, in dem Michael und seine hoch schwangere und frisch gebackene Ehefrau saßen. Ein schwerer Wolga, der auf Grund der ruckartigen Lenkbewegungen und der hektischen Bremsung seines Fahrers ins Schleudern geriet und mit seinem ganzen Gewicht gegen einen der Ampelmasten krachte.
Der Aufprall, der Katrins junges Leben und das ihres noch ungeborenen Kindes mit einem Schlag beendete und der Michael mit einer schweren Kopfverletzung für zwei Wochen ins Krankenhaus beförderte.
*
Kann es noch etwas schrecklicheres geben, als den Verlust seiner geliebten Frau und den seines Kindes? Ja. Das kann es.
Und zwar, wenn einem gesagt wird, dass all das überhaupt nicht passiert ist. Wenn man behauptet, dass es diesen Wagen, der auf Grund seiner, auf dem Dach montierten und von allen Zeugen beschriebenen Funkantenne eindeutig als ein Dienstwagen der Polizei oder des Ministeriums für Staatssicherheit zu erkennen war, nie gegeben hat und dass stattdessen der Fahrer des verunglückten Taxis, der plötzlich nicht mehr auffindbar ist, einen Fahrfehler begangen hat.
Wenn wirklich jeder der von der Verkehrspolizei befragten Zeugen plötzlich nichts mehr gesehen haben will oder sich verleugnen lässt. Wenn die eigenen Eltern sagen, dass es keinen Sinn hat, sich gegen einen ganzen Staat anzulegen. Ein Staat, der plötzlich in grauen Anzügen gekleideten vor der Tür steht, um seinem Gegenüber unmissverständlich klar zu machen, was passieren wird, wenn man die schwachsinnigen Nachforschungen, die frechen Anschuldigungen gegen die Sicherheitsorgane und die lästigen Briefe an das Ministerium für Inneres und an den Staatsrat der DDR nicht sofort einstellt.
Wenn eines Abends ein paar Herren vor der Wohnungstür stehen, um ihr unbelehrbares Gegenüber, den lästigen Querulanten, den dreckigen Lügner und den Feind des Staates, zur Klärung eines Sachverhaltes abzuholen.
*
Michael verbrachte damals mehr als drei Monate in der Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Berlin Hohen-Schönhausen. Dort, wo man ihm in unzähligen, am Tage und in der Nacht stattfinden und von Schlafentzug, Schlägen und diversen Medikamenten begleiteten Verhören ein falsches Geständnis abpresste.
Ein Geständnis, auf dessen Grundlage man Michael etwas später wegen des erwiesenen Tatbestandes der falschen Anschuldigung und des Tatbestandes der Staatsverleumdung zu einer Haftstrafe in Höhe von zwei Jahren und fünf Monaten verurteilte, welche er bis zu ihrem Ende in der DDR Haftanstalt Bauzen verbrachte.
Michael stellte während seiner Haftzeit einen Antrag auf eine ständige Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland und verließ 1986, nach Bewilligung dieses Antrages das Gebiet der DDR. Er zog nach Hamburg. In die Stadt, in der er noch immer wohnt.
Die Tot seiner Frau und seines Kindes jedoch ist bis zum heutigen Tage nicht gesühnt.
Diese Geschichte beruht auf eine wahre Begebenheit. Sie wurde mir von einem guten Freund erzählt.
Alle hier beschriebenen Namen wurden geändert.

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