Dein magischer Moment am Katarakt

Das Dröhnen der Myriaden von Wassertropfen, die aufeinander schlagen, die in die schäumende Wasserfläche eindringen oder auf Felsen prallen – das Dröhnen des Wasserfalls erfüllt die vibrierende Luft. Wenn man genau hinhört, merkt man, dass das gewaltige Geräusch nicht gleichförmig ist – nein es hat feine Nuancen. Man hört die Sprache des Katarakts, der Raum ist zart durchsetzt von der feinen Stimme im machtvollen und ohrenberauschenden Klang des Wassers.

Du lehnst dich vor, dicht am glitzernden Wasser. Die Luft wird umhergewirbelt und die Haare auf deinen Armen stellen sich auf. Der kühle Nebel bleibt darin hängen.

Du atmest tief ein und spürst diese Feuchtigkeit in deinem Brustkorb, in deiner Lunge. Und du hörst ganz genau hin. Du horchst auf die Stimme im Donner.

Zeitlupe. Du denkst an Zeitlupe. Du stehst da und blickst in das Wunder der Masse und die Zeit steht still und der Fall gefriert und der weite Raum ist erfüllt mit Klang und der Klang verbindet sich mit dem vibrieren der Luft. Und diese verschluckt das, was wir bis vor kurzem noch Zeit genannt haben. Du hörst hin, und hörst wieder hin und wieder und wieder und alles was bleibt ist seine Stimme, meine Stimme – die Stimme des Falls. Zeitlupe, alles ist so unwirklich langsam.

Zeitraffer. Aber das stimmt nicht. Statt Zeitlupe gilt hier Zeitraffer. Die Zeit aus hunderttausend Jahren wird zusammengerafft auf eine Sekunde. Eine Sekunde Rauschen und vibrieren. Eine Sekunde hinhören und eine Sekunde erblicken, erkennen, erfassen und verstehen.

Du zitterst in dieser einen Sekunde, denn die Sekunde lastet so schwer, wird endlos, wird riesengross.

Diese eine Sekunde ist erfüllt von all der Geschichte des Flusses, von der Geschichte des Dschungels, von der Geschichte der Menschen, die dort oben an der Quelle Leben oder weit unten an der Mündung. Und hier wird sie zusammengerafft, diese Zeit wird verdichtet wie das All vor dem Urknall – eine gefrorene Sekunde.

Zeitraffer oder Zeitlupe – beides ist dasselbe. Die dünne Wand zwischen dem Alltag, dem Frühstückmachen, dem Strassenbahnticketlösen, dem Schuhbänderbinden einerseits … und dem Unaussprechlichen, Gewaltigen, Fremden andererseits … diese dünne Wand wird transparent. Durch die Feuchtigkeit vielleicht. Durch die Vibration der Luft, durch die Spannung. Jetzt gleich passiert irgendwas, jetzt gleich. Aber es passiert nichts. Es zerreisst einfach ganz still und unauffällig die Wand.

Die Sekunde, des Jetzt zieht sich zusammen, wie im Schreck über das grosse Zerreissen, die Sekunde schaut verdutzt um sich, versucht vielleicht etwas zu sagen, aber sie sagt nichts. Sie wurde zu einem Augenblick, zu einem Moment, zu dem zeitlosen Moment, an dem die Vergangenheit hinüberfliesst in die Zukunft.

Du ballst deine Hände zu Fäusten, spürst die Fingernägel in der Handfläche, spürst deine Socken, die schon ganz nass sind, das Herz pocht im Hals, das Licht im Wasser blendet, die Ohren hören nichts als Donner, der Duft des Wassers lähmt die Nase und du merkst, dass du an einem ganz grossen Punkt stehst:

Der Punkt, der Ort, der Moment, an dem die Vergangenheit hinüberfliesst in die Zukunft. Ein Schaudern gehrt dir über den Rücken. Ich bin an diesem berühmten Ort! Der Ort wo die Vergangenheit an die Zukunft stösst!

Dieser Ort ist der Ort des Geschehens. Und du hast Sorgen von hier wegzugehen. Denn kaum bist du wieder jenseits der Wand, besteht das Leben nur noch aus Erinnerung und Plänen, aus Geschichte und Futurum, und der grossartige Moment ist verloren. Der Moment, der eigentlich der einzige ist, den wir haben: der Moment nämlich an dem aus Zukunft Vergangenheit wird!

Den Fluss stört das alles denkbar wenig. Er fliesst noch immer durch die Trias Wälder aus Schachtelhalm, Dinosaurier trinken noch immer mit langen Zügen an seinen Ufern, Tierarten kommen und gehen, tausend Dramas ereignen sich, die Anakonda frisst den Alligator, die Piranhas das Tapir. Affen wohnen auf Inseln und die Inseln werden zerstört, Krankheiten raffen Lebewesen dahin und irgendwann tauchen Menschen auf, leben in Hütten, Lieben sich und die Kinder spielen am Fluss wo Feinde kommen und sie erschlagen. Die Flussschwalben brüten in ihren Nestern und Glück und Unglück halten sich die Waage und was des einen Glück ist, ist halt des Andern Unglück. Die Verschwendung des Kosmos geht seinen Gang und alles gefriert wieder auf eine Sekunde, und diese Sekunde wird zum Moment, zum Ort und zum Klang.

Der Punkt, an dem die Vergangenheit auf die Zukunft prallt, an dem aus der Zukunft Vergangenheit wird, der Augenblick in dem Wünsche, Hoffnungen, Pläne und Träume zu guten und schlechten Erinnerungen werden.


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