David Lynch, EMILY SCREAM #1, 2008, 80 X 80cm, digital print Courtesy: Galerie Karl Pfefferle
Am Nachmittag meines Ausstellungsbesuchs veranstaltet das Mönchhaus-Museum in Goslar einen Vortrag über die TV-Serie Twin Peaks von David Lynch und Mark Frost aus den 90er Jahren mit dem, für Fans aussagekräftigen Titel “Verdammt guter Kaffee”.
- Fortsetzung von Teil 1
- Der Satz geht auf die neurotische Angewohnheit der Hauptfigur Agent Cooper zurück, der seinen täglichen Konsum des Getränkes immer wieder Running-Gag-artig kommentiert. Vor der Ausstrahlung des Pilotfilms hält Alexander Kohlmann, Filmwissenschaftler an der Universität in Hamburg, einen Vortrag über die Serie und erzeugt trotz aller Wissenschaftlichkeit eine konsensuale Zufriedenheit unter den Anwesenden. Schließlich handelt es sich ja “nur” um eine Serie und nicht um das “wahre” Leben. Dass Filme jedoch gerade dazu imstande sind, das Verborgene der Realität sichtbar zu machen, wie der Filmtheoretiker Siegfried Kracauer schreibt, sollte man als Zuschauer nie vergessen.
Währenddessen denke ich, wie Goslar mit seinem kleinstädtisch-hermetischen Charakter und den großen Wäldern den perfekten Ort für eine Auseinandersetzung mit der Serie darstellt, die auch rein narrationstechnisch einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltung nachfolgender Serien wie Akte X oder 24 ausübte. Der Plot: Nach einem Mord der High-School Schülerin Laura Palmer, gerät, infolge der Ermittlungen durch den just einberufenen FBI-Agenten Agent Cooper, die heile Welt der dicht verzweigten Sozialstruktur von Twin Peaks aus den Fugen: Ausgedehnt auf 29 Episoden und zwei Staffeln wird der Zuschauer immer mehr in den Sog der unzähligen Neurosen, Zwänge, Absurditäten und sexuellen Perversionen der Bewohner gezogen. Die Faszination, die von den Protagonisten ausgeht, wird dabei auf nicht unbedeutende Weise von ihrer starken Projektionsflächenhaftigkeit genährt.
Denn durch die detailreichen und dennoch universal erscheinenden Figuren hat jeder Zuschauer sein potentiell gespiegeltes Pendant, in dem man sich wiederfinden kann. Sei es die überzeichnete Kaffee-und-Kuchen-Leidenschaft und zwanghafte Pedanterie von Agent Cooper, das Machtstreben des Vorzeigekapitalisten und Hotelbesitzer Ben Horne oder das rebellische Auftreten von Bobby. Die verschiedenen Figuren mit all ihren Positivitäten und seelischen Abgründen scheinen wie ein Konzentrat aus der gesamten Menschheit. Lynch arbeitet vor allem mit dem Schatten-Konzept des berühmten Psychoanalytikers Carl Jung, wonach jeder Mensch negative und sozial unterwünschte Züge in sich trägt, die als Schatten bezeichnet werden.
- David Lynch: “I See Myself”, 2007 I 66 x 86,5 cm Lithographie Courtesy: Studio David Lynch
Die Besucher lachen laut und herzhaft, als der Vortragende humoristische Unzulänglichkeiten von sich gibt, um einen Einstieg in den zähen Vortrag zu finden. Es ist ja auch Sonntag. Als er auf die zutiefst menschliche Kunst des Verdrängens von negativen Erfahrungen zu sprechen kommt, wie es auch die Bewohner von Twin Peaks perfektionieren, gibt er den Goslarern ein Beispiel für die sozialen Abgründe ihrer Umwelt. Vor ein paar Jahren sei ja auch hier eine schreckliche Gewalttat passiert: Ein Metzger hatte seinen Kontrahenten zuerst zerstückelt und daraufhin in einem nahe gelegenen See versenkt. Das Lachen bekommt schnell einen ganz anderen Charakter, denn es zeigt, dass diese Fakten hier allen sehr unangenehm sind. Gesprächsfetzen wirbeln durch den Raum: “Das war aber wirklich schrecklich damals”, flüstert eine ältere Dame ihrem Mann zu. Er antwortet lediglich mit einem leicht desinteressierten Nicken. “Jeder Mensch in Twin Peaks hat sein eigenes Geheimnis”, verdeutlicht der Lynch-Experte mit wissenschaftlichem Esprit. Mein Blick schweift in Richtung meines Sitznachbarn. Er zieht eine Dose Bonbons heraus, auf der mit Tesafilm ein kleiner Notizzettel geklebt ist. Was da wohl drin sein mag?
Das Double-R, das klischeehafteste US-amerikanische Café der Filmgeschichte, in dem der Kaffee aus Glaskannen stets nachgeschenkt wird und die Kellnerinnen blaue Hauben tragen, ist der soziale Kulminationspunkt schlechthin, denn hier geht fast jeder seiner kulinarischen Alltags-Gewohnheit nach: Dem Essen von Kirschkuchen und Trinken von literweise Kaffee. Das Café als Ort temporärer sozialer Egalität. Und so gibt es auch hier in Goslar: Kirschkuchen und Kaffee. Die zum Ritual der Bürgerlichkeit geronnene Nachmittagsbeschäftigung offenbart sich hier als höchst interessante Parallele der amerikanischen und deutschen Alltagskultur. Es scheint dieses Detail zu sein, das auch hier und heute alle verbindet. Eine schöne wie unwirkliche Szene, wie die gut situierten Rentner, die versprengten Kunstinteressierten und Lokalpolitiker dieser verschlafenen UNESCO-Welterbe-Stadt während des Pilotfilms essend und trinkend ihren eigenen Projektionen gewahr werden.
Und während ich mich frage, was wohl mein persönlicher Schatten ist, komme ich zu dem Schluss, dass man ihn wahrscheinlich nie sehen wird. Wichtige Ansatzpunkte könnte jedoch die Betrachtung von Lynchs Gesamtkunstwerk bieten, indem man sein filmisches Schaffen mit dem malerischem in Beziehung setzt.
- David Lynch, My Head is Disconnected, 102 x 102 x 4 cm, Painting Courtesy: Privat collection
Das Hotel ist wirklich komplett leer, als sie durch die Scheiben in den subtil beleuchteten Speisesaal schauen. Obwohl, das stimmt nicht ganz. An den Wänden befinden sich riesige Hirschgeweihe und vereinzelte Wildschweinköpfe. Draußen ist nichts zu hören. Plötzlich sind sie nur noch mit dem subtilen Pochen des eigenen Herzschlags und dem eigenen, repetitiven Atmen konfrontiert. Eine solche Stille ist man nicht mehr gewöhnt. Das ständige Rauschen unserer entropischen Welt lenkt uns von uns selbst ab. Stille ist manchmal in der Lage, sehr laut zu sein.
Als sie den Speisesaal betreten, kommt ihnen ein modriger Geruch entgegen. Es scheint so, als ob hier seit vielen Jahren niemand mehr gewesen ist. Die toten Tiere, Trophäen vergangenen Jagd-Ruhms, scheinen miteinander zu kommunizieren. Ihre Blicke schweifen umher und bleiben auf dem lebendig wirkenden Wildschweinschädel stehen. Wie hypnotisiert starren sie in die Augen des Tieres. Es scheint genau dasselbe zutun. Die exakt angeordneten Tische und Stühle stehen da wie vergessene Relikte einer vergangenen Zeit. Wie Leichen, die nicht verwest sind. Die Vergänglichkeit, eternity, hieß es am Nachmittag noch, sei ein Leitmotiv in Lynchs Schaffen als bildender Künstler. Sie laufen umher und suchen in verwinkelten Räumen nach Möglichkeiten, in den ersten Stock zu gelangen. Hinter der Bar offenbart sich ein Flur, an dem eine Treppe hinauf führt. Am oberen Ende ist nichts zu erkennen, es ist komplett in Dunkelheit gehüllt. Eine Leere, die ins schwarze Nichts führt: Der Blick in die verborgene Welt des eigenen Unterbewusstseins.
Der nächste Tag, an der die sonnenstrahlbedingte Helligkeit lediglich wieder nur vorgibt, nichts zu verbergen, verschafft nur bedingt Erleichterung. Denn David Lynch und seine Kunst lehren uns immer wieder: Schatten existieren immer, ob mit oder ohne Lichtquellen.