BESUCH IN EINEM DAOISTISCHEN TEMPEL ZUM FRÜHLINGSFEST
Es ist kalt in Beijing; und die Sonne versteckt sich hinter dem Smog. Weit und breit kein Flöckchen Schnee.
Wir besuchen einen Daoistischen Tempel. Hier werden die Weisen verehrt oder das, was wir Gottheiten nennen, denn wie wir wissen, kennen die Chinesen keinen Gott. Der Grund dafür, weshalb die chinesischen Kaiser diese Rolle für sich reklamiert haben. Diese relativ große Tempelanlage ist eine kleine Oase inmitten der gigantischen Hochhäuser ringsherum. Er ist das Ausflugsziel der chinesischen Familien in diesem Stadtteil. Weil der Alltag kaum Zeit und Raum lässt für Unterhaltung, findet man hier auch die bescheidenen Vergnügungen, die so amüsant sind und sich über die Jahrhunderte erhalten haben – also ein kleiner Chinesischer Jahrmarkt.
Überall dominiert die Drachenfarbe Rot in Form von riesigen Schleifen, Lampions, Glücksbringern in allen Größen. Während bei uns die Rummelplatze mit technischen Errungenschaften protzen und alles nicht laut, schnell und rasant genug sein kann, ist hier alles wesentlich bescheidener obwohl wir hier im Stadtzentrum und der Hauptstadt des Riesenreiches China sind. Am Eingang des Tempels haben sich Trommler versammelt, die auf ihren Auftritt warten, denn immerhin ist trommeln eine musikalische Ausdrucksform, die von vielen gemeinsam ausgeübt werden können.
Die Familien strömen durch den Eingang des Daoistischen Tempels in die verschiedenen Innenhöfe und natürlich ist an diesem Frühlingsfest der Drachen in allen Formen und Materialien allgegenwärtig. Denn immerhin es ist das große Jahr des Chinesischen Drachen, das gefeiert wird und einen beachtlichen Babyboom auslösen wird, da sich viele Eltern ein Kind wünschen, das unter diesem Sternzeichen geboren wird. Wir schlendern an allerlei Ständen mit Geschicklichkeitsspielen vorbei. Das heißt, man kann entweder mit Bällen oder kleinen Luftgewehren auf Eimer bzw. Luftballons zielen und einen Glücksbringer als Trophäe stolz mit nach Hause nehmen.
Mitten im Gewühl hat sich eine Menschentraube gebildet, in deren Mittelpunkt ein alter Chinese seinen liebevoll gestalteten Mäusezirkus aufgebaut hat. Kunstvoll hat er eine kleine silberne Pakode, Laufräder, Wippen, Treppen und Leitern auf einem kleinen Campingklapptisch drapiert, in denen dann die weißen Mäuse ihre Kunststücke vorführen. Bei Kindern besonders beliebt ist das Guckkastenkino. Nun, zu meinem Lieblingsstand: Ein mehreckiger Kasten mit Gucklöchern, an denen sich die Kinder die Nasen platt drücken. Die Schaubilder werden lautstark mit Geräuschen und Geschichten des Theaterdirektors illustriert. Er verfügt neben einer entsprechenden phantasievoll verwegenen Kostümierung und einem mächtigen Schnauzer aus Schminke über eine Anzahl von kleinen Becken, Ratschen und Schellen, die seine lautstarke Beschreibung dramatisch verstärken. Seine Darstellung steigert sich im Verlauf der Handlung bis zu extatischem Aufheulen, bis dann die Spannung ihren Höhepunkt erreicht und
Erwachsene und Kinder erleichtert darüber sind, dass das Gute wieder einmal gesiegt hat.
An einem anderen Stand lässt ein Verkäufer seine zwitschernden Papier-Piepmätze an einer langen
Stange durch die Luft kreisen. Ab und an trifft man auch einen Chinesen, der seinen Vogel im Käfig spazieren trägt, wobei es sich bei genauerem Hinsehen heutzutage auch um einen Stoffvogel handeln kann – aus Platzmangel.
Jetzt ist es Zeit, sich wieder den vielen Ständen mit Lammspießen, Nusspasten und Süßigkeiten zuzuwenden – allesamt mehr oder weniger kalorienreich, um sich auf die kalte Jahreszeit einzustellen. Allgegenwärtig sind auch die mit Zuckerguss überzogenen Früchte, die auf langen Spießen stecken und ein wenig wie kleine Pagoden aussehen. Daneben Verkaufsstände mit kunstvollgefertigten Papiermasken aus der Peking-Oper. Nein, keine Plastik-Masken, sondern handgearbeitet und handbemalt, wie zum Beispiel das Gesicht des Affenkönigs, einem der Hauptfiguren der Peking-Oper.
Ein Rätsel bleibt es auch, wie es den Künstlern gelingt, Schnupftabaksfläschchen aus Glas von innen kunstvoll mit Szenen aus der Peking-Oper zu bemalen. Eingerahmt wird die Tempelanlage
durch unzählige Schreine, an deren Stirnseite jeweils die überlebensgroße Figur eines Weisen tront, zu dessen Füßen oder an dessen Seite seine Berater ihre Schriftrollen bereit halten, um seine Fragen aus den überlieferten philosophischen Texten zu beantworten. Sicherlich hätten auch sie große Mühe, sich heute in dieser vollständig veränderten Welt noch zurecht zu finden.
Die Lebensphilosophie aber, auf Basis vom Konzentration, Kontemplation und Reflektion, nach Antwort für die zwischenmenschlichen Beziehungen und Fragen zu suchen, ist geblieben und die Einsicht, dass der am klügsten ist, der sich eingesteht, dass er eigentlich nichts weiß.
Michael Kirmes-Seitz
Auszug aus der Publikation “Wenn Eisenrössern Flügel wachsen”
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