Der Nachtwanderer

Ein Reisebericht

Er schlägt die Bettdecke um wie die Seite einer Erzählung.
Der Schmerz hat an die Türen seines Körpers geklopft. Der Schmerz ist ein vielarmiges Wesen mit unzähligen Köpfen. Eine Hydra.
Ein ungebetener Gast, der – trotz des angewiderten Ausdrucks im Gesicht seines Gastgebers – Einlass verlangt.
Verweigert man ihm den Eintritt, dann klettert er eben einfach durch ein Kellerfenster in den Körper. Der Schmerz ist ein geübter Einbrecher.
Der Nachtwanderer liest in seinem Körper.
Schmerzzeit heißt dieses Kapitel.
Er horcht in die Nacht, die ihm von einem ratternden Zug erzählt.
Er schlüpft aus dem Bett.
Er schlüpft aus seinem Traumei.
Er springt aus dem Nachtkahn, weil er spürt: Jede Sekunde könnte mein Körper kentern.
Sein Körper wird bereits vom Schmerz geflutet.
Er wirft sich in die Nachtwanderschale. Er zieht sich an. Ein T-Shirt. Die Jogginghose.
Was ist?, fragt seine Frau.
Die Schmerzen, antwortet er knapp.
Die Schmerzen stehen ihm bereits bis zum Hals.
Rasch läuft er in die dunkle Wohnung hinein.
Er trägt den Schmerz durch die Wohnung. Er schüttelt sich. Verteilt den Schmerz im Körper.
Seine rechte Hand geht auf einen Streifzug durch die Literaturgeschichte: Die Finger klopfen einen raschen Schmerztakt auf die Rücken von Dostojewski und Thomas Mann. Die haben breite Rücken. Die halten das aus.
Seine Schmerzschritte durchmessen das Wohnzimmer. Er teilt es in kleine Schmerzquadrate.
Bald schon ist das Zimmer von einem unsichtbaren Koordinatennetz aus verschiedenen Schmerzzonen überzogen.
Wenn der Schmerz seinen Körper regiert, dann ist der Schmerz ihm alles.
Er horcht auf den Schmerz. Er summt gar keuchend die Nationalhymne des Schmerzes.
Der Schmerz ist die Quelle aller Bewegungen. Ohne den Schmerz wäre nichts.
Der Mensch ist ein Fluchttier. Der Mensch will sich vom Schmerz entfernen.
Aber dann müsste der Mensch sich selbst entfliehen können. Also läuft er und läuft er.
Nur entkommen kann er sich nicht.
Er wandert durch die Nacht seiner Schmerzen.
Manchmal hilft es ihm, wenn er etwas isst. Also durchstöbert er die Fächer nach Süßigkeiten, die ihn von den Schmerzen ablenken könnten.
Er findet eine Packung mit Schokoladenplätzchen. Krümelnd wie ein Krümelmonster hockt er am Rand eines Sofafelsens und füttert seine Schmerzen mit Süße.
Nichts zu machen. Der Schmerz ist nicht zu packen. Der Schmerz ist unbestechlich.
Und wieder läuft er auf den Pfaden des Schmerzes. Er läuft im Kreis, der ihm zu einer ewigen Strecke wird. Er steigt eine Serpentine hinauf. Er will auf den Berg, den er schließlich auch erreicht, einzig die Aussicht hätte er sich anders vorgestellt.
Sein Wandern führt ihn zum Schmerzhöhepunkt. Von dort kann er die Ausblicke nicht genießen, weil er einzig nur tief in seine Magentäler blickt, in seine Gedärme, die ihn mit bösartig verzerrten Fratzen anstarren.
Wer zu lange in sich hinein blickt, der erkennt irgendwann die Sumpfbezirke des Schmerzes, in denen er dereinst untergehen wird.
Ist er erst einmal entzündet, dann ist der Körper ein Höllenbrand.
Er wird sagen können: Aus Schmerz bin ich gemacht. Zum Schmerz werde ich zurück kehren.
Der Nachtwanderer kündet seinen Schmerz vom höchsten Punkt der Unerträglichkeit.
Sein Körper durchläuft die Stadien der Menschheitsgeschichte. Er friert, er findet Feuer, er zieht von Lager zu Lager, er wird sesshaft, er baut sich eine Hütte, später dann ein Haus. Des Nachtwanderers Haus ist aus Buchstaben gebaut. Er setzt sich an den Computer. Er späht in die Nacht des erloschenen Bildschirms. Er sieht sich. Denn diese Nächte spiegeln ihn.
Mit einem Knopfdruck lässt er Myriaden Sonnen am Bildschirmhimmel erscheinen.
Er taucht ab und schwimmt ins weltweite Datenmeer hinein.
Er lässt sich treiben. Er spielt den toten Mann. Nach wenigen Suchbegriffen, die seine Krankheit umschreiben könnten, taucht er im Nichts wieder auf.
Er hat sich bereits in einer Leichenhalle gefunden. Zahllose Einträge, die ihm einen bösartigen Darmkrebs diagnostizieren.
Er schüttelt den Doktor im Netz von seinen Schultern, während der Schmerz allmählich in das Polster des Schreibtischstuhles sickert.
Der Nachtwanderer zündet Lichter in seinem Dunkel, die den nicht vertreibbaren Schmerz ablenken sollen.
Also tunkt er den Schmerz in eine von ihm geschaffene Fantasieapparatur.
Der Schmerz muss transformiert werden. Er muss ihm zu einem Sprachwerk werden, zu einer Geschichte, die er sich und dem Schmerz erzählen kann.
Auf diese Art will er den Schmerz gegen sich selbst wenden. Er will den Schmerz benutzen. Er will die Positionen verschieben. Er will nicht länger Opfer sein.
Also setzt er sich an die Tastatur und schreibt sich die Geschichte seines Schmerzens aus dem Körper.
Leider ist der Schmerz übel gelaunt. Er will sich nicht in einen literarischen Sack packen lassen. Er will frei im Körper wüten können.
Der Nachtwanderer schreibt sich Schmerzpunkt für Schmerzpunkt in einen Roman hinein. Er weiß wohl, dass Romane mit einem ENDE neuen Romanen Platz machen müssen, aber er ist kein Traditionalist, er ist ein Anhänger der offenen Form, des modernen Romans, der sich in den Gedanken seiner Leser weiter spinnen muss, will er überhaupt nur ansatzweise funktionieren.
Die Zeiten für scheinbar abgeschlossene Geschichten sind lange vorbei.
Der Schmerz treibt ihn von Gedankenstein zu Gedankenstein. Er hinterlässt in dieser Nacht einen Geröllhaufen aus Fragmenten. Zwar kann man aus all den Steinen ein Haus bauen, aber das setzt auch die Arbeit des Lesers voraus.
Der Nachtwanderer schüttelt den Kopf. Ihm sind schon lange keine solchen Leser mehr begegnet.
Also löscht er das Geschriebene.
Er geht wieder auf Wanderung.
Ruhelos treibt er durch die Zimmer. Sein Heckmotor aus Schmerzen funktioniert.
Der Motor schnurrt wie eine Katze.
Bald schon wird er sich an das Haustier gewöhnt haben. Er wird akzeptieren müssen: Ich bin nicht länger alleine Herr in meinem Körperhochhaus.
Denn im Hause des Herrn gibt es viele Wohnungen.
Eine Wohnung gehört der Fantasie. Eine Wohnung dem Begehren. Eine Wohnung soll der Angst die Angst vor dem sozialen Abseits nehmen.
Hausmeister aber ist und bleibt der Schmerz.
In seinem grauen Kittel stürmt er durch die Keller. Er schlägt mit einem Hammer gegen die Darmwände.
Der Schmerz tönt mit seiner lauten Stimme durch den Körper. Er sammelt achtlos entsorgte Gedanken. Er bringt sie zurück. Bilder aus de Kindheit, die sich bereits mit einem weinenden und einem lachenden Auge verabschiedet hatten.
Der Nachtwanderer ist ein Sammler.
Der Schmerz ist sein Jäger.
Der Nachtwanderer malt sich eine Bettenflucht im Kopf.
Geht es etwas besser?, fragt seine Frau.
Er schlägt die Decke wie eine Schaufel voller Erde über seinen Körper.
Etwas, murmelt er und schließt die Augen, die Tore zu seiner Welt.
Er versinkt in sich.
Er treibt auf den Wellen des allmählich abebbenden Schmerzes.
Der Nachtwanderer blickt zum Himmel hinauf. Keine Wolken. Strahlend blauer Himmel.
Er klettert in sein Traumei zurück.
Am Morgen wird er die Schalen von sich werfen.
Er wird sich vor die Tastatur setzen und von seinen nächtlichen Wanderungen erzählen.
Er wird vom Schmerz erzählen, diesem bösartigen Tier, das in ihm lauert.
Jetzt schläft das Tier.
Er kann den ruhigen Atem des Tieres hören.
Das Tier ist erschöpft.
Der Nachtwanderer, dieser Tagträumer, schreibt das Tier aus seinem Körper heraus.
Die Literatur vermag viel, aber den Schmerz kann sie nicht in Acht und Bann schlagen.
Der Schmerz wird seine Geschichte schreiben.
Der Schmerz wartet auf die Nacht, um den Wanderer darin zu versenken.



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