THE JAZZ SINGER
(Dt.: Der Jazzsänger)
USA 1927
Darsteller: Al Jolson, May McAvoy, Warner Oland, Eugenie Besserer, Otto Lederer, Jossele Rosenblatt,
Regie: Alan Crosland
Dauer: 90 min
The Jazz Singer – das war doch der erste Tonfilm! Was hat der denn hier zu suchen?
Genauso hätte ich bis vor kurzem reagiert, wäre dieser Titel auf einer Stummfilmseite aufgetaucht. Stets wird er als der erste Tonfilm bezeichnet. Dass es sich dabei im Grunde um einen Stummfilm mit einigen Gesangseinlagen und wenigen gesprochenen Sätzen handelt, erkannte ich erst kürzlich, als ich mir die DVD anschaute. Der Film dauert 90 Minuten – davon sind ca. 15 bis 20 Minuten mit Ton (Gesang und Dialog) versehen. Der Rest trägt sämtliche Kennzeichen eines Stummfilms: Zwischentitel, Begleitmusik, pathetische Mimik und Gestik.
Ist das also tatsächlich der erste Tonfilm? Ich erkannte beim Ansehen, dass dieses Prädikat äusserst heikel ist. Denn Versuche, einen Film mit Gesang und gesprochenem Text zu versehen gab es schon lange vor dem Jazz Singer, der erste wurde bereits im Jahre 1893 gemacht. Folgendes Beispiel zeigt eine Gesangszene (Stimme von Enrico Caruso) aus einen deutschen Film aus dem Jahre 1908 (zu finden auf der DVD Discovering Cinema von Flicker Alley).
Genau wie im Jazz Singer wurde hier der Ton bei der Vorführung mittels Schallplatte synchron zum Film abgespielt. Der Unterschied zum Jazz Singer besteht darin, dass auf eine bereits existierende Schallplattenaufnahme zurückgegriffen wurde, die bei der Filmaufnahme im Hintergrund abgespielt wurde. Der Schauspieler passte seine Lippen- und Körperbewegungen der Caruso-Aufnahme an.
Beim Jazz Singer wurde der Gesang live und zeitgleich mit der Filmaufnahme aufgezeichnet und dann auf Schallplatte gebannt.
Aber auch dieses Verfahren war nicht neu. Warner Bros. hatte bereits im Jahr zuvor erste Versuche mit dem Tonsystem Vitaphone, einer Kombination von Film und Schallplatte, gemacht, u.a. im kürzlich an dieser Stelle besprochenen Film The First Auto.
So war es nicht primär der Ton, der The Jazz Singer so berühmt machte, sondern eine Verkettung verschiedener Umstände. Der riesige, ungeahnte Erfolg, den der Streifen beim damaligen Publikum erzielte, und der die Firma Warner gerade noch vor dem drohenden Ruin rettete, war eher den Umständen zu verdanken, dass die Story des Films den Zeitgeist traf und dass mit Al Jolson ein damaliger Broadway-Mega-Star für die Hauptrolle verpflichtet wurde. (tatsächlich rettete der Erfolg die Firma Warner vor dem drohenden Ruin). Dies und die Tatsache, dass die fortgeschrittene Technik inzwischen weitere Tonexperimente erlaubte, führte dazu, dass der Wunsch des Publikums nach Filmen mit Ton im Gegensatz zu früheren Jahren, schneller erfüllt werden konnte, und weil er erfüllt werden konnte, wurde er immer fordernder gestellt. Und jetzt, genau an diesem Punkt der Filmgeschichte erlaubte die Technik der Filmindustrie, auf den aufkommenden “Hype” aufzuspringen, bevor er wieder abklang, wie das früher stets der Fall gewesen war. Der Siegeszug des Tonfilms war somit nicht mehr aufzuhalten.
Wenn The Jazz Singer schon nicht der erste Tonfilm war, so war er immerhin der endgültige Auslöser des Voranschreitens des Tonfilms. Je nach Sichtweise könnte man ihn auch den Totengräber des Stummfilms nennen.
Dabei ist der Film nicht mal besonders gut. Die Handlung ist schwülstig, absehbar, die Behandlung des darin enthaltenen Konflikts oberflächlich; der Hauptdarsteller ist aus heutiger Sicht schwer erträglich, die Jazz-Darbietungen durchschnittlich. Damals aber schlug der Film über den abtrünnigen Sohn eines jüdischen Kantors ein wie eine Bombe. Jolson war längst und schon seit Jahren ein grosser Name am Broadway. In zahlreichen Bühnenshows riss er das damalige Publikum zu Begeisterungsstürmen hin. Nun war er auch im Film zu bewundern und sogar zu hören, zudem in einem, der autobiografische Parallelen zur Vita des Stars aufwies. Und weil Jolson beim Dreh improvisierte, fanden unvorergesehenerweise auch einige Dialogstellen Eingang in den Film, in dem eigentlich nur Musik hätte erklingen sollen. Gerade diese paar Sätze sollen die Leute fast von den Sitzen gerissen haben, mehr noch als die Musiksequenzen.
Jolson spielt Jacob Rabinowitz, den jazzbegeisterten Sohn des strenggläubigen Kantors Rabinowitz (hinter einem dicken Bart kaum zu erkennen: Charlie-Chan-Darsteller Warner Oland). Er, der dereinst in des Vaters Fussstapfen treten soll, ist gänzlich dem Jazz verfallen: Schon als Dreikäsehoch tritt er singenderweise in Cafés und Restaurants auf, was dem Vater derart missfällt, dass er ihn verstösst.
Hier finden sich deutliche, aber offenbar zufällige Parallelen zum Leben des in Litauen geborenen jüdischen Kantorensohnes Al Jolsons (eigentlich Asa Yoelson), der in jungen Jahren ebenfalls auf sich allein gestellt war (allerdings wegen des frühen Tods der Mutter).
Zur Mutter, die er regelrecht vergöttert, hat der verstossene Jacob Rabinowitz weiterhin Kontakt. Sie ist es denn auch, die ihm erklärt, dass es dem inzwischen an gebrochenem Herzen erkrankten Vater besser gehen würde, wenn er für ihn an Jom Kippur in der Synagoge das Kol Nidre singen würde. Doch Jacob, der sich inzwischen Jack Robin nennt und unaufhaltsam zum Broadway-Star avanciert, zögert. Seine Karriere ist ihm wichtiger. Vorerst jedenfalls…
Wie bereits in The First Auto, einer weiteren Warner-Produktion, die zwei Monate vor dem Jazz Singer Premiere hatte, wird auch hier der Grundkonflikt zwischen Tradition und Moderne in ein Vater-Sohn-Drama verpackt. Hier entbrennt der Konflikt auf dem Gebiet der Musik. Er wird, wie bereits erwähnt, an der äussersten Oberfläche abgehandelt.
Bemerkenswert bleibt aber, dass er nicht als billiger Vorwand dafür dient, einfach einige populäre Jazz-Nummern auf die Leinwand zu bringen. Der “Gegenseite”, den rituellen geistlichen Gesängen der jüdischen Gemeinschaft wird fast ebensoviel Ton-Filmzeit eingeräumt! So kommt auch der damals bekannte jüdische Kantor Jossele Rosenblatt zu einem eindrucksvollen Gesangsauftritt und das Kol Nidre erklingt gleich zwei Mal, am Anfang und am Ende des Films. Den Platz, den es im Film einnimmt und seine Verdopplung weist auf die eigentliche Thematik des Films hin: Versöhnung.
Ich habe die starke Vermutung, dass jemand, der mit dem jüdischen Glauben vertraut ist, in diesem Film mehr sehen und entdecken wird, als ich dies zu tun imstande bin. Mir erscheint er oberflächlich, schwülstig. Ich könnte mir aber denken, dass meine Sichtweise – die Sichtweise der christlich geprägten Europäer – diesem Film nicht wirklich gerecht wird.
Natürlich kann man den Tradition-Moderne-Konflikt im Film – rückwirkend – auf die Meta-Ebene ausweiten: The Jazz Singer ist der Film am Scheideweg zwischen Stumm- und Tonfilm. Doch während der Produktion konnte niemand ahnen, dass er entscheidend zur Beendung des Konflikts beitragen und die Moderne im Kino einläuten würde.
Zum Schluss bleibt anzumerken, dass für die stummen Sequenzen des Films eine Musikbegleitung komponiert und ebenfalls im Vitaphone-Verfahren aufgenommen und während der Filmvorführungen damals abgespielt wurde. Diese von Louis Silvers und James V. Monaco komponierte, sehr stimmige und stimmungsvolle Begeleitung ist auch auf dieser DVD zu hören.
Die DVD-Ausgabe: Der Film ist im deutschsprachigen Raum als Doppel-DVD erhältlich. Er wurde in Bild und Ton sehr schön restauriert. Die Bildqualtät ist hervorragend.
Die Musikbegleitung stammt von Louis Silvers und James V. Monaco und wurde 1927 für den Film komponiert. Ein sehr überzeugender Soundtrack, wie ich finde!
Regionalcode 2
Extras: Eine sehr gute, 90-minütige Dokumentation über das Aufkommen des Tonfilms, sowie ausgewählte Vitaphone-Kurzfilme.
Bestellung: Der Film ist bei amazon bestellbar. In der Schweiz ist sie am günstigsten hier erhältlich.
Für Preisvergleiche, evtl. preisgünstigere Angebote siehe auch die Tipps zur DVD-Bestellung im Ausland.
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