Bodhicitta – der Geist des Erwachens (Teil 5)

MutterKindWie schon früher erwähnt, ist der Erleuchtungsgeist der Same für die Erleuchtung. Dieser Erleuchtungsgeist – Bodhicitta – wurzelt in den Vier Unermesslichen Geisteshaltungen – liebende Güte, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut. Dies umschreibt auch gleich den wünschenden Erleuchtungsgeist.
Der angewandte Erleuchtungsgeist besteht in der Anwendung der sechs überweltlichen Handlungen – den sechs Paramitas. Dadurch bringen wir uns selbst zur Reife. Ein weiterer Aspekt des angewandten Bodhicitta ist die Praxis des Tonglen – des Aufnehmens und Aussendens. Doch zunächst übt man sich in den vier Arten, wie man Schüler anzieht: 1) Großzügigkeit im Lehren, Praktizieren und andere zur Praxis anleiten, 2) angenehmes Sprechen, 3) übereinstimmend mit dem Gesagten handeln und 4) passenden Rat geben. Dadurch führen wir andere zur Reife.
Die gesamte Praxis eines Bodhisattvas kann man in drei wesentliche Punkte zusammenfassen: 1) indem man über Liebe und Mitgefühl meditiert, wird die Ursache gelegt; 2) durch das tägliche Nehmen der Bodhicitta-Gelübde wird der Hauptpunkt umgesetzt und 3) abschließend erfolgt das Umsetzen in die Lebensführung oder das Training im Verhalten. Bei diesem letzten Punkt widmet man die eigenen positiven Handlungen dem Wohlergehen der anderen und bemüht sich in der Praxis des Aussendens von Glück und dem Aufnehmen des Leidens anderer – im Tonglen. Wie elften Vers der 37 Übungen eines Bodhisattvas gesagt wird: „Alles Leid – ohne Ausnahme – entspringt dem Wunsch nach eigenem Glück. Aus der Geisteshaltung, die auf das Wohl anderer gerichtet ist, entsteht vollkommene Befreiung. Daher tauscht euer eigenes Glück restlos gegen das Leid der anderen. So üben Bodhisattvas sich.“

Tonglen – Aufnehmen & Aussenden

Wie Shantideva sagte: „Jene, die wünschen, rasch eine Zuflucht für sich und andere zu sein, sollten „ich“ und „andere“ austauschen und so ein heiliges Mysterium erfassen.“ Durch das Geistestraining des Tonglen nimmt man das Leid der anderen in sich auf und gibt das eigene Glück anderen. Dieses Austauschen ist eine wesentliche Praxis des angewandten Bodhicitta in allen Schulen.
Dabei stellt man sich vor, dass man freudig und willig, ohne zu zögern, die gesamten Lasten der Wesen in ihrem Elend, die Ursachen ihres Elends (ihre Taten und störenden Emotionen) seit anfangsloser Zeit und auch ihr Erleben des Leidens als Ergebnis dessen, in sich aufnimmt und ausnahmslos allen Wesen den gesamten eigenen Verdienst, das eigene Gute, das man alles in unzähligen Leben angesammelt hat und auch alle Folgen, die sich körperlich als Wohlbefinden und geistig als Glück sich zeigen hingibt. Wie im Lojong zu lesen ist: „Geben und Nehmen soll im Wechsel geübt werden. Diese beiden sollten vom Atem begleitet sein“  und „Was immer dir unerwartet zustößt, verbinde es mit Meditation: Einsicht in Leerheit und Austauschen [Tonglen].“ Diese Praxis des Austauschens soll auch mit bestimmten Visualisationen und dem Atem verbunden werden.
„Schützer und Söhne (Buddhas und Bodhisattvas) bitte denkt an mich! Durch die Vier Unermesslichen werde ich zum Wohl der Wesen handeln. Den Erleuchtungsgeist haltend, werde ich die sechs Paramitas ausüben. Möge die mühelose Vollendung der zwei Zwecke glanzvoll erlangt werden!“
Dies rezitiert man so oft wie möglich. Dabei übt man das Geistestraining des Austauschens, indem man sich selbst mit anderen gleichstellt. Dazu führt man die Visualisation aus, bei der man das eigene Glück gibt und das Leiden der anderen aufnimmt. S.H. Dudjom Rinpoche beschreibt dies im Detail in seinem Kommentar „Eine Fackel, die den Weg zur Freiheit leuchtet“ zum Ngöndro „Der Triumphwagen des Pfades zur Vereinigung“. Nachdem an Zuflucht genommen und den Wunsch, Erleuchtung zum Wohle aller Wesen zu erlangen, ausgesprochen hat, stellt man sich vor, wie man alle negativen Taten, Verschleierungen und Leiden aller fühlenden Wesen als schwarze Masse einsammelt, diese durch die Nasenlöcher einatmet und im eigenen Herzen auflöst. So befreit man die Wesen von den negativen Taten und dem Leiden. Beim Ausatmen stellt man sich vor, wie man das eigene Glück und die eigenen guten Taten durch die Nasenlöcher als strahlend weißen Strom ausatmet, als ob es Strahlen des Mondlichts wäre und diese lösen sich in allen Wesen auf, sodass sie unverzüglich Buddhaschaft erlangen. Man kann dazu auch passende Wunschgebet sprechen. Nachdem man lange Zeit Bodhicitta auf diese Weise meditiert hat, widmet man das Heilsame und die Wurzel des Heilsamen der Befreiung aller Wesen und löst die Visualisation auf.

Letztendliche Sicht & Handlung untrennbar

Die Essenz des relativen Bodhicitta ist Mitgefühl und davon abhängig wird das absolute Bodhicitta geboren. Alle fühlenden Wesen sind uns in dem gleich, dass alle Glück erlangen und Leiden vermeiden möchten. Als Ausgangsbasis beginnen wir mit der Praxis des Tonglen bei uns. Auch vermerken die Wurzelverse von Serlingpa: „Beginne das Nehmen bei dir selbst.“
Durch die Praxis des Mitgefühls erkennen wir schließlich, dass alle Dinge wahrhaftig ohne Fehler sind. Und so erleben wir schließlich ein echtes, ungekünsteltes Bodhicitta. Das ermöglicht uns, dieses auf alle Wesen zu lenken, die dieses noch nicht verwirklicht haben. So werden wir in der Lage sein, anderen aufrichtig mit Körper, Rede und Geist von Nutzen zu sein. Durch diese Praxis wird die Anhaftung an ein Ich tatsächlich verringert und schließlich aufgelöst. Auf diese Weise werden alle widrigen Umstände in den Pfad gebracht und zum Erlangen der Befreiung eingesetzt. Wie Serlingpa sagt: „Bringe alle Schuldzuweisungen auf einen Punkt: Anhaften an ein Ich ist die Wurzel allen Leidens.“
Indem wir uns gleich mit anderen auf der relativen Ebene erkennen, gelangen wir auch zur Erkenntnis, dass alle Wesen dieselbe letztendliche Natur haben – nämlich keine innewohnende, angeborene Existenz. Durch diese Sicht heraus realisieren wir, dass andere viel mehr sind als man selbst und daher wichtiger sind. Der Wunsch, alle Wesen mögen die Stufe der Buddhaschaft erlangen, ist keine bloße intellektuelle Übung, sondern erfordert Anwendung im Alltag, beim Aufstehen am Morgen angefangen, über das Gehen, Sitzen, Stehen, Essen, bis hin zum Schlafengehen am Abend (und schließlich auch noch im Schlaf). Da in all diesen Situationen das Wohlergehen der anderen im Fokus ist, entwickeln wir ein ungeheure Menge an konstruktivem Potential oder Verdienst und indem wir sie als uns gleich erkennen, eine Menge an Weisheit. Dies lässt Bodhicitta anwachsen. Wie die Redensart sagt: „Glück und Liebe vermehren sich, wenn sie geteilt werden.“ Und der Spruch lautet: „Geteiltes Leid ist halbes Leid.“
Im Vers 20 der  37 Übungen eines Bodhisattvas wird gesagt: „Solange ihr euren inneren Feind, den Hass, nicht überwunden habt, werden sich eure äußeren Feinde – auch wenn ihr sie besiegt – immer wieder erheben. Zähmt daher euren Charakter mit der ganzen Macht von Liebe und Mitgefühl! So üben Bodhisattvas sich!“
Während das Aufgeben der Anhaftung im Hinayana von zentraler Bedeutung ist, so ist die Überwindung des Hasses ist ein zentrales Thema des Mahayana. In beiden Fahrzeugen geht es um die Realisation der Ichlosigkeit. Im Hinayana erfolgt dies durch die Erkenntnis, dass es kein eigenständiges, inhärentes Ich gibt und im Mahayana geschieht dies durch die Erkenntnis, dass das Erleben in Relation zu anderen nichts als eine illusionäre Projektion des Geistes ist. Dies hat als Resultat, dass sich die dualistischen Auffassungen zunächst verringern und auflösen und so gelangen wir schließlich zum Wirken das die Begrenzungen gewöhnlicher Bezugnahme übersteigt.

Dies beschließt die Serie über Bodhicitta – den Geist des Erwachens. Mögen diese fünf Beiträge eine Inspiration für alle sein, den Pfad der Befreiungshelden zu betreten. Sarva Mangalam!


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