Berlin: „Hartz IV geht raus aus Neukölln“

Gerade war es wieder in der Zeitung zu lesen: Nord-Neukölln ist auf dem Weg der Aufwertung. Die Gegend um den Reuetplatz ist längst als Kreuzkölln zur Vorzugslage von Immobilienmaklern erhoben worden und im Schillerkiez befürchtet die taz sogar Verhältnisse wie in Prenzlauer Berg: Willkommen in „Prenzlkölln“:

Altbauwohnungen in dem Neuköllner Viertel sind inzwischen begehrt. Vermieter nutzen die Nachfrage aus: Sie erhöhen die Mieten kräftig – und werben mit platten Schlagworten.

Die Aufwertung des Viertels wird sehr anschaulich aus der Perspektive von Immobilienmakler/innen beschrieben. Während eine Maklerin, die namentlich nicht genannt werden sollte sich über die vielen Studierenden und Künstler/innen freut, die immer höhere Preise akzeptieren, berichtet Immoblienmakler Cemal Düz von 800 Suchaufträgen von Hartz-IV-Empänger/innen, für die er keine Wohnungen mehr im Kiez findet.

Kathleen Fietz berichtet in der taz von einer Wohnungsbesichtigung in der Schillerpromenade, bei der sich 50 Bewerber/innen drängen

Die 70 Quadratmeter große Zweizimmerwohnung liegt im vierten Stock, hat einen Balkon, dafür aber nur ein winziges Bad ohne Badewanne.(…) Die Kaltmiete ohne Betriebskosten liegt bei 6,50 Euro pro Quadratmeter. Die Vormieter hatten noch 4,30 Euro gezahlt.

Das ist derzeitig Trend im Kiez: Ziehen Mieter aus, werden die oftmals baufälligen Altbauwohnungen saniert und die Mieten dann kräftig erhöht. „Diese Wohnung ist noch günstig“, erklärt die Mitarbeiterin der Hausverwaltung (…). „Meistens liegt die Miete nach der Sanierung um die 7,50 Euro.“

Die Immobilienmaklerin ist zufrieden: “Mir wird hier gerade jeder Quadratmeter aus den Händen gerissen“. Es seien vor allem Studierende und Künstler, die in Friedrichshain und Kreuzberg keine bezahlbaren Wohnungen finden und nun nach Neukölln ziehen.

Ganz anders die Situation einer Wohnungsbörse, die Beate Hauke mit Eigentümer/innen der Gegend vor ein paar Jahren ins Leben gerufen haben um den hohen Leerstand (von durchschnittlich 10 Prozent) zu reduzieren. Heute kann sie Wohnungssuchenden nur noch geringe Hoffnung auf eine erfolgreiche Vermittlung machen.

Die Wohnbörse bietet kaum noch freie Wohnungen, und waren früher darin 30 Eigentümer vernetzt, hat Hauke heute kaum noch Kontakte, da viele Eigentümer gewechselt haben und die neuen wenig Interesse zeigen. „Wenn die eine Anzeige schalten, stehen mindestens 40 Leute vor der Tür. Da braucht es keine Wohnbörse mehr“, sagt Hauke. Sie überlegt deshalb, das ehrenamtliche Projekt einzustellen.

Wie sich die Situation der erhöhten Nachfrage auf die Versorgung von ärmeren Haushalten auswirkt, berichtet Immoblienmakler Cemal Düz.

Er betreibt sein Büro im südlichen Schillerkiez und arbeitet vor allem für jene, die schlecht Deutsch sprechen oder den Wohnungsmarkt nicht kennen. Düz bringt die Entwicklung krass auf den Punkt: „Hartz IV geht raus aus Neukölln.“ Er deutet auf eine Riege Ordner, in denen 800 Suchaufträge von Hartz-IV-Empfängern abgeheftet sind. „Ich finde für sie hier keine Wohnung mehr. Die müssen nun nach Marzahn oder in den Wedding“, erklärt er.

Die einen kommen, die anderen werden in unattraktivere Wohngebiete gedrängt – eigentlich ein klassisches Gentrification-Merkmal. Dennoch wird von Quartiersmanagern und Stadtforschern ein Gentrification-Befund zurückgewiesen:

Für Horst Evertz, Prozesssteuerer bei der Brandenburgischen Stadterneuerungsgesellschaft, ist die Gentrifizerungsdebatte indes eine „Scheindebatte“. „Künstler und Studenten lösen noch keine Gentrifizierung aus. Großinvestoren haben bisher kein Interesse an der Gegend, weil Neukölln immer noch ein sozialer Brennpunkt ist und Familien spätestens wegziehen, wenn ihre Kinder schulpflichtig werden“, erklärt Everts. Das sieht der Soziologe Sigmar Gude ähnlich: „Es gibt eine verstärkte Nachfrage in Neukölln und Mietsteigerungen. Aber es gibt zu wenig Gentrifier, also zu wenig Haushalte mit hohem Einkommen, um derzeit von einer wirklichen Gentrifizierung zu sprechen.“

Aus der Perspektive der 800 Hartz-IV-Wohnungsbewerber/innen bei Cemal Düz ist es sicherlich egal, ob sie von „echten Gentrifieren“ oder „Studenten und Künstlern“ verdrängt werden. Gentrification umfasst im Kern immobilienwirtschaftliche Verwertungsstrategien, die eine Verdrängung ärmerer Haushalte v voraussetzen oder bewirken – und genau eine solche Entwicklung scheint sich in einigen Neuköllner Quartieren durchzusetzen. Die Aufwertungsdynamiken in Neukölln können als typisches Beispiel für eine Umzugsketten-Verdrängung beschrieben werden und zeigen deutlich, dass die sozialen Kosten der Aufwertung nicht davon abhängen, ob es hinterher genauso aussieht wie am Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg.



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