Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 2): Don’t go breaking her heart (2/3)

Tag 2 (1/3)


Ich sitze im Lichthof des Klinikums und überlege, wie ich mir die Zeit vertreiben kann. Irgendwas muss ich tun, sonst fange ich an nachzudenken und nachzudenken, während deine Frau am Herzen operiert wird, erscheint mir nicht das Allerbeste zu sein. Da stellst du dir vor, was gerade im OP-Saal passiert und was da alles schieflaufen könnte und das sind dann keine schönen Gedanken. Ich gehe in den Krankenhaus-Kiosk und hole mir einen Kaffee. Wenn du Kaffee trinkst, denkst du keine unschönen OP-Gedanken.

Mit dem Kaffee kehre ich auf die Bank im Lichthof zurück. Im OP irgendwo in den Klinik-Katakomben wird bei meiner Frau gerade die Anästhesie eingeleitet. Mir ist bei dem Gedanken etwas mulmig. Narkose hat so etwas von Einschläfern. Ich kaufe mir im Kiosk ein belegtes Brötchen. Wer belegte Brötchen isst, denkt keine unschönen Narkose-Gedanken. Der Kioskbesitzer nickt mir zu.

Inzwischen beginnt im OP die Öffnung des Brustkorbs. Das klingt so gruselig, wie es wahrscheinlich auch ist. Am Brustbein entlang wird ein ca. fünfzehn Zentimter langer Schnitt gesetzt, dann das Brustbein zersägt und schließlich der Brustkorb aufgedehnt.

Woher ich das weiß? Ich habe letzte Woche in einer Mischung aus Schwach- und Wahnsinn gegoogelt, wie so eine Herz-OP abläuft. Falls Sie sich jetzt fragen, ob ich total bescheuert bin: Nein. Zumindest nicht total. Immerhin habe ich darauf verzichtet, mir die Kabel1-Dokumentation „Operation am offenen Herzen“ anzuschauen.


Vor meinem geistigen Auge sehe ich den netten Professor von gestern Abend in einem blutgetränkten OP-Kittel mit einer rostigen Kettensäge in der Hand. Zeit mir einen weiteren Kaffee und eine Streuselschnecke zu holen. Wer Kaffee trinkt und Streuselschnecken isst, denkt keine unschönen Brustbeinzersägungs-Gedanken. Der Kioskbesitzer verabschiedet mich mit einem fröhlichen „Bis gleich!“

Ob meine Frau wohl schon an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen ist? Die übernimmt – wie Sie aufgrund des Namens wahrscheinlich schon vermutet haben – die Funktion von Herz und Lunge. Eine unheimliche Vorstellung. Eine Maschine ersetzt quasi die lebenswichtigen Organe. Ist meine Frau jetzt mehr Mensch oder Maschine? Eine Maschine mit menschlichem Bewusstsein? Oder eine Borg?

Egal. Ich gehe zurück in den Kiosk und kaufe mir eine Brezel. Wer Brezel isst, denkt keine unschönen Herz-Lungen-Maschinen-Gedanken. Der Kioskbesitzer verabschiedet mich mit Handschlag.

Bei meiner Frau wird jetzt das Herz stillgelegt, damit der Chirurg mit der eigentlichen Operation beginnen kann. Für mich der richtige Zeitpunkt, ein paar Schokoladen-Kekse zu essen. Wer Schokoladen-Kekse isst, denkt keine unschönen Herzstilllegungs-Gedanken. Zuerst muss ich aber einen Bankautomaten suchen. Ich habe kein Bargeld mehr.

Für die Operation wird bei meiner Frau noch die Körpertemperatur gesenkt. Zum Schutz der Organe. Auf bis zu 18 Grad. Das ist weniger als die Hälfte der normalen Körpertemperatur. Wie soll das ohne bleibende Schäden funktionieren? Ich hole mir eine eiskalte Cola. Wer eiskalte Cola trinkt, denkt keine unschönen 18-Grad-Körpertemperatur-Gedanken. Der Kioskbesitzer nimmt mich zum Abschied in den Arm.

Inzwischen operiert der Professor den Herzfehler, begutachtet die Herzklappe, überlegt, ob er sie reparieren kann oder austauschen muss. Dabei hantiert er mit scharfen und spitzen Instrumenten am Herzen meiner Frau herum. Ihrem wichtigsten Organ, das das Blut durch ihren Körper pumpt und die Sauerstoffversorgung der anderen Organe gewährleistet. Da reicht die kleinste Unaufmerksamkeit, ein winziges Zucken oder ein Kribbeln in der Nase des Chirurgen und der OP verwandelt sich innerhalb von Sekunden in ein Jackson-Pollock-Real-Life-Splatter-Bild.

Ich schaue im Kiosk nach, was es im Angebot gibt, das ich noch nicht gegessen habe. Nicht allzu viel. Ich entscheide mich für das Sandwich-Mittags-Angebot. Zwei zum Preis von einem. Ich kaufe vier zum Preis von zweien. Wer Sandwiches isst, denkt keine unschönen Splatter-OP-Gedanken. Der Kioskbesitzer hängt ein Bild von mir an seine „Kunde des Monats“-Galerie.


Ich übe mich weiter in Verdrängung und wandere durch die verwinkelten Gänge des Klinikums. Zum einen muss ich mir die Beine vertreten, zum anderen ist es mir langsam ein wenig unangenehm, alle paar Minuten im Kiosk aufzutauchen.

Beim Umhergehen klappt das mit dem schlechte Gedanken Verdrängen nicht so recht. Glücklicherweise komme ich an einem Snack-Automaten vorbei. Noch glücklichererweise hat er abgepackten Käsekuchen im Sortiment. Könnte ich ja mal probieren. Wann, wenn nicht heute? Schmeckt gar nicht mal so schlecht. Nur ein bisschen klein.

Ich schlendere ziellos weiter. Die eigentliche OP müsste jetzt vorbei sein. Das Herz wird wieder in Betrieb genommen und die Herz-Lungen-Maschine runtergefahren. Hoffentlich klappt das auch alles. Und hoffentlich ohne Defibrillator-Einsatz, um das Herz zum Schlagen zu motivieren.

Die Warterei macht mich fertig. Da taucht wieder ein Snack-Automat auf. Eine glückliche Fügung. Oder mein Unterbewusstsein hat ihn angesteuert. Ich gönne mir noch einen abgepackten Käsekuchen. Wer abgepackten Käsekuchen isst, denkt keine unschönen Defibrillator-Gedanken. Und noch weniger, wenn du dir am nächsten Automaten einen weiteren Käsekuchen holst. Allerdings sind vor dem Käsekuchen meiner Wahl ein Schoko-Muffin und eine belgische Waffel einsortiert. Was soll’s, kaufe ich halt alle drei.

Der Zucker der Teigwaren spendet mir ein zärtliches Gefühl der Geborgenheit und des Trostes. Der Muffin streichelt sanft meinen Magen, die Waffel massiert aufmunternd meine Speiseröhre und der Käsekuchen flüstert mitfühlend „Alles wird gut!“


Gestern Abend meinte der Professor, ich müsse mir keine Sorgen machen, wenn ich bis 16 Uhr nichts höre. Dann sei alles im normalen Zeitrahmen. Nun ist es fast 16 Uhr und da könnte es jetzt langsam mal Neuigkeiten aus dem OP geben. Okay, es ist 15.05 Uhr, um genau zu sein, aber es könnte ja sein, dass der Professor im Rekordtempo gearbeitet hat, während ich mich mit kurzkettigen Kohlenhydraten vollstopfe. Hat er aber anscheinend nicht. Mein Handy bleibt stumm.

Ich vertreibe mir die Zeit am Snack-Automaten und ziehe ein Bounty. Und ein Snickers. 90 Minuten sowie ein Automaten-Käsekuchen, eine belgische Waffel und ein Twix später klingelt das Handy. Es ist der Professor: „Die Operation ist gut gelaufen und Ihrer Frau geht es gut.“ Ich würde gerne etwas antworten, habe aber den Mund voll.

Er erzählt irgendetwas von der Operation, dem Herzfehler, der Herzklappe und dass keine Bluttransfusion nötig gewesen sei, ich höre nur mit halbem Ohr hin. Nach „Die Operation ist gut gelaufen und Ihrer Frau geht es gut.“ ist mir ein riesiger Stein vom Herzen gefallen. Und ein belegtes Brötchen, eine Streuselschnecke, eine Brezel, ein paar Schokoladenkekse, zwei Sandwiches, diverse Automaten-Kuchen und einige Schokoriegel. Der Käsekuchen hatte recht: Alles ist gut!


Fortsetzung (Tag 2, 3/3)


Alle Folgen des Krankenhaus-Blogs:

  • Tag 1: Ein kaputtes Herz muss man reparieren
  • Tag 2: Don’t go breaking her heart

Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 2): Don’t go breaking her heart (2/3)

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