Stadtwanderer: Stadteinsamkeit beim Rheinhafen

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Manche Wanderer lieben das Alleinsein. Was gibt es Schöneres, als in der Bergeinsamkeit unterwegs zu sein und seinen Gedanken nachzuhängen, die bald ebenso weit werden wie der Horizont mit all seinen Schneegipfeln? Oder in der Waldeinsamkeit: Man trällert ein Lied aus tiefstem Herzen – aber mit falscher Stimme. Kein Problem, denn niemand hört zu!

Wenn ich als Stadtwanderer das Alleinsein, die städtische Einsamkeit suche, so lenke ich meine Schritte hin zum Kleinhüninger Rheinhafen. Sobald ich von der Stadt her kommend die <Wiese> hinter mir lasse – gemeint ist das Flüsschen, das unweit von dort in den Rhein mündet –, so ist es, als träte ich in eine andere Welt: Eine weite Hafenlandschaft träumt vor sich hin und vibriert selbst an Werktagen vor Stille – na ja, vom Strassenverkehr mal abgesehen. Wie ein Rieseninsekt beugt sich der Hafenkran über ein Rheinschiff und schiebt träge seinen Rüssel ins Innere des Frachtraums. Mächtig ragen Lager- und Silogebäude in den grauen Himmel. Rundum frühindustrielle Ästhetik, wie man sie von englischen Industriegebieten her kennt: protzig und irgendwie düster.

Mich zieht es in den hinteren, verschwiegenen Teil des Hafens am Ostquai. Ein Bahngleis weist mir den Weg. Es riecht nach abgestandener Siloluft. Die Stille hat sich hier längst eingenistet. Nichts, aber auch gar nichts weist auf Geschäftigkeit hin. Nur die Sprayereien an den windschiefen Holztoren sind neueren Datums: der Einbruch einer aufmüpfigen Lebendigkeit in diese vergessene Welt. Ansonsten dicker Staub auf den Abfüllstutzen und Metallstreben. Neben dem Gleis liegt eine tote Taube. Die Stadteinsamkeit ist nun perfekt. Genüsslich lasse ich meine Melancholie, meinen Weltschmerz ins Kraut schiessen und schlendere weiter den blassen Mauern entlang.

Keine Frage, in absehbarer Zeit wird diese zweifelhafte Romantik verschwunden sein, vertrieben durch das postmoderne Effizienzstreben. Weltschmerz und Sehnsucht werden in Kisten gesperrt und in eine andere Welt ausgelagert sein. Keine toten Tauben mehr. Keine Stadteinsamkeit. Stattdessen Container aus aller Welt, computergestützt hier zwischengelagert. Ich werde mir andere stille Orte suchen müssen.


Der «Stadtwanderer» erscheint monatlich als Kolumne in der «ProgrammZeitung».

Bild: Rheinhafen Basel von Thomas Schaller, CC-Lizenz via flickr


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