Aufstieg in die deutsche Schicksalsgemeinschaft

Aufstieg in die deutsche Schicksalsgemeinschaft In der Straßenbahn hört man viele Geschichten. Und viele Ansichten. Ich belauschte neulich eine alte Spanierin, die mit einer jungen Spanierin schwatzte. Sie seien früher anständig gewesen, als sie nach Deutschland kamen, hätten sich angepasst. Die Flüchtlinge, die sie »bichos« nannte, was in etwa »Vieh« oder aber »kleine Plagen« heißt, hätten davon keine Ahnung. Es ende in einer Katastrophe, wenn man so viele »bichos« ins Land lasse. Dann war da noch eine Frau, die gebrochen Deutsch sprach. Die Straßenbahn bremste scharf, jemand war auf die Gleise gelaufen. Zwei Fahrgäste fielen hin. Und die Frau fing zu schimpfen an. Es seien immer die ausländischen Zugführer, die so einen schlechten Fahrstil hätten. Deutsche Fahrer nicht. Die Türken seien die schlimmsten. Einige widersprachen ihr. Ein junger Kerl sagte, sie solle ihr Maul halten. Immerhin. Dann noch das: Ein Türke und einer, der wohl aus dem ehemaligen Jugoslawien war, unterhielten sich über Syrer und Araber. Schlechte Menschen, brutale Gemüter seien das. »Wolle nix Arbeit«, sagte der eine. »Wasche sich nix, Kurac«, sagte der andere.

Sie alle erinnerten mich an Stephen, den alten House Negro in Tarantinos »Django Unchaind«, der seinen weißen Herrn in rassistischer Ablehnung der Schwarzen fast noch übertraf. Dass einer seiner Herkunft ein freier Mann sein konnte, war ihm so zuwider, dass er sich radikaler als der herkömmliche Massa aufführte. Stephen ist nicht nur gut vom Drehbuchautor erfunden. So in etwa werden die schwarzen Hausangestellten historisch geschildert. Sie waren so eng an ihren Besitzern dran, dass sie plötzlich deren Sichtweisen annahmen und sich mit ihnen solidarisierten. Sie trugen feine Kleidung und hoben sich so von ihren Kollegen auf dem Feld ab, die ja immer recht ärmlich aussahen. Die Schwarzen des Hauses litten unter einem Stockholm-Syndrom. Das gab es per definitionem damals noch nicht. Aber die Symptome existierten ja bereits. Man war seinen Peinigern näher als denen, die mit einem litten. Und man verstand plötzlich die Zwänge, die ein Sklavenhalter so hatte. Man musste ja schließlich die Baumwolle einbringen, wettbewerbsfähig bleiben. Ehe man sich versah, war man voller Verständnis.
Dass Field Negros immer auch gegen die House Negros kämpfen mussten, empörte auch Malcolm X. Sie hatten sich angepasst und wollten nicht für ihre Rechte kämpfen, sondern erklärten ihre Pflichten zu ihrem Recht. Das gestaltete die Emanzipation der Schwarzen so schwierig, fand er. Analytisch betrachtet hatte er wohl recht. Die Hierarchien innerhalb einer Gruppe, die eigentlich gar keine Abstufungen kennen dürfte, weil sie ja alle im selben Boot der Ungerechtigkeit ruderten, machten die gesellschaftliche Eingliederung schwer.
Und nun haben wir scheinbar auch Ausländer im Lande, die am Stockholm-Syndrom leiden. Jahrelang waren sie die Angriffsfläche deutscher Überheblichkeit. Spanier, Osteuropäer, Türken, Jugoslawen. Über jede Gruppe wusste man Verachtenswertes zu berichten. Alle blieben sie hier und nahmen Frauen und Arbeit weg. Zurück ging ja keiner von denen. Angepasst waren sie alle nicht. »Knoblauchfresser!« »Olivenöl kommt mir nicht ins Haus!« Als nach der ersten Welle der Gastarbeiter aus Südeuropa dann die Türken kamen, adelte man die Südeuropäer etwas. Sie waren ja doch nicht ganz so schlimm wie die Muselmanen. Und als dann die Jugoslawen kamen, sagte man: »Die Türken sind wenigstens fleißig, die Jugos aber viel zu heißblütig und daher unpassend für uns. Außerdem saufen sie wie die Löcher.« Später kamen Polen, Bulgaren, Russen und man sagte: »Ach, ihr Jugoslawen, ihr Kroaten und Serben oder wie ihr euch nennt, seid ja anständige Leute. Aber die Russen ...« Und als die Araber kamen, waren einem die Osteuropäer schon wieder näher. Hackordnung. Hierarchie.
Das ist Integration in Deutschland. Man wird nicht akzeptiert, weil man Mensch ist, weil man da ist, sein Leben hier bestreitet. Man rückt erst ins Akzeptable auf, wenn es jemanden gibt, der noch weniger akzeptabel erscheint. Es ist wie eine Diät, die einem Dicken, der kein Gramm abgenommen hat, neben einen noch Dickeren stellt und ihn dann für seine Disziplin lobt. Man braucht immer noch einen fetteren Fettsack, um schlanker zu wirken. Und so wird man zu jemanden, wenn jemand anderes in die Rolle als Nichts aufrückt. Dann fraternisiert man sich mit dem jetzt akzeptablen Fremden und mobbt die neuen Fremden, bis auch sie von jemanden abgelöst werden, den man als noch fremder einstuft. Das ist ja Aspekt des deutschen Wesens. Man definiert sich selbst immer über andere. »Geht es mir besser als dem Nachbarn? Eigentlich geht es mir ja schlecht, aber dem Nachbarn noch schlechter, also geht es mir wieder gut.« Deutscher Patriotismus war ja auch nie die Besinnung auf spezifische Eigenarten, sondern die Ablehnung und Abgrenzung von allen fremden Einflüssen, von den welschen Schlichen, die nur darauf warteten, das Deutsche zu unterminieren. So läuft Hierarchiebildung hierzulande. Man steigt nicht durch Kompetenz oder Respekt auf, sondern weil man andere für noch kompetenzloser hält und sie damit respektloser behandeln kann als die »Vorgänger«.

Und das geht an den Aufrückern natürlich nicht spurlos vorüber. Sie tragen nichts nach, rücken freudig auf und beteiligen sich an der »deutschen Schicksalsgemeinschaft«. Natürlich haben sie das Gefühl, dass sie es endlich geschafft haben. Endlich werden sie angenommen. Dass es eine andere Gruppe trifft, nimmt man lässig hin. Wer in der Schusslinie steht, hat kein Problem damit, jemanden in die Flugbahn der Kugeln vor sich zu stellen. Das ist kein moralisches Dilemma in diesem Augenblick. Man will ja sorgenfrei leben, sich nicht mehr ärgern, sich auch irgendwie eingebettet fühlen. Und sei es auf Kosten anderer. Nachvollziehbar ist es schon. Widerlich kann man es trotzdem finden. Undurchdacht. Wer akzeptiert wird, weil andere geschmäht werden, der ist ja nicht willkommen im eigentlichen Sinne. Den nimmt man nur hin, weil man andere noch weniger hinnehmen möchte. Eigener Aufstieg durch Abstieg anderer.
Das ist, wie schon erwähnt, das House Negro-Prinzip. Die Schwarzen in den Herrenhäusern waren nicht mal akzeptierter. Wer da gegen die Regeln seiner Herrschaften verstieß, dem drohten gleichwohl drakonische Strafen. Aber für die Sklaven im Haus fühlte es sich kuscheliger an. Kein Vorarbeiter, der einem in den Ohren lag mit Drohungen. Keine Peitsche im Blickfeld. Man wähnte sich zeitweilig akzeptiert, endlich in einem guten Umfeld integriert. Aber letztlich war man auch nur Sklave, eine Ware und ein Gegenstand mit organischer Ausstattung.
Die Spanierin aus der Straßenbahn mag Flüchtlinge nun »bichos« nennen. Möglicherweise war sie vor vielen Jahren selbst »bicho« und man mied sie. Sie sollte sich nicht täuschen. Wenn die Spanier griechisch werden, wenn sie den Sparkurs Brüssels und Berlins vielleicht bald ablehnen, weil Podemos das Ruder übernimmt, dann wird man den Spaniern nachsagen, dass sie sich griechisch benehmen. Und dann liest die gute Frau täglich in der Zeitung, was für Faulpelze und Dummköpfe Spanier gemeinhin seien. Dann muss sie raus aus dem Herrenhaus, wieder aufs Feld. Und dann sind es die Syrer, die man für ihren Fleiß lobt und die sitzen dann in der Straßenbahn und richten über die faulen Völker dieser Erde.

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