Auf Transport

KEIN LÖWE, KEIN ADLER UND KEIN WOLF AUF ERDEN GEHT WIE DAS RAUBTIER MENSCH MIT SEINEN OPFERN UM.
(Vincent Deeg)
Viele Jahre waren seit dem ins Land gegangen. Doch noch immer erinnerte sich Achim, als er in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen vor dem Eisenbahnwaggon mit den Milchglasfenstern stand, als wäre es erst gestern gewesen. Noch immer erinnerte er sich genau an seine erste Reise mit diesem Gefangenensammeltransportwagen. Dem damals unter den DDR Gefangenen berüchtigten Grotewohl-Express.
*
Es geschah im Sommer 1988. Achim war bei dem Versuch, mit einem Schlauchboot über die Ostsee nach Dänemark zu fliehen gefasst und nach einem zweimonatigen Aufenthalt in der Untersuchungshaftanstalt Rostock zu einer Gefängnisstrafe von sechzehn Monaten verurteilt worden. Ein wie immer schnell und ohne Verteidigung gefälltes Urteil, das Achim nicht nur vom Untersuchungsgefangenen zum Strafgefangenen und somit zum offiziellen Feind des Staates erklärte, sondern das auch seinen weiteren Aufenthalt in der U-Haft unnötig machte und beendete.
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„Sachen packen, Strafgefangener Peters. Sie gehen auf Transport“ Hatte der Schließer emotionslos in die Vier-Mann-Zelle gebellt, nachdem er deren Tür mit lautem Getöse geöffnet hatte und bevor er sie, nur einen kurzen Augenblick später und ohne den drei Zelleninsassen auch nur einen Blick zu zuwerfen ebenso lautstark wieder schloss. 
Das war eine Nachricht, die Achim mit Freude entgegen nahm. Bedeutete sie doch, dass er dieses enge und dunkle Loch von einer Zelle, in der es in jeder Ecke nach modernder Feuchtigkeit stank endlich verlassen konnte. Eine Freude jedoch, die sich schon bald in Luft auflösen und ein Transport, der zu einer langen und unmenschlichen Odyssee, der sich zu einem wahren Albtraum entwickeln sollte.
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Fast kam sich Achim wie ein Stück Vieh vor, das man zum Schlachthof brachte, als man ihn und die anderen, zum Transport zusammen gestellten Gefangenen, mit Handschellen gefesselt und unter ständigem und lautem Befehlsgeschrei in den auf dem Hof der U-Haft bereitgestellten W50 Gefangenentransporter, ein LKW mit Kastenaufsatz, der zwar grau war, den aber seltsamer Weise jeder als grüne Minna bezeichnete trieb.
Oder als man, nachdem dieser Transport den Rostocker Hauptbahnhof erreicht hatte, mit russischen AK47 Sturmgewehren bewaffnet und von wild kläffenden, Zähne fletschenden und die Gefangenen fast anspringenden Schäferhunden begleitet, ihm und den anderen schreiend befahl, in den, ganz am Ende des letzten Bahnsteiges stehenden und am Ende eines auf seine baldige Abfahrt wartenden D-Zuges gekoppelten Waggon zu steigen.
Ein böses Schauspiel, das, wenn man einmal davon absieht, dass die, in dunkelblauen Uniformen gekleideten Bewacher andere Waffen und andere Zeichen und Symbole an ihre Jacken und Mützen trugen und dass der Waggon, in den Gefangenen getrieben wurden kein Viehtransporter war, sehr an die Bilder erinnerte, die man ihm und den anderen Kindern seiner Klasse damals in der Schule oder während eines späteren Besuches der Mahn und Gedenkstätte des ehemaligen KZ Sachsenhausen gezeigt hatte, die sie damals während einer Klassenfahrt besuchten.
Nein. Ein Viehtransporter war es nicht, in den er damals einstieg. Es war ein grüner, mit vergitterten Milchglasfenstern versehener Personenwaggon, den man als Unwissender leicht für einen gewöhnlichen Postwagen der Deutschen Reichsbahn hätte halten können. Ein Waggon, dessen Inneres jedoch nur wenig bis gar nichts mit dem Versand von Briefen und Paketen zu tun hatte, sondern nur mit dem Verschluss der Gefangenen.
*
Achim hatte schon damals keinen besonders großen Wert auf Luxus gelegt und natürlich auch nicht erwartet, in einem schönen Erste-Klasse-Abteil chauffiert zu werden. Doch als sich die Tür hinter ihm und den anderen drei Gefangenen schloss, die man ebenfalls in diesen kleinen und stickigen Raum gepresst hatte, verschlug es ihm, der während seines später gescheiterten Fluchtversuches sogar in einem Wald geschlafen hatte, für einen Augenblick die Sprache.
Es war eine 1x1,30 Meter große Zellen, in der Achim und seinen neuen und unfreiwilligen Weggefährten standen. Eine winzige Sardinendose, wie einer der Gefangenen diese Zelle nannte, die durch eine schmale, mit einem von außen verriegelten Sichtfenster versehene Tür verschlossen war, die über vier hölzernen und ebenfalls schmalen Klappsitze verfügte, auf denen man sich, wenn sich alle vier gleichzeitig darauf setzten, kaum noch bewegen konnte, auf denen die Gefangenen der einen Seite die Beine spreizen musste, damit die der gegenüberliegenden Seite die ihren dazwischen stellen konnten. Doch das war noch längst nicht alles, was diese Zelle zu bieten hatte. Nein. Denn es gab auch ein, von innen vergittertes Milchglasfenster, durch dessen, nur ein paar wenige Zentimeter breit geöffnete Lüftungsklappe man weder mit einer ausreichenden Frischluftzufuhr rechnen, noch hinaus sehen konnte.
*
Zwei ganze Tage sollten vergehen, bis der Gefangenentransport seinen Bestimmungsort erreichte. Zwei Tage, in denen Achim, seine Mitgefangenen und all die anderen, die man in den übrigen Zellen gefangen hielt, nicht nur mit dem wenigen Platz, sondern auch mit dem wenigen und kaum genießbaren, aus einer undefinierbaren Flüssigkeit, die sich Tee nannte und aus zwei alten, mit widerlich schmeckender Leberwurst beschmierten Broten bestehenden Proviant auskommen mussten, den man ihnen zu Beginn der Reise, in einer alten und ausrangierten Gasmaskentasche der NVA verpackt mitgegeben hatte. Tage, in denen man, weil es der Fahrplan verbot, den Waggon, inklusive seiner Fracht einfach auf ein Abstellgleis schob und stehen ließ.
Dort, wo die Gefangenen ganze acht unerträgliche und endlos erscheinende Stunden der heißen und erbarmungslosen Sommersonne schutzlos ausgeliefert waren. Wo sich das Wachpersonal schon bald aus dem schnell aufgeheizten Wagen entfernte und man sich nicht weiter darum kümmerte, dass die Gefangenen in ihren schlecht belüfteten Zellen beinahe erstickten.
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Ein furchtbares Erlebnis, das jedoch nicht Achims letztes bleiben sollte. Denn er wurde nach seiner ersten Inhaftierung noch zwei weitere Male wegen des Versuches, in den Westen zu fliehe, verurteilt und in verschiedenen Gefängnisse der DDR transportiert.
Eine Zeit, die zwar lange her ist, die aber doch bei manch einem der damals Betroffenen tiefe und bis zum heutigen Tage blutende Wunden auf der Seele hinterlassen hat.
Diese Geschichte beruht auf eine wahre Begebenheit.
Alle hier beschriebenen Namen wurden geändert.
Auf Transport
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