Das Buch-Camp.

Da behaupten die ganzen Intellektuellen ständig, es würde zu wenig gelesen, und alle Welt hätte deshalb lediglich noch einen Pipi-Kaka-Wortschatz –  und die Jugendlichen, ach!, diese Jugendlichen verwahrlosen sexuell und sprechen nur noch in SMS, verstehe die mal einer. So oder ähnlich wird in der Öffentlichkeit lamentiert.
Ich habe mir deshalb ein Konzept überlegt, dass ich gerne der Bundesregierung oder RTL II verkaufen würde, um damit Millionen zu scheffeln. Es ist nämlich so, dass ich in jahrelangen, repräsentativen Studien unter Einsatz meines eigenen Lebens herausgefunden habe, wie man Menschen zum Buch bekehrt. Gewaltfrei, versteht sich.
Der Ansatz funktioniert so. Man sucht sich eine Gruppe sexuell verwahrloster Jugendlicher, gerne aus prekären Verhältnissen. Und die müssen dann einen Monat lang werktags von 6-9 Uhr morgens in ausgewählten Linien der Berliner U-Bahn mitfahren. Freilich ohne Handy und immer einzeln. Es ist nämlich folgendermaßen – im morgendlichen Berufsverkehr einiger Bahnlinien sitzen die härtesten und aggressivsten Leser der Welt. Die infiltrieren mit der Zeit auch den beharrlichsten SMS-Schreiber. Denn diese Hardcore-Leser haben verstanden, dass ein Buch die EINZIGE dauerhaft funktionierende Waffe gegen die lebensfeindliche Umgebung der Berliner U-Bahn darstellt.
Ich erläutere: Der Mikrokosmos der BVG wird von Wahnsinn, Gestank und Lärm unterschiedlichster Quellen dominiert, dessen Zusammensetzung sich im schlimmsten Fall bei jedem Halt neu generiert. Zum Beispiel steigt am Kottbusser Tor der krätzige, inkontinente, lallende Junkie auf Horrortrip zu. Am Moritzplatz steigt er wieder aus, nicht ohne vorher saftig auf den Boden gerotzt zu haben. Abgelöst wird er vom schlechtesten Akkordeonspieler auf Gottes Erden, der den Fahrgästen zwecks Kollekte seinen speckigen Pappbecher ins Nasenloch rammt. Zwischendurch immer wieder die unvermeidlichen Obdachlosenzeitungsverkäufer, unterbrochen von Kreuzberger Schulklassen auf Exkursion. Das ein oder andere kreischende Alkoholikerpaar. Die ganze Szenerie liegt unter einem beharrlichen Filter von sanftem Dönernebel.
Und das alles VOR Ankunft am Arbeitsplatz. Fakt ist: wer bei Verstand bleiben will, muss zum Buch greifen. Der MP3-Player übertüncht womöglich den Lärm, aber nicht den Gestank und nicht den Anblick. Ein wirklich gutes Buch dagegen ist ein Bollwerk. Schlägt man den Buchdeckel auf, schlägt die Tür zur Außenwelt zu – die ganzen Penner und Irren müssen draußen bleiben. Dies ist, sofern man nicht Dalai Lama heißt, die einzige Möglichkeit, in den Öffentlichen sein seelisches Gleichgewicht zu bewahren.
Entsprechend grimmig klammert sich der Fahrgast an sein Buch. So konzentriert und stur habe ich selten Menschen lesen sehen. In der Berliner U-Bahn wird nicht selten so verzweifelt oder mit kalter Wut gelesen, als hinge das eigene Leben davon ab. Und das stimmt ja irgendwie auch.
Darauf basiert jedenfalls mein Boot-Buch-Camp für Pubertierende: Handy weg, Player weg, reinschubsen in die Bahn und Tür zu. Einzige Ausstattung ist ein Jutebeutel mit fünf ausgewählten Titeln drinne. Friss oder stirb ist das zugrundeliegende Prinzip. Das muss vier Wochen durchgezogen werden, damit das Anfixen auch klappt.
Da guckste, Reich-Ranicki.
btw: lol.

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