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Donnerstag, 7 Uhr morgens. Grau verhangen, diesig. Es sollte von Huaraz nach Lima gehen. Zugegeben, ich hatte ein mulmiges Gefühl: Distanz, Berge, wieder einmal Wüste … und dann Lima, Großstadt. Ein kränkelnder Gigant aus fast 8 Millionen Fahrschülern. Der Verkehr – ein gordischer Knoten der Zumutungen. Die Erzählung anderer haben mich mehr beeinflusst, als sie es sonst tun.
Als ich auf meine Kawasaki stieg, regnete es. Das Profil meiner Hinterreifen hatte die Tiefe der privaten Rundfunkanstalten. Die Hinterbremse war so praktisch wie eine Schönheitskönigin: Sie waren da, man konnte sie anfassen, aber sie waren nutzlos: Ein Millimeter Stärke noch. Glücklicherweise klärte es bald auf, und ich fuhr durch eine atemberaubend schöne Landschaft zwischen der Cordillera Blanca und der Cordillera Negra an der Lagune Conochoca vorbei, 4000 Höhenmeter bis an den Pazifik hinunter durch die Tierra del Sol.
Kurz vor Pativilca, an einer Mautstation, wurde ich angehalten. Verwunderung, denn Biker zahlen nicht. Ein Polizeibeamter trat an mich. Begrüßung, Händeschütteln. Wie es mir geht? ›Gut, aber ich bin müde. Die Hitze.‹ Warum ich nicht abgebremst habe? Ich wäre zu schnell gefahren, es wäre nur Tempo 35 erlaubt. Tempo 35? Da werde ich doch von jedem LKW überrollt! Tempo 35? In der Wüste Perus? Aarons Worte kamen mir in den Sinn: ›play the dumb!‹:
›Ach, Señor, na klar, wissen sie, ich bin müde, erhitzt, die Sonne, die Sonne, heiß ist es! Ich bin seit 8 Uhr heute am fahren, ich komme von den Bergen. Huaraz – kennen sie die Stadt?‹
›Huaraz, aber sicher! Die Berge. Sehr berühmt. Was haben sie da gemacht?‹
›Bitte? Nicht so schnell bitte.‹
›Sprechen sie kein Spanisch?‹
›Nein, naja, ich versuche. Lerne hier. In Peru. Schöne Menschen.‹
›Huaraz! Die Berge! Was hast Du da gemacht?‹
›Wandern. Schön das war … nur das Klima … ich war schlecht. Eine Monat‹
›Einen Monat?‹
›Monat! Monat? Nein … ähm … ach mein Spanisch … eine Woche, ich meine!‹
›hehehe … Krank? Schlechtes Essen? Oder war’s das Wasser?‹
›Ich weiß nein. Wasser? Vielleicht die Höhe, Señor.‹
›Wo kommst du eigentlich her?‹
›Deutschland. Kennen sie? Aus Berlin. Hauptstadt! Wir haben kein Berge in Deutschland.‹
›Jaja, Deutschland. Deutschland, ist weit weg … Hitler! Hahaha … ‹
›Ja der Hitler, war aber aus Österreich … Ach! Señor, ich habe Hunger.‹
›Ja, heiß ist es … aber Mister, ein Ticket! Strafe! Sie sind zu schnell gefahren.‹
›Ja, die Sonne ist heiß. Ich weiß. Wie weit ist es noch nach Lima. Ungefähr?‹
›Vier Stunden. Also, das kostet. Das Ticket.‹
›Geld? Ja! Geld, die Maschine hat vieles gekostet. Von Freund aus Amerika.‹
Der Beamte schrieb mit Kugelschreiber eine 35 auf seine Hand, daneben die Ziffer 60. Ostentativ hielt er mir diese Hand vor:
›Ticket. Sie sind zu schnell gefahren.‹
›Ja, Señor, ich weiß, die Sonne … mein Kopf. 65°? Ist warm. Sehr sehr warm … wie? Nein! Ich verstehe nicht. Señor, sie sind schnell, ich lerne hier mein Spanische Sprache.‹
›Sie sind zu schnell gefahren. Das kostet! Also …‹
›Señor. Ich weiß nein. Schwierig sein. Das Tempo in der Sonne.‹
›Verfluchte Scheiße!‹
Der Beamte deutete eine Umkehrbewegung an, so wie wenn man das macht, um Verärgerung auszudrücken. Seine Augen hefteten sich an meine. Sein Zeigefinger rieb am Daumen – jene Bewegung, die Geld symbolisiert. Ich lachte.
›Money! Moneda! Money! Money! Dollares‹
›Ja, Señor, die Maschine. Werden sie verkaufen. In Ushuaia. Tierra del Fuego.‹
›Ja. Ja. Für wieviel? … Dollars oder Soles?
Er staunte, als ich ihm die Summe nannte. Ich begriff, dass er zu diesem Zeitpunkt aufgegeben hat. Er gab mir die Hand, wollte sich verabschieden … doch: ›Mister, kann ich mal ihren Helm aufsetzen?‹ Diese Frage irritierte mich. Wollte er nur ausprobieren oder ihn mir wegnehmen? ›Ja … aber wissen sie … mein Kopf ist klein als ihr Kopf. Der Helm ist zu klein für sie. Wissen sie!‹ Lachen. Höhnisches Lachen, eins, das Überlegenheit signalisiert. Dann machte er eine Geste, die ich schon öfters beobachtete, bei Leuten seines ›Ranges‹: Zeigefinger und Daumen der linken Hand bildeten einen Kreis. Mit dem Zeigefinger der Rechten steiß er in den Kreis hinein und wieder heraus. In betonter Langsamkeit. Ich lachte. Meine Augen taten es nicht. Ich heuchelte: ›hahaha … nein Señor, ich mache das nein.‹ Er lachte mit, und wiederholte die Bewegung. Wie sie mir gefallen?
›Señor, ich mag die Frauen in Peru. Sie sind wunderschön. Herzlich. Jaja! Bitte? Ich verstehe nicht!‹
›Hast du keine Lust? Magst du sie nicht?‹
›Doch, doch. Doch, Señor. Ich habe einen Frau aber. In Deutschland. Sie warte. Kinder? Nein. Señor, ich bin ein Katholik! Ich mache das nicht.‹
Abermals machte er eine Umkehrbewegung, diesmal endgültig. Er gab mir high five. Ich wünschte ihm einen Guten Tag. Dann fuhr ich weiter.
Keine halbe Stunde später wurde ich auf der Panamericana Norte von einer Polizeistreife eingeholt. Und abgebremst. Ich soll wiedereinmal zu schnell gewesen sein. An Kreuzungen sind 60 erlaubt. Das Radar hat 97 km/h gezeigt. Für mich ist diese Regel – in dieser Region, in der Wüste – beinahe so absurd wie die Anfangsszene an der Kreuzung des wundervollen Films Schulze get’s the blues. Die beiden Hüter des Humanismus stellten mir ein Strafzettel aus. 432 Soles. In Gedanken verkaufte ich gerade mein Bike. Das Ticket war unterschrieben, als mich beide nochmal ans Auto zitierten: ›Hundert Soles!‹ Ihre Visagen wurden milder. Ich ging an meinen Koffer, tat als würde ich im Portmonee kramen. Ging zurück zum Auto. Der Bebrillte legte seinen Kugelschreiber weg. Kreuzworträtsel. ›Señores, ich habe 60, nur.‹ Der Bebrillte nickte. Sein wulstiger behaarter Finger tippte auf einen Fußballspieler. Grünes Trikot, weißes W. Er lächelte, blätterte um: Junge Gehirnamputationen in Bikinis. Dann durfte ich weiter. Ohne Ticket.
Wenige Kilometer vor Lima wurde ich von einer bizarren Umgebung abgelenkt: Inmitten der Dünen standen hunderte von leerstehenden – teils schiefen und beschmierten – Bretterbuden. Aus einigen waren Fenster und Türen rausgebrochen. Einen Boden hatten die wenigsten. Wie hingewürfelt. Erst in Lima sollte ich erfahren, dass es sich bei diesen verlassenen Siedlungen, um so genannte pueblos jóvenes, junge Städte handelt. Illegale Städte. Migrantensiedlungen. Die man vermutlich ›geräumt‹ hat.
Tja, und Lima selbst? Sollte die Begutachtungsstelle für Fahreignung jemals Geldsorgen haben – sie sollte ihren Standort nach hierher verlegen …