CYNAMON. (Kapitel I)

Bevor ich die Schokolade in den Mund nehme, muss ich atmen.
Das Zimmer flackert vor Verlangen nach Dunkelheit.

Ein paar Kerzen staksen auf der Stelle, draußen ein kaltes Feuerwerk. Die anderen sind auch draußen.

Sie sind betrunken.

Vor der Verandatür hält sich eine Menschentraube an Gläsern und Kippen fest.

Das Schachbrett lehnt leer und stumm an einer Bettkante, die nicht meine ist. Die Figuren sind eingeschlafen, das Spiel trägt stumme Lieder.

Der Bass dröhnt aus den Boxen.

Die Luft schmeckt nach Scherben. Fade Gestalten wanken, ich kann meinen Blick nicht auf etwas heften, alles verschwimmt.

Aufrauhen, aufbäumen, zusammenschäumen.

Einatmen, ausatmen, ich hauche aus.

Bald werde ich im Zug nach Paris sitzen und mich auf etwas freuen, von dem ich nicht weiß, dass es existiert.
Der Boden zieht sich zusammen, zuckt und hat Krämpfe. Bass dröhnt aus den Boxen.

Countdown zählen.
In die Arme fallen.
Bechern.
Ruhe.
In den Gin haben sie irgendwas mit reingemischt.
Was Neues.
Aus London.
Soll wahnsinnig modisch sein.
Designerpillen.
Pulver.
Spritzen.
All die Scheiße, die hier rumfliegt.

Neben meiner immer noch heulenden Freundin und mir schmeißt sich irgendein Idiot auf die Couch und fragt mit vorgestreckter Hand, raushängender Zunge und ohne sich vorzustellen, was ich denn heut noch vorhätte.

Offensichtlich blind und taub, der Arsch.
Ich lasse die heulende Freundin sitzen und hoffe darauf, dass das Herz des Schwätzers heute Nacht ausreichend sein wird für ihr kleines Ego.

Mir ist ganz flau im Magen, meine Beine kitzeln, die Füße kribbeln, ich möchte fallen und kann es nicht.

„Ihre Fahrkarte, bitte.“
Ich schaue verständnislos auf.
Idiot, denke ich.
„Hier“, sage ich und drücke ihm einen Fetzen Papier in die gierig ausgestreckte Hand. Hab in die Luft gebissen, jetzt blutet sie und Tropfen schwirren lautlos darin herum, du kannst sie auffangen, ablecken, leiseschmecken.

Ich lehne mich zurück, strecke mich, das Abteil ist ganz leer.
Habe mich ausgebreitet, die Stiefel ausgezogen, die Beine angewinkelt.
Vor mir, aufgeschlagen, ein falsches Moleskine, neben mir in einem Pappbecher erkalteter Bahnhofskakao, Kulli und Bleistift.

Der Fahrtwind fegt Glastropfen über das neblige Fenster, auf dem Tagträume vorbeifliegen wie Burtons Knetmännchen im Weihnachtsfieber.

Meine Ohren lassen sich von Obi Best oder Pink Floyd beschallen, während meine Hände sich über das Papier tasten, auf dem ein 2B ungelenk seine Bahnen kreist.

Ich schäle eine Mandarine und lasse mein Herz auf ein Tabula Rasa gleiten.

Der süße Vogel Vernunft hat mir dieses Studium aufgezwungen. Jetzt bin ich kurz davor, von innen heraus zu platzen.

Der Typ von gradeben pflanzt sich neben mich, grinst blöd und schaudert: „Wassn bei dir so ?“ Offensichtlich gibt es diese Augenblicke zwischendurch auch mit nach-13 noch. Klopfen auf Parkett, ich höre Gitarrenmusik, leise, Stimme zwischen Hauch und Rauch.

Die Couch wirkt ausgefranst und bieder. Zwei Gestalten darauf, beide betrunken, schlaftrunken, nicht zueinander passend, doch in eine Situation gewürfelt, die sie in eine Einheit zwingt.
Ein Gespräch.
Ein Kuss.
Nur ein flüchtiger Blick.

Ich rühre mich auch dann noch nicht, als leere teerhaltige Versprechen sich in mein Ohr schleichen.

Ein Blick über die Schulter entlockt mir ein genervtes Seufzen. Er geht nicht weg. Er ist einer dieser Möchtegernphilosophen, Weltverbesserer und Berufsoptionalisten, die sich durch höfliche Ignoranz nicht abschütteln und von einem geschmacklosen Contra nur zu weiteren Diskussionen anregen lassen.
Zu sensibel zum Reden und zu betrunken zum Ficken.

Ich lehne mich an den Rahmen der Badezimmertür und habe keine Ahnung, wovon dieser weltverbesserische Mensch da spricht, dessen Lippen sich wie das sabbernde Maul eines Walfischs bewegen, bin gereizt, schlage in die Luft, Wirklichkeit erbricht sich über mich.

Er setzt sich auf den Boden und zieht mich zu sich runter.
Der beißende Geruch von Erbrochenem steigt mir in die Nase.
Ich sehe an mir herab, ich bin es nicht.

Im Hintergrund leitet Roísín Murphy uns von einem Trip in den nächsten.

Ich schnippe die aus dem Nirgendwo rieselnde Asche immer wieder von meinem Bein und male mir aus, wie es wäre, wenn wir einfach tanzen gegangen wären. Jetzt liege ich hier, in einem Berg voll Kotze, Asche und lächelnder Stummfilmbewegungen, abgehackt, Krümel im Bild.

Muss hier raus, wer bin ich, was bin ich darin.

„Ich hab Hunger“, sage ich und er stockt, verwirrt, aus seiner Faszination hermeneutischer Dialektik gerissen, meine Stimme heiser, kein Räuspern, nur beißender Rauch.
„Was ?“
„Komm gleich wieder.“ Stehe auf und bin wütend. Warum, weiß ich nicht.

Ich remple zwei dieser Gestalten an, die eine lacht, die andere ungehalten, ruft etwas hinter mir her.

Mit den Augen taste ich die einzelnen WG-Zimmer ab, bleibe an einem ehemaligen Mitschüler, der sich seit unseren Abifeten als zuverlässiger Fahrer entpuppt hat, hängen und zwinge ihm die Heulerin auf.

Ich schlendere in die Diele, greife aus einem Klamottenberg meinen Mantel und lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen.
Schnappschloss, könnte ich auch gebrauchen.

Auf dem Weg zu meiner Wohnung, einer Bushaltestelle oder einem Taxistand unterwerfe ich meinen Kopf einer Flut innerer Vorwürfe.

Die Gereiztheit und den Drang, am liebsten sofort jemandem die Seele aus dem Leib zu kratzen, schreibe ich den Drogen zu, die sich wie Parasiten durch meinen Körper fressen und den Asphalt mit Mond, Abgasen und Zäunen verschwimmen lassen.

Es kommt mir wie Minuten vor, als ich dann unerwartet vor meiner Haustür stehe und nichts mit mir anzufangen weiß.
Ich bleibe auf der Treppe sitzen und warte.
Pule Nagellack von meinen Fingern.
Roísín Murphy noch immer in den Ohren und irgendeinen zusammengeknüllten Zettel mit einer blauen Nummer noch immer in der Hand.

Fühle mich, als drehte ich mich wie verrückt im Kreis.
Den Kopf an die Wand, den Körper mitten vor den Eingang gebettet, nicke ich ein, bis es hell ist und mich ein sanftes Rütteln mit barscher Stimme weckt.

Sie reden Französisch.

Ich verstehe nicht.
Gähne hinter vorgehaltener Hand und raffe meine Beine zusammen, um ein paar Schritte in Richtung Bett zu unternehmen.

Der Schlüssel hängt innen in meinem kaputten Briefkasten, ich brauche mehrere Anläufe, bis ich ihn zu fassen kriege.

Der Mann, der mich so lieblos geweckt hat, rammt mir nun seine Gehhilfe in die Rippen und beschimpft mich auf seiner Zaubersprache.

Ich hüpfe alle vier Stockwerke Wendeltreppe im Eiltempo hinauf und brauche ewig, den Schlüssel in die Tür zu bekommen, die ich ohnehin nicht abgeschlossen habe.

Im neuen Jahr ein Schnappschloss, notiere ich in meinem Kopf und stolpere meinen unbeheizten vier Wänden entgegen, finde mein Bett und lasse mich mit Schuhen und Mantel in ein lichtverhangenes Meer aus neurotischen Alpträumen fallen



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