Der Durchbruch

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In den Tiefen eines jeden Menschen schlummert Ungeahntes, teilweise Ungeheuerliches, das plötzlich – hervorgerufen durch einen äusseren Umstand oder durch ein lange andauerndes und oft schmerzliches, aber unbewusstes Sehnen der Seele – an die Oberfläche des Bewusstseins durchbrechen kann. Was der einzelne Mensch mit dieser Macht anfängt, ist ganz unterschiedlich und nicht zuletzt eine Frage seines Charakters und seines Schicksals. Der eine drängt sie mit aller Gewalt wieder zurück in den riesigen Kosmos des Unbewussten, damit sie ihn und seine Umgebung nicht beunruhige. Der andere heisst das Neue willkommen und erfährt dadurch eine tiefgreifende Verwandlung, ja, oft genug geradezu eine Art Umstülpung.

Ein solcher Mensch war Sascha, von Beruf Dekorateur in einer grossen Warenhauskette und 33 Jahre alt. Zwar empfand Sascha seinen Beruf nicht als besonders sinnvoll – wie könnte man auch eine Tätigkeit sinnvoll finden, bei der Waren, die der Käufer meist in keiner Weise benötigt, nach ästhetischen Gesichtspunkten so angeordnet und dekoriert werden, dass der Kunde sie trotzdem kauft? Dennoch war Sascha leidlich zufrieden mit sich und der Welt. Er hatte mehr als zehn Jahre auf seinem Beruf und in demselben Warenhaus gearbeitet und war lediger Vater einer Tochter, die allerdings bei der Mutter wohnte, von der Sascha sich vor zwei Jahren getrennt hatte. Er hatte ein ansehnliches Einkommen, so dass er sich, selbst nach Abzug der Unterhaltszahlungen für seine Tochter, manche Annehmlichkeiten wie ein sportliches Auto, eine grosszügige Wohnung und so weiter leisten konnte. Zudem war er als Nachfolger für den Chefdekorateur vorgesehen, wenn dieser in drei Jahren in Pension gehen würde.

Alles war in geregelten Bahnen und hatte seine Ordnung, als Sascha an einem Freitag Morgen den Auftrag erhielt, ein Schaufenster zum Thema Hochzeit zu gestalten. Dieses Hochzeits-Schaufenster sollte ganz in Weiss gehalten sein: bleiche Schaufensterpuppe, weiblich, in üppigem, weissem Hochzeitskleid, auf einem weissen Stuhl sitzend, daneben weisser runder Tisch mit künstlichen weissen Rosen in weisser Vase und so weiter. Sascha war eben damit beschäftigt, das Kleid an der Puppe zurechtzurücken, als er sich an der Kante einer Schleife einen Schnitt an einem Finger zuzog. Der Schnitt war so tief, dass sogleich kräftig Blut aus der Wunde hervorquoll. Ohne dass er es gemerkt hatte, waren ein paar Tropfen auf das Brustteil des Kleides gefallen und bildeten dort einen wohltuenden Kontrapunkt zum ganzen Rest des Schaufensters, sinnigerweise auf der linken Seite, der Herzseite der Braut.

Genau dies war der Augenblick, in dem bei Sascha, veranlasst durch eine Nebensächlichkeit, das Ungeahnte hervorbrach und nie mehr aus seinem Leben weichen sollte. Zunächst stieg Ärger auf über sein Missgeschick. Bis zum Abend konnte er nun unmöglich fertig werden mit dem Schaufenster. Er stellte sich vor, wie er in der Damenabteilung nach einem zweiten Hochzeitskleid fragen und sich erklären musste. Der Abteilungsleiter würde die Hände verwerfen und ihm bestimmt den Verlust vorrechnen, der durch sein Missgeschick entstanden ist.

Plötzlich sah er sich selbst ganz klein und weit unten im Schaufenster stehen, sah, wie er unentschlossen vor der Schaufensterpuppe stand, und er wurde sich der Lächerlichkeit, der Kleinheit seines Tuns bewusst. Es kamen ihm all die Menschen in den Sinn, die tagtäglich vor wirklichen Problemen, vor existenziellen Abgründen standen, und er begann sie zu beneiden, wurde sich aber gleichzeitig bewusst, wie dumm dieser Neid war. Unterschiedlichste Gefühle und Vorstellungen begannen sich wie in einem saugenden Wirbel immer schneller zu drehen, von dem er bestimmt mitgerissen worden wäre, wenn nicht plötzlich tief aus seinem Innern eine Entschlossenheit, verbunden mit einer unumstösslichen Gelassenheit, aufgestiegen wäre und den Strudel angehalten hätte. All das war in wenigen Augenblicken geschehen. Und nun wusste er, was zu tun sei.

Anstatt sich darum zu bemühen, den Schaden zu begrenzen – eben indem er sich ein neues, präsentierbares Hochzeitskleid besorgte und das alte in die Reinigung gab sowie seine Arbeit wie vorgesehen zu aller Zufriedenheit beendete –, ging er, von einem merkwürdigen Tatendrang getrieben, aber in Vollbesitz seiner Urteilsfähigkeit, ins Lager, besorgte sich rote Farbe – möglichst dunkel, blutrot sollte sie sein – und ein paar Pinsel. Wie in einem Fieber begann er alsbald, die Einöde in Weiss gezielt mit roten Pinselstrichen zu beleben. Zunächst hielt er sich trotz des inneren Drängens zurück, versah die weissen Rosen mit einem feinen Geäder, setzte hier einen Akzent, dort einen roten Tupfer. Doch bald nahm er den breiteren Pinsel und erging sich geradezu in einer Orgie in Rot, getrieben von einem beinahe wütenden Gestaltungswillen, der in all den Jahren des Gefangenseins im engen Rahmen der seichten Warenhausästhetik zu kurz gekommen war und sich nun den Weg in die Freiheit bahnte. In ihm erwachte ein Künstler, weitaus grösser und leidenschaftlicher als der Dekorateur, der er war.

Als Sascha bemerkte, dass sich vor dem Schaufenster eine Schar Schaulustiger versammelt hatte, die einen entsetzt, die andern belustigt, dritte einfach nur neugierig, begann er kurzerhand, die Schaufensterscheibe von innen her mit roter Farbe zuzupinseln. Zuschauer konnte er bei diesem Befreiungsakt nicht gebrauchen. Und um einen solchen handelte es sich – nicht um eine kundenorientierte Performance zur Verkaufsförderung.

Nach kurzer Zeit tauchte der Chefdekorateur auf, entsetzt und bleich im Gesicht, und forderte ihn zuerst höflich, dann aber streng auf, mit ihm zu kommen. Sascha war klar, dass das seine letzte Tätigkeit in diesem Warenhaus gewesen war, ja sein letzter Tag als Dekorateur überhaupt. «Ja, Chef, ich komme gleich», sagte er mit ruhiger Stimme und einem freundlichen Lächeln im Gesicht.


Bild: Rising Sun von Sara, CC-Lizenz via flickr


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